Jaron Lanier
Jaron Lanier Hüter des Humanismus: Jaron Lanier bei einem Auftritt im Mai 2006 in Mailand.

Wie eine Gestalt aus einem Fantasyfilm

Da steht er in der festlichen Frankfurter Paulskirche. Irgendwie etwas deplaziert. Aber ausgezeichnet – mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Jaron Lanier, ein Mann aus dem Silicon Valley, dem man alles glauben möchte. Mit hüftlanger Dreadlockfrisur, bunter Brille, Zauselbart spielt er auch noch ein kleines Lied auf der laotischen Flöte aus Bambusröhren. Wie aus einem Fantasyfilm entsprungen. Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels präsentiert sich als Verteidiger des Humanismus gegen „kalte Technologen“ und „zynische Datenverwerter“. Damit findet er vor allem in Deutschland ein dankbares Publikum. In einem Land, in dem laut einer Studie der EU-Statistikbehörde Eurostat nur fünf Prozent der Einwohner gute Internetkenntnisse haben. Gerade hier in der Paulskirche, vor Menschen, die noch richtige Bücher lesen. Aus Papier. Doch was will uns der sogenannte „Internet-Vordenker“ Lanier eigentlich sagen? Was ist seine Mission?

In seiner Dankesrede für den Preis ruft uns Lanier pathetisch zu: „Lasst uns die Schöpfung lieben!“ Wer soll eigentlich Adressat dieses Appells sein? IS-Terroristen? Die sind heute nicht in die Paulskirche gekommen. Dann warnt er vor den Gefahren einer neuen „Bewusstseinsindustrie“, die die Schöpfung „zerlegen, berechnen und programmieren“ wird. Was sagen eigentlich Wissenschaftler zu so einem Aufruf? Mit Zerlegen, Berechnen und Optimieren hat die Menschheit bis heute ziemlich gute Erfahrung gemacht. Das ist das bewährte Instrumentarium der Aufklärung – und trotz einiger Rückschläge ein Erfolgsmodell. Es sei denn, man fühlt sich im Irgendwie und Mittelmaß grundsätzlich wohler.

Zur liebenswerten Schöpfung gehören übrigens auch Computer, Smartphones und die sozialen Netzwerke, in denen Millionen Menschen täglich unterwegs sind. Und zu all den Geräten und digitalen Anwendungen, die uns umgeben, gehört immer noch ein Mensch, der sie benutzt und Schlüsse aus den Daten zieht. Zur Überwachung und der NSA-Debatte äußert sich Lanier erstaunlich sparsam. Er ärgert sich vor allem über Netzgiganten wie Google, Amazon und Facebook, die mit unseren persönlichen Daten sehr viel Geld verdienen, weil sie in der Lage sind, passgenaue und reichweitenstarke Werbung zu schalten. „Wir leben in gruseligen Zeiten“, sagt Lanier. Weil sich das Geld in den Händen weniger Milliardäre konzentriert. Seine Forderung nach mehr Menschlichkeit und Liebe zur Schöpfung bekommt an dieser Stelle eine leichte Schlagseite. Geht es ihm eigentlich um gerechtere Verteilung von Kapital?

Werden wir von Bannerwerbung manipuliert?

Erinnern wir uns ganz kurz an die Zeiten des Otto-Katalogs. Das Warenangebot wurde von den Otto-Einkäufern mit viel Erfahrung und Bauchgefühl zusammengestellt. Darüber hinaus gab es ein örtliches Kaufhaus und vielleicht noch ein paar andere Läden in der nächst größeren Stadt. Produkte, die hier nicht zu kaufen waren, waren für uns unerreichbar. Haben uns die Ottokataloge unfrei gemacht? Hat uns das beschränkte Warenangebot geknebelt? Waren der Otto-Konzern oder Neckermann die Bewusstseinsindustrie der 70er Jahre, die uns und unser Handeln berechnet und programmiert hat?

Wir sind heute trotz der etwas unbeholfenen Algorithmen, die uns mehr oder weniger sinvoll Produkte vorschlagen, trotz Facebook, das unsere Einträge sortiert, viel freier in unseren Kauf- und Informationsentscheidungen als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Der Mathematiker und Schriftsteller Gunter Dueck: „Ich stelle mir bei der Bannerwerbung immer die Frage: Manipulieren die mich? Hmmh, sieht dann aber sehr dümmlich aus. Klicken Sie mal einen Schuh von Zalando an, da verfolgt Sie der Schuh wochenlang. Viele jüngere Leute reagieren sehr allergisch darauf. Haben sich Unternehmen durch das Analysieren der Daten ihrer Kunden Produkte und Dienstleistungen verbessert? Nein, manipulativer und aufschwätziger sind sie geworden.“

In Zeiten des Internets, sagt Lanier in seiner Rede weiter, seien geistige Arbeit, Kultur und Patente nichts mehr wert. Es träfe Musiker, Journalisten und es würden weitere Gewerbe folgen. Die digitale Gesellschaft werde sich in Datenmilliardäre und Bettler aufteilen. Das ist sehr kurz gedacht. Ist es nicht viel mehr so, dass uns die digitalen Möglichkeiten in Zukunft von täglich wiederkehrenden Arbeiten entlasten können und uns so frei machen, für die kreative Prozesse, die eine Maschine nicht erledigen kann? Lanier spricht vom „Ende der Freiheit“. Das Gegenteil ist der Fall. Wir erleben gerade den Anfang einer neuen Freiheit. Es ist sinnlos, an Berufen und Branchen festzuhalten, die durch Computer überflüssig werden. Viel sinnvoller ist es, Wege zu finden, die frei werdende Arbeitskraft für wertvolle Tätigkeiten einzusetzen. Am Ende dieser Entwicklung wird nur noch geistige Arbeit etwas wert sein. Weil sie nur der Mensch erledigen kann. Diese neue Freiheit ist natürlich auch anstrengender. Sie braucht Bildung und persönliche Anstrengung.

