Startup-Kultur in aller Munde

„Unsere Mitarbeiter haben bewiesen, dass sie gute Forscher sind, jetzt sollen sie auch erfolgreiche Unternehmer werden“, fordert Bosch-Chef Volkmar Denner. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ist sich der Bedeutung von Startups im Hinblick auf die Gesamtwirtschaft bewusst: „Für Deutschland ergeben sich dadurch großartige Chancen, klassische Industriestärken mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien zu verbinden.“

Startups und Startup-Kultur sind also nicht nur im Silicon Valley oder Berlin-Mitte in aller Munde, sondern haben es offensichtlich in die Köpfe der großen wirtschaftlichen und politischen Lenker dieses Landes geschafft.

Die Ursache scheint klar: In Märkten, in denen die Unternehmen heute noch erfolgreich agieren, findet zunehmend ein Commoditisierungs-Prozess statt. Durch den steigenden Konkurrenzdruck insbesondere aus dem Mittleren und Fernen Osten sind Unternehmen gezwungen, neues, ungewisses Terrain zu erschließen, in dem bewährte Strukturen und Vorgehensweisen jedoch nicht mehr so einfach funktionieren.

Die Folge: Immer mehr etablierte Unternehmen strecken ihre Fühler in die Startup-Welt aus, beispielsweise in Form von Corporate Venture Capital, Accelerator-Programmen oder am Ende gar unternehmensinternen Corporate Startups. Doch wie passt Startup-Kultur mit einem über 100 Jahre alten Unternehmen zusammen? Und was kann ein etabliertes Unternehmen überhaupt aus der Startup-Welt übernehmen? Fünf Ansätze:

1. Lernen = Spielen

„Der Erwachsene arbeitet, das Kind spielt. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass das kindliche Spiel kein fertiges Endprodukt vorweisen muss“, schreibt der bekannte Kinderarzt Remo H. Largo über die frühkindliche Entwicklung. Ähnlich ist dies beim Vergleich zwischen Startups und etablierten Unternehmen: Etablierte Unternehmen „arbeiten“, das heißt, sie führen ein bestehendes und funktionierendes Geschäftsmodell aus, wohingegen Startups „spielen“: Sie haben kein definiertes Ziel, auf das sie hinarbeiten könnten – wie denn auch, wenn weder Markt noch Produkt wirklich bekannt sind.

Vielmehr geht es Startups vor allem zu Beginn darum, sich spielerisch auf die Suche nach Erkenntnissen und Fähigkeiten zu begeben, die sie derart befähigen, dass sie zur richtigen Zeit die richtigen Entscheidungen treffen können. Diese Fähigkeit, sich spielerisch, neugierig und ergebnisoffen noch unbekannten Dingen zu nähern, ist uns angeboren, wird aber zunächst durch Schule und Studium, später durch arbeitsteiliges Projektmanagement und zielorientierte Führung systematisch abtrainiert. Erfolgreiche Startups schaffen es, sich diese spielerische Methodik zu bewahren und trotzdem zur richtigen Zeit Managemententscheidungen zu treffen, ohne jedoch den spielerischen Kern zu gefährden.

2. Technik UND Nutzer

Deutschland gilt nicht nur als Fußball- sondern auch als Technologieweltmeister! Spitzentechnologien „made in Germany“ sind weltweit gefragt, sie stehen für Qualität und Präzision. Nicht zuletzt stärkt sich dieses Bild allein schon durch die Namenswahl „Hightech-Strategie der Bundesregierung“ für das oberste Innovationsprogramm im Land. Doch nur weil man High-Tech produzieren kann, heißt es noch lange nicht, dass dies auch gebraucht wird. Die visionäre Festnetz-Videotelefonie hat sich genauso wenig durchgesetzt wie die technologisch ausgeklügelte Concorde.

Daher ist es wichtig, sich mit gleicher Leidenschaft für die Kunden zu interessieren. Erfolgreiche Innovationen berücksichtigen daher immer einen echten Mehrwert für den Endanwender. Insbesondere Design Thinker wissen, dass wahre Innovationen neben den Komponenten Technik und Geschäftsmodell auch den Faktor Mensch berücksichtigen. Ein hilfreiches Instrument ist zum Beispiel das Value Proposition Canvas (nach Osterwalder), welches die Nutzerperspektive bertrachtet und darauf aufbauend passende Lösungen kreieren lässt. Doch echte Empathie für die Kundengruppen zu erarbeiten und herauszufinden, was die Nutzer wirklich wollen – das geschieht nicht in den eigenen vier (Konzern-)Wänden. Deshalb:

3. „Get out of the building!“

Dieser Spruch des erfolgreichen US-Mehrfachgründers Steve Blank meint: Fakten über die Bedürfnisse der Kunden findet man nicht im Büro oder in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Je unbekannter der zu erschließende Markt oder das Anbieten einer noch nicht bekannten Lösung, desto weniger Studien, Wettbewerber oder andersartige Referenzen sind vorhanden. Und da spielen disruptive Startups ihre ganze Stärke aus.

