Timotheus Höttges ist es satt, sich vorführen zu lassen. Der Chef der Deutschen Telekom wird nicht müde, gegen Internet-Riesen wie Google, Apple und Facebook zu wettern. Unfair seien die Bedingungen, mit denen die Telekom gegen diese Konzerne antreten müsse. Während diese in Deutschland frei walten dürften, müsse sich die Telekom einer strikten Regulierung unterziehen.

Umso mehr hellt sich seine Laune auf, wenn er über eine kleine Einheit spricht, die in Darmstadt hinter verschlossenen Türen ein Gerät entwickelt hat, das das Unmögliche vollbracht hat: Amazon in die Schranken zu weisen.

Das Leuchtturm-Projekt der Telekom-Innovationsabteilung heißt Tolino und ist ein Lesegerät für elektronische Bücher, kurz: ein E-Reader. „Damit zeigen wir deutlich, was wir können“, sagt Höttges. Und tatsächlich: Der Tolino ist in Deutschland beliebter als Amazons E-Reader Kindle.

Hardware ist ähnlich

Wer beide Geräte in die Hand nimmt, wird sich wundern. Die Unterschiede sind auf den ersten Blick kaum bemerkbar. Die E-Reader sind etwa gleich groß und leicht. Sie zeigen auf ihrem Display die Buchstaben in hoher Schärfe und haben Speicherplatz für etwa 2.000 elektronische Bücher.

Einmal aufgeladen halten sie – bei halbstündiger Nutzung pro Tag – gleich mehrere Wochen durch, ohne erneut an die Steckdose zu müssen. Wer will, kann direkt auf dem Gerät elektronische Bücher kaufen und herunterladen. Weil sie ein sogenanntes e-Ink-Display haben, dessen Beleuchtung nicht blendet, ermüdet auch stundenlanges Lesen die Augen nicht.

Es ist daher auch gar nicht die Hardware, die den Tolino zum Vorzeige-Projekt werden ließ. Es ist vielmehr eine ungewöhnliche Allianz, die sich hinter dem E-Reader versammelt hat. Ein Zusammenschluss, den es in keinem anderen Land der Welt gibt.

Angst vor dem Kindle

Im Grunde genommen hat Amazon diese Allianz unbeabsichtigt mit geschmiedet. Nachdem der Online-Händler seinen Kindle im März 2011 in Deutschland auf den Markt geworfen hatte, zeichnete sich schnell die Dominanz des US-Konzerns im E-Book-Markt auch hierzulande ab.

Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, drei oder vier Jahre in die Zukunft zu blicken, um zu erkennen, was auf den deutschen Buchmarkt zukommen sollte. In den Führungsetagen der großen Buchhandelsketten wuchs das Unbehagen.

Man traf sich im Geheimen, um eine Abwehrstrategie zu entwickeln. Als Technologie-Partner bot sich die Telekom an. Anfang März 2013 präsentierte sich die Allianz dann zusammen mit dem ersten Tolino-E-Reader der Öffentlichkeit. „Heutzutage muss jeder überlegen, wo seine strategische Ausrichtung und sein strategisches Interesse liegen und welche Partner dafür die richtigen sind, um sich gegenüber den mächtigen amerikanischen Online-Giganten zu behaupten“, sagte Michael Busch, Chef der Thalia Holding.

Erste Bemühungen ohne Erfolg

Die Anti-Amazon-Allianz bestand zu Beginn aus den Buchhandelsketten Thalia, Hugendubel, Club Bertelsmann, Weltbild und der Telekom. Vorher experimentierten die Buchhändler und auch die Telekom mit eigenen E-Book-Strategien, darunter Thalia mit dem E-Reader Oyo und die Telekom mit dem Portal PagePlace. Doch die Bemühungen waren weitestgehend erfolglos und wurden von Amazons Kindle schlichtweg überrollt.

Das Zusammenwirken der Händler war nicht ohne Risiko, saß ihnen das Kartellamt doch drohend im Nacken. „Wir haben uns von Kartellrechtlern schulen lassen“, sagt einer der Teilnehmer. Bei kritischen Treffen saßen Anwälte mit am Tisch.

So gab es für den E-Reader keinen Einheitspreis, obwohl er – mit Ausnahme von kurzfristigen Rabattaktionen – am Ende bei allen doch gleich viel kostete. Viel wichtiger: E-Books wurden nicht zentral verkauft. Jeder teilnehmende Buchhändler hat auf dem von ihm verkauften Tolino einen eigenen E-Book-Shop, über den der Nutzer seine Titel beziehen kann.

