deutschland digitalisierung

Dass es Deutschland im Jahr 2015 so gut gehen würde, hätte sich vor zehn Jahren wohl kaum einer vorstellen können. Damals waren Bücher wie „Ist Deutschland noch zu retten?“ oder „Deutschland – Der Abstieg eines Superstars“ in den Bestseller-Listen – heute kann Deutschlands Volkswirtschaft vor Kraft kaum laufen.

Weil große Teile der Welt die Industrialisierung noch vor sich haben oder mittendrin stecken, steigt der Bedarf nach klassischen Industriegütern wie Maschinen und Autos – und Deutschland profitiert. Doch das Land von Maschinen, Stahl, Schrott und Schrauben tut sich immer noch schwer mit der Digitalisierung.

Für das von vielen prophezeite postindustrielle Zeitalter findet das Land der Dichter und Maschinenbauer bislang keine Antwort. Aus den USA kommen Google, das iPhoneund Facebook – aus Deutschland kommt De-Mail.

Brillante Planung, leider am Nutzer vorbei

De-Mail ist vielleicht das typischste Beispiel dafür, wie in Deutschland mit dem Thema Digitalisierung umgegangen wird: Es wird geplant, es gibt Gutachten, Experten werden angehört. Am Ende steht ein Gesetz – nur Nutzer bleiben aus.

2011 wurde das De-Mail-Gesetz verabschiedet, um eine sichere, vertrauliche und nachweisbare Kommunikation im Internet zu schaffen. Vier Jahre später kommt der eGovernment-Monitor 2015 der Initiative D21 in einer Umfrage unter deutschen Internetnutzern zu einem ernüchternden Fazit: „Das Thema De-Mail scheint in der deutschen Bevölkerung weiterhin wenig präsent zu sein.“

De-Mail sei nicht mehr als ein „sicher konfigurierter E-Mail-Server“ sagt Linus Neumann, Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC). Für ihn ist das Geldverschwendung – ähnlich wie beispielsweise die Initiative „Trusted Cloud“, die vom Bundeswirtschaftsministerium nach offiziellen Zahlen mit 50 Millionen Euro gefördert wurde, um dem deutschen Mittelstand Cloud-Dienste schmackhaft zu machen.

Für Thomas Jarzombek, digitalpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ist De-Mail ein „viel zu isoliertes System“ und die „Benutzerfreundlichkeit miserabel“. Die jüngsten Zahlen, die zu bekommen sind, sind die offiziellen Zahlen der Bundesregierung vom Februar. Damals hatten sich für das massiv auch von der Telekom beworbene Verfahren eine Million Privatanwender und eine „hohe fünfstellige Zahl von identifizierten Organisationen“ registriert. „Die Nutzungszahlen sind glaube ich ziemlich verheerend“, sagt Lars Klingbeil, netzpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Es müsse daher eine Weiterentwicklung geben.

Die United Internet AG hat den Vertrieb der De-Mail-Angebote inzwischen „heruntergefahren, bis es die ersten Massenanwendungen gibt“, sagt Jan Oetjen, Geschäftsführer von GMX und WEB.DE – den beiden E-Mail-Angeboten des deutschen Unternehmens. Vom Konzept ist 1&1 nach wie überzeugt – allein schon, weil die Briefpost irgendwann verschwinden werde.

In Kanada sei das beispielsweise schon 2020 geplant. Ist eine bestimmte kritische Masse bei den Briefzustellungen unterschritten, lohne sich das Serviceversprechen der Deutschen Post, Briefe in einem bestimmten Zeitraum auch zuzustellen, einfach nicht mehr. „Dann wird die Digitalisierung alternativlos“, sagt Oetjen.

