Bei mir war es Liebe. Liebe auf den ersten Tweet. Allein diese Vorstellung. Ich schreibe kurze Mitteilungen – und alle können sie lesen. Wunderbar. Ich bin kein Blogger-Typ. Lieber schnell zwischendurch eine Leseempfehlung raushauen. 140 Zeichen? Reicht!

Mich schnell informieren, was die anderen Leute da draußen so treiben. Was sie lesen, welche Musik sie hören, was sie in ihrem Job und in ihrer Freizeit erleben. Das ist, als ob man die unübersichtliche Welt für ein paar Momente durch die Augen der anderen sehen kann. Man lernt, wundert sich, fängt an, Dinge anders zu betrachten und ist den ganzen Tag unter Menschen. Auch wenn man alleine auf dem Sofa sitzt oder den Tag am Schreibtisch im Büro verbringt. Hier mein erster Tweet vom 13. März 2008:

Eigentlich wollte ich im März 2008 beginnen, Twitter als schnelle Plattform für meine Zeitung Welt Kompakt zu nutzen. Den Leuten da draußen zeigen, worüber wir in der Redaktion nachdenken, was wir den ganzen Tag so treiben – die Zeitung und die Arbeit ihrer Redakteure transparenter machen. Wir hatten nichts zu verbergen und Lust, neue Dinge auszuprobieren.

Doch schnell vermischte sich in meinem Stream Berufliches und Privates. Das ist bei mir sowieso nicht so scharf zu trennen. Und schon ging es mit den Diskussionen los. Darf unter dem Dach einer Marke twittern, dass man gerade auf dem Weg in den Plattenladen ist, um sich das neue Album von Bob Dylan zu kaufen? Darf ich mich als HSV-Fan zu erkennen geben? Darf man dies, darf man das? Welche Regeln sollte es geben? Ähnliche Fragen werden bis heute gestellt. Ich bin der Meinung, man darf alles. Wenn man niemandem schadet.

Ein Jahr später war mein Twitter-Stream dem Magazin der Süddeutschen Zeitung sogar eine Geschichte wert. So außergewöhnlich war es damals, dass ein Journalist nebenbei seine Erlebnisse twittert. In der Redaktion wurde ich immer noch fragend angeschaut, wenn ich den jungen Nachwuchsjournalisten empfahl, sich unbedingt einen Account zuzulegen. Kostet zu viel Zeit. Was soll das? 140 Zeichen sind doch viel zu wenig. Das waren die Argumente, die ich zu hören bekam.

Nur wenige Kollegen konnten sich vorstellen, welche Kraft und Dynamik so ein Netzwerk entwickeln kann. Chefredakteur und Vorstand ließen sich damals von mir informieren, was meine Redaktion da so auf Twitter treibt. Aber offenbar wurden meine Aktivitäten nicht als problematisch angesehen. Auch wenn es manchmal ein paar Probleme gab. Zum Beispiel wegen dieses – sagen wir mal – unbedachten Tweets aus der Erregung heraus:

Für die Welt durfte ich 2009 zu einer Twitterkonferenz nach New York fliegen. Erst dort wurde mir endgültig klar, welches Potenzial das Netzwerk hat. Damals schrieb ich in einer großen Reportage: „Das Telefon hat immer nur zwei Menschen verbunden. Bücher, Fernsehen, Radio und Zeitungen haben einen Absender und viele Empfänger. Zum ersten Mal in der Geschichte der Informationstechnologie gibt es jetzt die Möglichkeit, dass jeder Mensch Absender und Empfänger gleichzeitig sein kann. Auch Gruppen von Menschen. Sie verbinden sich schnell zu mächtigen Organisationen auf Twitter. Und das alles live.“ Das gilt bis heute.

Immer wieder werde ich gefragt, welche Tipps und Tricks es gibt, um sich eine möglichst große Anzahl von Followern aufzubauen. Mein großes Vorbild war am Anfang der Weinhändler Gary Vaynerchuk aus den USA. Sein Credo für Erfolg in Netzwerken: „Man muss sich um die Leute kümmern. Nur dann kümmert man sich wirklich um sein Geschäft.“

Vaynerchuk lebt bis heute von seiner einzigartigen Mischung aus Begeisterung für sein eigenes Produkt, persönlichem Einsatz und einer guten Portion Unterhaltung. Inzwischen ist der New-York-Jets-Fan Berater, hat Bestseller geschrieben, tritt auf großen Konferenzen auf und vermarktet sich klug als Internet-Marketing-Guru.

Ich habe Twitter nie als schnelles Nachrichtenmedium gesehen und genutzt. Obwohl der Dienst damit die größen Schlagzeilen gemacht hat. Denken wir nur an die Notwasserung auf dem Hudson. Nachrichten hole ich mir lieber bei News-Portalen, die die Informationen zwei oder drei Mal checken. Das darf dann gerne etwas länger dauern.

Twitter war für mich immer das Ohr auf der Straße. Worüber sprechen die Leute gerade jetzt? Was bewegt sie? Was gibt es draußen für Dinge, die es zu entdecken lohnt? Was muss ich sehen, lesen oder hören? Es hat mir immer Spaß gemacht, Talkshows im Fernsehen zu schauen und gleichzeitig auf Twitter zu lesen, was die Leute darüber denken. Das funktioniert zum Teil immer noch gut. Aber der Spaß und die freundliche Lockerheit ist in den vergangenen Jahren etwas verloren gegangen.


Twitter ist jetzt ein Thema für Vermarkter und professionelle Meinungsinhaber. Twitter ist ein Kanal geworden, ein Instrument für die Markenbildung. Wie langweilig. Ein Kanal, den man „bespielen“ muss. Und so lesen sich viele Tweets leider auch. Aus der Kür ist Pflicht geworden. Aus Humor und Durchlässigkeit wurde irgendwann heiliger Ernst und Starrsinnigkeit.

Es hat so gut getan, sich auf Twitter leicht neben der Spur zu bewegen. Auch mal mit aus der Hüfte geschossenem Quatsch. Jetzt scheinen alle auf die Fehltritte der anderen zu lauern – und die Fäuste sitzen locker. Außerdem haben viele andere Dienste inzwischen Aspekte von Twitter übernommen. Der Kurznachrichtendienst hat mächtige Konkurrenz bekommen. Schon bald werden wir sehen, dass Messenger-Dienste weitere Funktionen übernehmen werden.

Es sind harte Zeiten für Twitter. Und ich fürchte, sie werden noch härter. Aber zehn Jahre sind immerhin geschafft. Eine Ewigkeit in unseren schnellen, digitalen Zeiten. Herzlichen Glückwunsch, Twitter! Und vielen Dank.

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