Allianz hat sich verändert

Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn die Allianz inzwischen etwas anders aussieht. Club Bertelsmann stellt zum Jahresende sein operatives Geschäft ein, bleibt aber Teilhaber des Zusammenschlusses. Der Großhändler Libri ist inzwischen hinzugestoßen.

Zuletzt sind die Buchhandelsketten Mayerische mit 40 Filialen und Osiander mit 34 Filialen hinzugekommen. Der Tolino wird inzwischen auch in Österreich, Schweiz, Belgien, Italien und den Niederlanden verkauft.

Warum aber sollte ein Buchhändler seine Kunden in die E-Book-Welt schubsen, um ihn dann als Käufer von Papier-Bücher zu verlieren? Anfängliche Widerstände waren nach Angaben der Allianz-Teilnehmer schnell überwunden, weil Buchhändler am Verkauf eines jeden E-Books auf den Geräten mitverdienen. Ihre Kunden sind folglich nicht verloren. Im Gegenteil: Viele E-Reader-Nutzer kaufen nach wie vor häufig Bücher aus Papier.

Marktanteil steigt auf 45 Prozent

Das Durchhaltevermögen der Allianz hat sich ausgezahlt. Während in Ländern wie Großbritannien und den USA der Kindle auf einen Marktanteil von 70 und 80 Prozent kommt, sind es in Deutschland nach den Zahlen des Marktforschungsinstituts GfK weniger als 40 Prozent. 45 Prozent aller heruntergeladenen Bücher hingegen sollen auf einem Tolino landen.

„Fast jedes zweite der insgesamt hierzulande sieben Millionen gekauften E-Books im Jahr wird über einen Tolino heruntergeladen“, sagte Nina Hugendubel, geschäftsführende Gesellschafterin der Münchener Buchhandelskette, zuletzt vor der Frankfurter Buchmesse. „Es hat uns selbst überrascht, dass wir das so schnell geschafft haben“, sagte Thalia-Chef Busch.

Heute wird der Tolino in 1.800 von 6.000 deutschen Buchhandlungen verkauft. Es gibt inzwischen 1,7 Millionen Buch-Titel, aus denen Nutzer wählen können. Im Unterschied zum Kindle setzt der Tolino nicht auf ein geschlossenes eigenes Format, sondern auf den offenen Standard ePub.

Offenes System

Wer einen Tolino besitzt, kann heute mit seinem Gerät bei Thalia, morgen bei Hugendubel und übermorgen bei Libri einkaufen. Zwar sind die Buchshops jeweils vorinstalliert, doch über einen aufgespielten Internet-Browser ist auch die Konkurrenz erreichbar.

Die Telekom betreibt im Hintergrund ein digitales Buchregal, das sich auf einem Server im Internet befindet. Wer sein Gerät verliert, kann auf alle gekauften Titel noch zugreifen. Nach eigenen Angaben gibt es bei der Telekom kein Lesetracking. Die Telekom kennt auch nicht den Kunden, sondern bekommt vom Buchhändler nur eine Buchregalnummer mitgeteilt. Die Kundenbeziehung bleibt beim Buchhändler. „Wir legen großen Wert auf den Datenschutz“, heißt es dazu bei der Telekom.

Den Tolino gibt es inzwischen in der dritten Generation und in unterschiedlichen Modellen, von denen einige sogar wasserdicht sind. Nutzer können ihre Bücher aber auch über eine App auf dem Smartphone oder Tablet lesen. Beim Tolino Vision kann der Nutzer die Buchseite umblättern, indem er nur kurz die Rückseite des E-Readers antippt, Tab2Flip nennt die Telekom diese Funktion.

Keine Verkaufszahlen bekannt

Die Tolino-Allianz sieht sich in den GfK-Zahlen bestätigt, hält die Zahl der verkauften Tolino-Geräte aber unter Verschluss. Auch Amazon nennt die Zahl der verkauften Kindles nicht.

Prognosen sind zurückhaltend, was die weitere Entwicklung des E-Reader-Marktes angeht. Großes Wachstum wird kaum noch erwartet. Vor allem jüngere Leser greifen lieber zum Smartphone oder Tablet und lesen dort.

Thalia-Chef Busch geht davon aus, dass der E-Book-Markt weiter zweistellig zulegen wird. Nach den Zahlen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels haben in den ersten sechs Monaten des Jahres 2,7 Millionen Menschen in Deutschland ein E-Book erstanden. Der Umsatzanteil mit E-Books im Publikumsmarkt – also ohne Schul- und Fachbücher – lag bei 5,6 Prozent. In den USA liegt der E-Book-Marktanteil bei mehr als 20 Prozent.

Dieser Artikel ist zuerst auf Welt.de erschienen.

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