Der Beme-Gründer findet gestellte Selfie-Videos nicht authentisch

Welches Bild von sich selbst versuchen Nutzer in sozialen Netzwerken zu zeigen? Ein authentisches oder ein idealisiertes? Casey Neistat glaubt, dass das von der Kameraperspektive abhängt. Der New Yorker Filmemacher und Youtube-Star hat deswegen im vergangenen Jahr begonnen, eine App zu entwerfen, die eine Mischung zwischen Videokamera-Steuerung und sozialem Netzwerk ist. Heraus kam Beme (gesprochen: Biem).

Seit Freitag ist es mit Einschränkungen in einer Art offenen Beta-Phase in Apples App-Store verfügbar. Es soll im Alleingang verändern, wie soziale Netzwerke funktionieren. Diesen Anspruch hatten auch schon andere vor Neistat – doch die hatten nicht die 850.000 Abonnenten, die Neistat für sich auf Youtube vereinnahmen konnte.

Diese Follower, die über Neistats täglichen Videoblog sein Leben in New York verfolgen, fiebern der App seit Wochen entgegen. Geschickt hatte Neistat immer wieder Andeutungen gemacht, hatte in seinem Blog das Innenleben und den verrückten Büro-Alltag seines Start-ups gezeigt und war dabei so unterhaltsam, dass nun alle die App haben wollen.

Beme ist auf Platz eins der Trending Apps in Apples US-App-Store, auf Twitter gehörte der Name gleich zum Start der App zu den Trendstichwörtern des Tages, und aktuell kommt Neistats Start-up kaum hinterher damit, Einladungscodes für die App rauszurücken.

Klassisches Sharen ist nicht authentisch

Neistat konnte noch vor dem Start von Beme in seinem illustren New Yorker Freundeskreis 2,6 Millionen Dollar Startkapital für seine Idee einsammeln, zu den Kapitalgebern gehört unter anderem Supermodell Karlie Kloss. Die New York Times begleitete den Start. Als Neistats Mitgründer ist Matt Hackett für die technische Entwicklung zuständig. Er war einst Technikchef beim Blogging-Start-up Tumblr.

Aber warum der Hype? Neistat erklärt es im Launchvideo so: Klassische Apps zum Video-Sharen seien nicht authentisch, da der Nutzer sich beim Selfie-Machen immer selbst beobachten kann und dementsprechend seine Außendarstellung auf Instagram, Vine, Facebook, Snapchat und Co. genau kontrolliert.

Zudem wird er in den wichtigen Momenten seines Lebens – denen, die er teilen möchte – durch den Blick auf den Bildschirm seines Gerätes vom eigentlich relevanten Geschehen abgelenkt. Wer kennt nicht die Bilder von Livekonzerten, bei denen Hunderte Zuschauer ihre Smartphones in die Höhe halten, anstatt zu feiern. Deswegen schaltet Neistats App den Bildschirm einfach ab.

Als Auslöser für die Videos funktioniert der Annäherungssensor, der in jedem modernen Smartphone verbaut ist. Wer also ein immer maximal vier Sekunden langes Beme-Video aufnehmen will, der kann das Smartphone einfach vier Sekunden lang an die Brust oder jede beliebige andere Fläche drücken – die App zeichnet auf und versendet sofort an alle Follower, ohne dass der Nutzer eine Chance hat, das Ergebnis zu kontrollieren.

Bewusst spartanisch

Das soll Authentizität garantieren. Die Follower eines Nutzers wiederum können jeden Vier-Sekunden-Schnipsel nur einmal sehen und sollen dabei auf den Bildschirm tippen – dann senden sie automatisch Fotos ihres Gesichtes an den Videomacher und zeigen so ihre Reaktion auf die vier Sekunden Lebensmitschnitt.

Beme ist bewusst spartanisch gehalten, erinnert an die grüne Monochromanzeige eines 80er-Jahre-Computers – kein buntes Interface soll von den Kurzvideos der Freunde ablenken. Damit ist die App, wenn alle Nutzer tatsächlich so handeln, wie Neistat sich das erhofft, ein schlichtes Miniaturfenster in das Leben der Freunde, mit denen man Beme teilt.

Ob man diese extreme, unkontrollierte Authentizität tatsächlich mag, ist aktuell Gegenstand heißer Debatten in diversen sozialen Netzwerken und in US-Fachmedien wie Gawker. Vorläufiges Fazit: Die Anziehungskraft der App dürfte für den einzelnen Nutzer extrem davon abhängen, welcher Freundeskreis mit ihm Beme nutzen wird.

Dieser Text erschien zuerst in der Welt.

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