„Ich möchte dich bitten kurz aufzuschreiben, welcher Gedanke oder welche Befürchtung dich ganz besonders davon abhält, die Lösung für dein Problem in die Tat umsetzen.“ Das ist kein Satz aus einer Gruppentherapie, sondern aus einen Online-Kurs für die Optimierung der Psyche, der so seine Nutzer konfrontiert.

Das Programm fragt weiter: „Wie wahrscheinlich ist es, dass deine Befürchtung wirklich zutrifft? Welche Anhaltspunkte gibt es dafür, dass deine Befürchtung wirklich zutrifft? Welche Anhaltspunkte würden dagegensprechen?“ Immer wieder wird der Nutzer aufgefordert, auf die Fragen im Texteingabefeld zu antworten und sich so mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Am Ende heißt es: „Versuche nun die Lösung für dein Problem anzuwenden. Möchtest du, dass wir dich daran erinnern? Dann gib bitte einen Tag und eine Uhrzeit an und dein Coach wird sich bei dir melden.“

Die Übung stammt vom Berliner Startup Humly, das den zahlreichen Fitness-Apps ein Äquivalent für seelisches Wohlbefinden zur Seite stellen will. Humly will am 1. Juli starten — zunächst als Website, ab dem Herbst dann auch als App. Es ist nicht das erste Programm dieser Art – bereits auf dem Markt ist die App Selfapy, die speziell auf Nutzer mit depressiven Symptomen zielt.

In den USA feiern Anti-Depressions-Apps bereits Erfolge

Größere Erfolge feiert bereits die App Arya, die dem Nutzer verspricht, ihm zu helfen, „dein Leben wieder in deine eigenen Hände zu nehmen“. Dabei handelt es sich um einen sogenannten Moodtracker, eine Art Stimmungs-Tagebuch. In den USA sind die Apps Lantern und Ginger erfolgreich. Alle genannten Angebote sind kein Ersatz für eine echte Therapie – es handelt sich um Lifestyle-Apps.

Doch sie können eine Lücke füllen. „Bei Depressionen dauert es sieben Jahre ab dem Auftritt der ersten Symptome, bis die Leute zum Arzt gehen, bei Angststörungen sogar zehn Jahre“, sagt Philipp Joas, Mitgründer und CEO von Humly. Weil die Hemmschwelle, eine App zu nutzen, niedriger sei, als zum Arzt zu gehen, sollen sie in der langen Phase vor einer psychologischen Behandlung zum Einsatz kommen – und diese im besten Fall damit gar nicht erst notwendig werden lassen.

Etwa 20 Millionen Menschen in Deutschland haben laut Schätzungen eine psychische Erkrankung. „Das Thema ist trotzdem immer noch mit einem kleinen Tabu belegt“, sagt Humly-Mitgründerin Gesa Schramme. Viele holen sich daher dennoch keine professionelle Hilfe.

Und selbst wenn sie sich dazu entscheiden, müssen sie oft lange warten. Durchschnittlich warten Menschen, die aufgrund psychischer Beschwerden einen ambulanten psychotherapeutischen Behandlungsplatz suchen, drei Monate auf ein Erstgespräch, stellte 2011 eine Studie der Bundespsychotherapeutenkammer fest. „Es geht letztlich darum, dem Nutzer eine Plattform für psychologische Selbsthilfe zu ermöglichen“, sagt Schramme.

App gegen Angst, Depression, Sucht, Essstörungen und ADHS

„Wir nehmen die Übungen aus der Verhaltenstherapie, die gut funktionieren, für Angst, Depression, Sucht, Essstörungen und ADHS – also Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome“, sagt Philipp Joas, der andere Mitgründer. Nach einem Fragebogen wird eine Art persönlicher Übungsplan für die Psyche erstellt – vergleichbar mit Apps für das Training des Körpers wie Freeletics.

