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Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia zeichnet sich durch eine rege Streitkultur aus: Da jeder Nutzer prinzipiell auch Autor ist, kann jeder Artikel ändern, Fehler beseitigen oder etwas Neues beitragen. Manche Änderungen werden jedoch sofort wieder rückgängig gemacht von anderen Autoren, die über ihre Lieblingsthemen wachen. Die Profis unter den Rechthabern und Überzeugungstätern setzen dafür inzwischen sogar Roboter, sogenannte Bots, ein.

Bots sind autonome Programme, die im Namen des Autors selbstständig Wikipedia-Artikel abrufen, kontrollieren und ändern. Treffen zwei solche Rechthaber-Bots aufeinander, führt das zu absurden Stellvertreterkriegen zwischen den Wikipedia-Robotern, zeigt eine neue Studie der Universität Oxford. Bestimmte Themen und Begriffe in der Online-Enzyklopädie eignen sich hervorragend für jahrelange Streitigkeiten: Es geht um die Auslegung einzelner Wörter, um bestimmte Formulierungen und Details. Ob etwa der Meeresgolf zwischen dem Iran und den arabischen Staaten „Arabischer“ oder „Persischer“ Golf heißt, ist Gegenstand erbitterter Editier-Debatten: Ein Autor ändert den Namen des Golfs in „Arabischer“, ein anderer sieht das und ändert prompt wieder zurück in „Persischer“ und so weiter.

Der Haken aus Sicht der streitenden Autoren: Kein Mensch kann alle Wikipedia-Artikel aller Sprachversionen im Auge behalten, in denen der Meerbusen vorkommt. Also überlassen die Überzeugungstäter unter den Wikipedia-Administratoren diese Kontrollaufgabe selbst geschriebenen Editier-Bots. Die durchsuchen dann in regelmäßigen Abständen alle Artikel der Wikipedia nach bestimmten Begriffen und passen sie entsprechend der Überzeugung ihrer Herren an.

Bots streiten jahrelang über Änderungen

Ein Blick in die Versionsgeschichte der Wikipedia-Artikel, wo alle Eingriffe protokolliert werden, zeigt, wie hin- und hergeändert wird: Die rechthaberischen Roboter korrigieren einzelne Schreibweisen, ersetzen Wörter, interpretieren Kommas um oder löschen unliebsame Links und machen damit die Arbeit von anderen Robotern rückgängig. Diese wiederum bemerken die Änderung bei ihrem nächsten Suchdurchlauf und machen die Änderungen wieder rückgängig, halten so eine passiv-aggressive automatisierte Endlosdebatte im Gang.

Dabei sind die Bots sowohl geduldiger als auch streitlustiger und rechthaberischer als ihre Herren, zeigt die Arbeit von Luciano Floridi, Taha Yasseri und Kollegen vom Internet-Institut der Universität Oxford. Während menschliche Wikipedia-Autoren im Schnitt nur gut drei Mal im Jahr Änderungen anderer rückgängig machen, widersprachen die Bots anderen Robotern im Schnitt 105 Mal pro Jahr. Menschen finden irgendwann einen Kompromiss und einigen sich auf eine Version.

Die Roboter können das nicht. „Unsere Analyse zeigt, dass selbst einfache Bots komplexe und teils völlig unbeabsichtigte Interaktionen tätigen. Im Falle der Wikipedia sehen wir, dass Bots, die eigentlich zusammenarbeiten sollten, in ständigem Streit enden“, schreiben die Wissenschaftler.

Während die menschlichen Nutzer Änderungen an ihren Lieblingsartikeln meist innerhalb von Minuten entdecken und debattieren, brauchen die Bots oft Wochen für das Durchsuchen aller Artikel. Ihre Streitigkeiten dauern deswegen Jahre. Dabei sind die Roboter-Streitigkeiten je nach Sprachversion der Wikipedia unterschiedlich heftig: Während deutschsprachige Bots im Schnitt nur 24 Mal pro Jahr anderen Bots widersprechen, nehmen portugiesische Bots im Schnitt 185 Mal pro Jahr Änderungen anderer Bots zurück.

Die Ergebnisse der Forscher zeigen, wie der ineffiziente Einsatz der Roboter Ressourcen bindet, kommentiert Yasseri. Wikipedia-Gründer Jimmy Wales sieht die Nutzung von Bots auf der Plattform deswegen kritisch. „Bots können nicht vollautomatisch laufen, weil sie Dinge falsch verstehen. Insgesamt sind die Bots, die es gibt, sehr basic, nicht besonders smart“, sagt er im Gespräch mit der „Welt“.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Die Welt.

Bild: Screenshot Wikipedia