Peter Thiel, einer der innovativsten Unternehmer und Investoren im Silicon Valley sagt: „Wenn Unternehnmen nicht in die schwierige Entwicklung von wirklich Neuem investieren, werden sie bedeutungslos.“ Genau hier liegt der große Wert von Kreativität und geistiger Arbeit der Zukunft, der laut Lanier verschwinden wird. Gunter Dueck schreibt: „Die Frage liegt auf der Hand: Was bleibt uns noch an eigenständiger Arbeit oder was kann der Computer noch nicht? Das ist klar: planen, entwerfen, verkaufen, überzeugen, designen, vermarkten, erforschen, innovieren, gründen, führen, erziehen, Konflikte lösen, Frieden schaffen, Nachhaltigkeit erzeugen, entscheiden, initiieren und managen (na, mindestens das heutige stupide Zahlenmanagement geht schon halb automatisch, wird aber irrtümlich noch bestens bezahlt).“ Statt einfach nur Angst vor dem Jobverlust zu haben, stellt sich eine ganz andere Frage. Dueck weiter: „Wo und wann lernen wir das alles? Das Überzeugen, Erfinden, Dichten, Bloggen, Projektleiten usw.?“ Geistige Arbeit ist nichts mehr wert? Im Gegenteil: Geistige Arbeit und Kreativität wird in Zukunft wertvoller sein als jemals zuvor.

Musiker sind seit einigen Jahren zum ersten Mal in der Lage, ihre Musik ohne große Plattenfirmen und teure Studios zu produzieren und zu verbreiten. Einfach auf dem Laptop. Wir kennen alle die Geschichten von jungen, talentierten Bands, die früher erst nach vielen erfolgreichen Jahren wirklich Geld verdient haben, weil vorher längst Plattenfirmen und Anwälte zugegriffen hatten. Das war zum Beispiel auch bei den Rolling Stones und The Who so. Wer keinen Vertrag bekam, der hatte nur wenige Chancen, sich einem breiteren Publikum zu präsentieren. Das kann heute jeder – mit wenigen Handgriffen.

Die Zeit der wenigen, steinreichen Superstars ist vorbei

Jede Band kann ihre Musik auf iTunes hochladen und per Youtube und Facebook bekannt machen. Wenn sie gut ist, wird sie sich sehr wahrscheinlich durchsetzen. Oder sie wird ihre Nische finden. Und das dann gleich weltweit. Es wird sich ein Geschäftsmodell etablieren, das diese Musiker gerechter belohnt als es eine Plattenfirma jemals gekonnt hätte. Streamingdienste wie Wimp oder Spotify sind immerhin ein Anfang. Viele Bands verdienen heute ihr Geld mit Tourneen und Auftritten. Die Zeit der wenigen Superstars, die Millionen scheffelten, nur weil sich eine Firma sich entschieden hatte, Millionen in die Promotion zu stecken, sind vorüber. Wir sind in unserer Auswahl und der Produktion von Musik viel freier geworden.

Journalist kann heute jeder sein, klagt Lanier. Ist deshalb die Arbeit von Journalisten nichts mehr wert? Lanier verdreht die Wahrheit. Wenn journalistische Arbeit wirklich gut und relevant ist, wenn sie einen Mehrwert für ihr Publikum darstellt, wird sie auch in Zukunft etwas wert sein. Dann muss sie auch nicht unbedingt von ausgebildeten Journalisten gemacht werden. Auch wenn sich Journalisten und Verlage derzeit auf diese Erkenntnis einstellen müssen und es noch an überzeugenden Geschäftsmodellen fehlt. Genau wie in der Musikbranche. Nur der gesichtslose Massenjournalismus wird schon bald wertlos sein. Für ihn wird es nie wieder einen Markt geben.

Es ist wahr. Wir befinden uns gerade auf einer rasanten Fahrt in Richtung digitale Zukunft. Dabei sind mächtige Monopole wie Google entstanden, deren Geschäftsgebaren wir genau unter die Lupe nehmen müssen. Der NSA-Skandal hat uns dazu gebracht, über den Grenzverlauf zwischen Privatheit und Sicherheitsinteressen zu diskutieren. Ganze Branchen sind im Umbruch und stellen sich gerade auf neue Zeiten ein. Aber das Aufatmen des versammelten Paulskirchen- und Feuilleton-Publikums nach der Rede von Jaron Lanier macht mehr Angst als alle Internetgiganten zusammen. Daraus spricht die Sehnsucht nach den übersichtlichen Zeiten, in denen wir viel unfreier waren als heute. Vor allem die Menschen, die außerhalb der sogenannten westlichen, entwickelten Welt leben.

Der Humanismus beginnt jetzt. Mit all den technischen und digitalen Möglichkeiten ist er noch mächtiger geworden. Wir sind nicht die Summe unserer Daten, die von Firmen und Staaten fleißig gesammelt werden. Die Menschheit kann mit Hilfe von Computern und Internet viel mehr sein – viel freier, kreativer und gerechter, als es sich Jaron Lanier vorstellen kann.

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