Selbst Dax-Konzerne machen Anfängerfehler

Doch nicht nur die Politik tut sich mit der Digitalisierung schwer – auch große Unternehmen fallen in Deutschland häufig nicht durch IT-Kompetenz auf. 2012 machten ICE-3-Züge von Siemens Schlagzeilen, weil das Software-Signal zum Bremsen etwa eine Sekunde lang durch die IT-Infrastruktur des Zuges irrte, ehe der Bremsvorgang ausgelöst wurde. Das Eisenbahn-Bundesamt verwehrte daher zunächst die Zulassung.

Auch andere deutsche Vorzeigeunternehmen machen im Bereich der Software echte Anfängerfehler: So prüften Fahrzeuge von Daimler und BMW das SSL-Zertifikat für die verschlüsselte Verbindung zwischen Smartphone und Auto als nicht ausreichend, wenn dieses per App geöffnet oder gestartet wird. Daher kann ein Fremder sich in die Kommunikation zwischen beiden einklinken und das Auto per App öffnen und starten, wie ein US-Sicherheitsforscher kürzlich demonstrierte.

„Ein Man-in-the-middle-Angriff kann niemals ganz ausgeschlossen werden. Ein derart spezifischer Angriff ist in einer Alltagssituation aber praktisch unmöglich durchzuführen und sehr unwahrscheinlich“, teilte eine BMW-Sprecherin mit. Ein Daimler-Sprecher verwies auf „vielfältige und umfangreiche Vorkehrungen“, um das Risiko eines erfolgreichen Hacker-Angriffs „so weit wie möglich auszuschließen“. Eine „absolute, 100-prozentige Sicherheit“ werde es aber nicht geben.

Die Behörde, die in Deutschland für sichere Netze sorgen soll, ist dem Bundesinnenministerium unterstellt: das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Das BSI soll eine Bürgerbehörde sein, die Internetnutzer über Sicherheitsrisiken aufklärt und warnt. Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendienste nutzen allerdings Sicherheitslücken auch, um in Computer einzudringen und damit Verbrechen aufzuklären oder Informationen zu sammeln.

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Bundesamt schützt und hackt gleichzeitig

Das BSI wird damit in einen äußerst unangenehmen Spagat gedrängt: Es soll Bürger und Unternehmen vor Cyberangriffen schützen, stellt gleichzeitig seine Expertise aber für Cyberangriffe dem Bundeskriminalamt zu Verfügung. Auf Anfrage bestätigte das Bundesinnenministerium einen Heise-Bericht vom März, demzufolge das BSI dem Ministerium auf Anweisung seine Expertise für die Entwicklung des sogenannten Bundestrojaners zur Verfügung gestellt hat.

„In diesem Zusammenhang war neben dem BSI auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit beauftragt, die datenschutzrechtlichen Aspekte zu bewerten“, sagt eine Sprecherin. Letztlich sei es darum gegangen zu verhindern, dass Unbefugte Zugriff auf den Rechner haben. Das BSI habe den kryptografischen Mechanismus der Datenübertragung zugeliefert, um das sicherzustellen.

SPD-Politiker Klingbeil sieht die Zuordnung zum Innenministerium kritisch. „Es gibt auch immer wieder Kritik aus der Wirtschaft“, sagt Klingbeil. Die Nähe zu den Diensten sorge für „Fragezeichen“ wie eng man mit dem BSI zusammenarbeiten will. Der netzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion plädiert dafür, das BSI als eigenständige Behörde ohne ministerielle Zuordnung zu organisieren.

Die Arbeit der IT-Experten sieht er insgesamt positiv. Beim Angriff auf die IT-Infrastruktur des Bundestags habe das BSI beispielsweise „sehr energisch gearbeitet“. Fraglich sei aber immer, wie viel „politische Beinfreiheit“ die Behörde habe. „Das BSI hat viel Kompetenz und sogar schon Konzerne wie Microsoft zum Handeln gezwungen“, sagt auch der CDU-Abgeordnete Jarzombek.