Durch engen Austausch mit den Kunden können sie Schritt für Schritt die notwenidgen Bausteile des Geschäftsmodells testen. Ein iteratives Vorgehen, wie es in der agilen Softwareentwicklung Standard ist, wird heutzutage zunehmend auf sämtliche Innovationsbereiche übertragen. Hier schafft zum Beispiel der von Steve Blank manifestierte Customer-Development-Ansatz Unterstützung:

Mit Probleminterviews werden die existierenden Hindernisse, Probleme und Sehnsüchte der Nutzer validiert. Mit Lösungsinterviews werden mögliche Lösungsansätze getestet. Die sogenannten Learning Prototypes helfen hierbei, schneller denn je und zu einem Bruchteil der Kosten Lösungen zu verifizieren. Denn nur, wenn genügend Nutzer die Ideen als echte „Problemlöser“ ansehen, sind sie auch bereit, dafür zu zahlen. Ein überlebenswichtiger Faktor – nicht nur in der Startup-Welt.

4. Schnelles Lernen ermöglichen

Ein Projekt scheitert? Das bedeutet einen Rückschlag innerhalb großer Unternehmen, in denen Projekte nach strengen Prozessen durchgeführt werden, immer den Blick darauf gerichtet, am Ende der Projektlaufzeit innerhalb des definierten Budgets das gesetzte Projektziel zu erreichen. Doch was ist, wenn man kein Ziel definieren kann, weil Markt, Produkt und Geschäftsmodell unbekannt sind und damit klassische Projektmanagement-Tools nicht angewendet werden können?

Dann bleibt den Unternehmen nur das, was kleine Startups zum Erfolg führt: Man verfolgt eine explorative Strategie, um aus Ungewissheit Wissen zu machen. Das geht nur, indem man viele Experimente durchführt, daraus schnell lernt und bereit ist, auf Basis des Erlernten einen neuen Weg einzuschlagen und einen Kurswechsel vorzunehmen – so genannte Pivots. Ein Pivot ist jedoch in keinster Weise ein Misserfolg, sondern ein wichtiger Bestandteil des Lernprozesses.

5. Agil und iterativ

Kann ein Unternehmen mit tausenden von Mitarbeitern agil sein und schnell auf Änderungen am Markt reagieren? Nur sehr schwer, denn komplexe Organisationsstrukturen und standardisierte Prozesse, die für Effizienz und hohe Zuverlässigkeit zwingend nötig sind, verhindern dies. Aber ist das für ein großes Unternehmen überhaupt wichtig? Schließlich agieren Corporates seit vielen Jahren, im Falle von Bosch zum Beispiel seit mehr als 125 Jahren, erfolgreich am Markt. Die Antwort lautet: Ja, aber mit der richtigen Mischung.

Unternehmen müssen heute mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten an den Märkten agieren und die Fähigkeit besitzen, gleichzeitig effizient und flexibel zu sein. Dabei greifen sie zum einen auf Bestehendes zurück (Effizienz), müssen sich aber genauso auf Neues einlassen (Flexibilität). Man spricht hier auch von einer „Organisationalen Ambidextrie“. Was bedeutet das nun konkret für die großen Unternehmen? Klassische Produktentwicklung ist dann effektiv, wenn Markt und Geschäftsmodell bekannt sind und nachhaltige, sichere und zuverlässige Produkte mit hoher Qualität entwickelt werden müssen.

Für langfristiges profitables Wachstum müssen Unternehmen aber auch neue Geschäftsfelder in neuen Märkten erschließen, was mit hoher Ungewissheit hinsichtlich Produktanforderungen, Geschäftsmodell und Marktdaten verbunden ist. Das erfordert ein iteratives Vorgehen, mehr Flexibilität und Agilität und ist in kleinen unabhängigen Einheiten, wie zum Beispiel Corporate Startups leichter umsetzbar.

Das Beste aus beiden Welten

Stanford-Professor Steve Blank lehrt uns: Ein Startup ist nicht die kleine Ausgabe eines großen Unternehmens. Gleichzeitig ist ein Corporate Startup aber auch nicht gleichzusetzen mit einem völlig unabhängigen Startup. Es entsteht in der Kombination von Corporate-Welt und Startup-Welt also etwas Neues und Einzigartiges, das im Idealfall das Beste aus beiden Welten miteinander vereint: Die Fähigkeit durch agiles Denken und Handeln in unbekannten Märkten zu manövrieren auf der einen und das Ausspielen von Technologie, Ressourcen, Erfahrung und Know-How auf der anderen Seite. Gelingt dies, sind Dimensionssprünge vorprogrammiert.

 

BILD: Daniel Bartel, IfBI