Humly kostet 49 Euro im Monat für einen von einem Psychologen per Chat begleiteten Kurs und neun Euro pro Monat für einen reinen Software-Kurs. Die Einführung übernimmt aber in jedem Fall ein Psychologe, der auch den Kurs auf den jeweiligen Nutzer zuschneidet. Ein telefonisches Gespräch mit einem Psychologen ist für 50 Euro pro halbe Stunde zusätzlich buchbar. Bei Humly arbeiten derzeit fünf Psychologen, wovon einer ein ausgebildeter Therapeut ist.

Humly arbeitet dabei mit dem Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München zusammen. Für eine medizinische Therapie-App, die an der LMU entwickelt wird, ist Humly Technologiezulieferer.

Dieses medizinische Produkt soll dann begleitend zur Therapie und im Anschluss daran zum Einsatz kommen, um einen Rückfall zu verhindern. Erkenntnisse aus dieser Forschung, die auf drei Jahre angelegt ist, fließen aber auch jetzt schon in das Lifestyle-Produkt ein. „Humly ist kein Therapieersatz, aber die Inhalte basieren komplett auf wissenschaftlicher Forschung“, sagt Joas.

„Wie kann ich ein besserer Chef werden?“

Die Idee kam dem Gründer, der bereits mehrere Startups gegründet hat, aus privatem Interesse am Thema Selbstoptimierung: „Ich habe mich viel mit dem Thema Umgang mit Stress, Umgang mit Ängsten beschäftigt“, sagt Joas. „Wie kann ich mich nicht nur körperlich optimieren, sondern auch geistig – wie kann ich stressresistenter werden? Wie werde ich ein guter Geschäftsführer? Wie ein guter Chef?“

Die Fachwelt steht den neuen Apps noch überwiegend skeptisch gegenüber. „Grundsätzlich ist anzumerken, dass zur Bestätigung der Wirksamkeit mehrere gut evaluierte Studien erforderlich sind und daher Angebote in diesem Bereich noch quasi experimentellen Charakter haben“, sagt der Psychologe Fredi Lang vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen.

Allerdings sei gegen solche Angebote nichts grundsätzlich einzuwenden, sofern bestimmte Vorsichtsmaßnahmen eingehalten würden. Dazu gehört unter anderem, über die Unsicherheiten der Wirksamkeit zu informieren, auf die Grenzen des Angebotes hinzuweisen und eine saubere Eingangs-Diagnostik zu verwenden.

„Außerdem sollen Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden für Bereiche, in denen krisenhafte Reaktionen zu erwarten sind – zum Beispiel schwere Depressionen im Unterschied zu leichten depressiven Verstimmungen ohne realen Krankheitswert“, sagt Lang. „Allerdings sollten die Klienten wissen, dass es sich dabei nicht um gesicherte Erkenntnisse oder mindestens noch nicht um gut gesicherte Erkenntnisse handelt.“

Kein Ersatz für Face-to-Face-Psychotherapie

„Internetbasierte psychotherapeutische Interventionen können eine Face-to-Face-Psychotherapie nicht ersetzen. Sie können ergänzend, nachsorgend oder vorbereitend sein“, heißt es auch in einer Stellungnahme der Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung, ein Dachverband zahlreicher Therapeutenverbände.

Psychologische Forschungen zu dem Thema stehen noch am Anfang. Erste Studien kamen zu dem Ergebnis, dass eine Online-Therapie auch ohne direkten Kontakt zu einem Therapeuten einen Effekt haben kann. Ein randomisierter Vergleich zwischen einer Online-Therapie und einer klassischen Therapie fand keinen Unterschied in der Wirkung. „Bislang habe ich allerdings keine breite Evidenz für die Wirksamkeit von Online-Therapien wahrgenommen, und die Studienlage ist nach meiner Kenntnis recht dünn“, sagt Psychologe Lang. Auch daran will Humly etwas in Zusammenarbeit mit dem Klinikum der LMU München ändern.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Welt Online

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