Alte Kupferleitungen statt Glasfasern

Eine weitere Dauerbaustelle deutscher Netzpolitik ist der Breitbandausbau. Nachdem die Ziele zum schnellen flächendeckenden Internet von den vorherigen Bundesregierungen regelmäßig nicht erreicht wurden, nahm Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) zum Amtsantritt den Mund wieder sehr voll: „Deutschland braucht das schnellste und intelligenteste Netz der Welt“, sagte er. Schon damals gab es in Tokio Zwei-Gigabit-Anschlüsse für 40 Euro im Monat.

Zwei Jahre später ist Deutschland davon immer noch weit entfernt. Und statt dafür so sorgen, dass auch Glasfaserleitungen für die kommende Generation von Internet-Diensten ausgebaut werden, konzentriert sich die Bundesregierung derzeit nur darauf, die „weißen Flecken“ auf der Landkarte im ländlichen Raum zu tilgen. Das Ziel bleibt wie im Koalitionsvertrag festgehalten: Bis 2018 sollen alle Haushalte in Deutschland mit mindestens 50 Megabit im Download ans Internet angeschlossen sein.

„Man darf nicht immer nur auf den ländlichen Raum schauen“, sagt Jarzombek. Es müsse es auch eine Glasfaser-Strategie für die Städte geben – im Optimalfall mit „Fiber to the home“, also Glasfaserverbindungen, die bis in die Wohnung reichen. Bislang dominieren auf der „letzten Meile“ in die Haushalte alte Kupferleitungen, die das Nadelöhr sind.

Der Verkehrsminister habe es aber immerhin geschafft, für mehr Mittel vom Bund für den Breitbandausbau zu organisieren als je zuvor. „Das Geld ist jetzt da – etwa 2,5 Milliarden Euro für den Breitbandausbau“, sagt Klingbeil. Allerdings vermisst er wie auch Jarzombek eine Glasfaserstrategie.

Die mangelnde Netzinfrastruktur in Deutschland ist für CCC-Sprecher Neumann das „Grundübel“ der aus seiner Sicht verfehlten Netzpolitik in Deutschland. Da ist er sich sogar mit Wirtschaftsvertretern einig. „Wir brauchen Investitionen in Kapazität und Infrastruktur, um leistungsfähige schnelle Netze zur Verfügung zu stellen“, sagt Marc Ennemann, der bei Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft KPMG als Partner den Bereich Telekommunikation leitet.

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Netzneutralität wird aufgeweicht

Doch das Internet sollte nicht nur schnell sein – damit es seinen Charakter als Innovationstreiber beibehält, muss es auch fair organisiert sein. Daher wird weltweit um die sogenannte Netzneutralität gerungen – das Prinzip, nach dem alle Daten gleich behandelt werden. Weil Telekommunikationsunternehmen wie die Deutsche Telekom allerdings gerne ein Stück vom Kuchen der großen Internetumsätze wollen und die Margen gerade im Privatkundengeschäft bei den Internetzugängen gering sind, drängen sie auf eine Aufweichung der Netzneutralität.

Die Telekom und andere wollen nicht nur Kasse bitten, wer Informationen aus dem Internet abruft, sondern auch diejenigen, die solche anbieten. Wenn Deutschlands führende Politiker wie Kanzlerin Angela Merkel, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel oder EU-Kommissar Günther Oettinger zum Thema Netzneutralität sprechen, fällt dabei etwas auf: In ihren Reden und Positionen finden sich immer wieder zum Teil wortgleich die Argumente, die man auch von Vertretern der Deutschen Telekom und anderer großer Telekommunikationsprovider wie Vodafone hört.

Dabei werden selbst absurde Argumente übernommen. So argumentierte Oettinger kürzlich zum Beispiel, bestimmte Internetdaten müssten Vorrang haben, damit künftig die Steuerung autonomer Autos sichergestellt werden kann. Wer als leidgeprüfter Smartphone-Nutzer erfahren müsse, wie unzuverlässig mobiles Internet funktioniert, wisse auch, dass Pläne, Autos über das Internet zu steuern, auf viele Jahre hinaus absurd wären.

In Wirklichkeit sind sämtliche Konzepte zum autonomen Fahren natürlich – das Wort sagt es schon – autonom. „Selbst bei Google und seinem Roboterauto ist keine Rede davon, dass es auf eine Internetanbindung angewiesen sei“, schrieb dazu kürzlich die FAZ. „Vor zwei Jahren waren es die OP-Saal-Übertragungen, jetzt ist es das autonomen Fahren“, sagt SPD-Netzpolitiker Klingbeil. „Die Telekom ist als Akteur sehr präsent.“

„Bei Gesellschaften, die der Bundesrepublik zum Teil selber gehören, ist die Interessenslage immer eine andere“, sagt auch sein CDU-Kollege Jarzomberk. Die Telekom-Lobbyisten machten eine „sehr offensive Arbeit“. Allerdings dringe der Konzern mit seinen Wünschen längst nicht immer durch: „Was beim Thema Netzneutralität beschlossen wurde, ist weiß Gott nicht das, was die Telekom wollte“, sagt der CDU-Politiker.

Am Ende der WLAN-Wüste

Bei einem anderen Thema haben sich die Netzpolitiker der Koalition immerhin weitgehend durchgesetzt: Ein neues Gesetz soll die Zeit der WLAN-Wüste Deutschland beenden. Bisher scheuen sich noch viele Geschäfte wie Cafés, kostenlosen offenen Zugang zu Internet zu gewähren, weil sie Angst vor Abmahnungen haben. Denn aktuell können solche Geschäfte – anders als Internetprovider – noch dafür haftbar gemacht werden, was Nutzer in ihren Netzen tun.

Ein neues Gesetz soll das ändern. Der Entwurf dazu liegt derzeit zur europapolitischen Abstimmung noch bei der EU-Kommission – im sogenannten Notifizierungsverfahren. Gibt es aus Brüssel keine Einwände, sollte es noch im September vom Bundestag beschlossen werden.

Danach ist die sogenannte Störerhaftung bei offenen WLAN-Netzen Geschichte – wer offene Internetnetze betreibt, kann dann nicht mehr dafür in Haftung genommen werden, was Nutzer in diesen tun. Das soll laut Klingbeil und Jarzombek für private wie für gewerbliche Anbieter gelten.

Startup-Szene blüht nicht wegen, sondern trotz der Politik

Als großes Hemmnis für die Digitalwirtschaft wird auch immer wieder das Fehlen eines einheitlichen digitalen Binnenmarktes genannt. Unterschiedliche Regulierungen für verschiedene Länder der EU verhindern, das europäische Startups schnell groß werden. „Die mangelnde Größe der Märkte in Europa durch die Fragmentierung der Märkte ist ein Hindernis. Wir brauchen einheitliche Ordnungsrahmen, Rahmen für Datensicherheit und Rechtsrahmen“, sagt Ennemann von KPMG. Das Thema ist auf der Agenda der EU-Kommission.

Kann es mit dem Digitalstandort Deutschland also tatsächlich noch etwas werden? Ennemann glaubt ja. „Es tut sich sehr viel in Deutschland. Berlin ist ein Hotspot, aber nicht der einzige Innovationsstandort. Es gibt überall Initiativen, wie zum Beispiel der Startup-Campus in Bad Vilbel außerhalb von Frankfurt.“

Tatsächlich blüht die deutsche Startup-Szene – nicht unbedingt wegen, sondern trotz der Politik. Vor allem Berlin ist dank kultureller Vielfalt und im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen immer noch günstigen Lebenshaltungskosten zu einem Hotspot geworden. 2014 stieß Berlin bei der Summe des vergebenen Wagniskapitals laut einer Analyse von DowJones VentureSource sogar London vom Thron. Vermutlich nicht wegen, sondern trotz der Politik.

Der Text erschien zuerst auf WELT.de 

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