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Seit zwei Jahrzehnten, sagt Peter Brabeck-Letmathe, sei eine stille Revolution im Gange, ein Paradigmenwechsel, der seither das Leben jedes Menschen berührt – essen müssen wir schließlich alle. Es geht um die Revolution in der globalen Lebensmittelerzeugung. „Seit Ende der 90er-Jahre führen mehr Kalorien erstmals nicht mehr zu einer Erhöhung der Lebenserwartung, sondern zu einer Verringerung.“

Es ist ein Satz aus der Vogelperspektive des Verwaltungsratspräsidenten des weltgrößten Lebensmittelherstellers Nestlé. Brabeck-Letmathe hat nicht weniger im Blick als die Ernährungssituation der Menschheit und die Schlussfolgerung, die der Konzern daraus aus seiner Sicht ziehen sollte.

Erstmals zu viel Nahrung statt zu wenig

Dank der grünen Revolution, also massiven Effizienzsteigerungen in Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie seit Beginn der Industrialisierung, habe das Gespenst des lebensbedrohlichen Hungers in vielen Teilen der Welt seinen Schrecken verloren. Nach Zahlen der UN ist der Anteil der Weltbevölkerung, die darunter leidet, seit Anfang der 90er-Jahre von knapp 19 Prozent auf – immer noch erschreckende – zwölf Prozent zurückgegangen.

Erstmals in der Geschichte gebe es zu viel Nahrung. Vor allem in den westlichen Überflussgesellschaften bringe weiteres Mengenwachstum an kalorienreicher Nahrung aber mehr Schaden als Nutzen. „Wohlstandskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Adipositas haben ein epidemisches Ausmaß erreicht“, so der Verwaltungsratschef.

Für die Hersteller von Nahrungsmitteln bedeute dies eine grundlegende Umorientierung. Statt auf Masse müssten sie sich darauf konzentrieren, Produkte mit gesundheitsfördernden Eigenschaften auf den Markt zu bringen, „die weit über Reduktion oder Ersatz von Zucker, Fett und Salz in der Nahrung hinausreichen“.

Thesen und Zitate stammen aus dem Buch „Ernährung für ein besseres Leben“ von Brabeck-Letmathe, das zugleich eine Art Vermächtnis des 71-jährigen früheren Nestlé-Chefs an seine Nachfolger ist. Mit Ablauf der Hauptversammlung im April 2017 wird der amtierende Vorstandschef Paul Bulcke von Brabeck-Letmathe den Vorsitz des Verwaltungsrats übernehmen. Bulckes Job an der operativen Spitze des schweizerischen Weltmarktführers übernimmt der Deutsche Ulf Schneider (51).

Bessere Nährstoffe und individuell angepasste Nahrung

Die Spitzenpersonalie ist ein Beleg dafür, wie ernst Brabecks Thesen von der notwendigen fundamentalen Umorientierung im Konzern genommen werden. Schneider war früher Chef des Gesundheitskonzerns Fresenius. Und er ist der erste Vorstandschef seit vielen Jahrzehnten, den Nestlé von außen holt.

Schon jetzt sei eine deutliche Zweiteilung in der Lebensmittelindustrie zu beobachten, sagte der scheidende Grandseigneur des Konzerns bei einer kleinen Buchvorstellungsrunde in der Frankfurter Deutschlandzentrale von Nestlé. Da gebe es zum einen die Unternehmen, die an der alten Mengenstrategie festhielten und sich dabei auf stramme Kostensenkungen konzentrierten. „Der Preis dafür ist, dass die Umsätze zurückgehen“, denn die Megatrends gingen in eine andere Richtung: bessere Nährstoffe und individuell angepasste Nahrung statt noch mehr Kalorien.

Dafür stehe die andere Gruppe der Unternehmen, an deren Spitze sich Nestlé setzen will. Dazu sei allerdings viel teure Forschung und Entwicklung notwendig, und man gehe Risiken ein: „Wir nehmen Akquisitionen in Gebieten vor, von denen wir noch nicht viel verstehen“, sagte Brabeck-Letmathe. Zur Finanzierung dieses Kurses bräuchten Unternehmen wie Nestlé höhere Margen und ordentliches Wachstum.

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Schneiders Problem wird sein, dieses Wachstum zu erzeugen. Denn an diesem zentralen Punkt hakt es im Konzern. Nestlé ist mit seinen Produkten wie Kitkat-Schokoriegel, Maggi-Suppen oder Nescafé nach den kürzlich vorgelegten Zahlen zu den ersten neun Monaten 2016 zwar etwas schneller gewachsen als Konkurrenten wie Danone oder Unilever, aber längst nicht schnell genug, um die selbst gesetzten Ziele zu erreichen. Um verzerrende Einflüsse wie die Schwankung von Wechselkursen und Zusatzumsatz durch neue Tochterfirmen bereinigt lag das Geschäftsvolumen zwischen Jahresbeginn und Ende September mit 65,5 Milliarden Schweizer Franken (60,4 Milliarden Euro) gerade einmal um 3,3 Prozent höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Dabei hatte Bulcke sich einen langfristigen Wachstumskorridor von fünf bis sechs Prozent jährlich vorgenommen – den Nestlé nun zum vierten Mal in Folge reißt. Schlimmer noch, der Trend zeigt nach unten. Der Vorstandschef musste die Wachstumsprognose für das Gesamtjahr 2016 auf 3,5 Prozent zurücknehmen, nachdem er zuvor 4,2 Prozent in Aussicht gestellt hatte.

Essen per 3-D-Drucker

Eine Rolle spielt dabei, dass sich einige Probleme nicht so schnell lösen ließen wie vom Management erwartet. Nach wie vor bremst ein Skandal in Indien den Verkauf von Maggi-Nudeln, nachdem die Behörden dort überhöhte Bleiwerte festgestellt hatten. Auch greifen die Chinesen seltener zu Erdnussmilch oder Reis-Porridge der dortigen Konzernmarke Yinlu.

Doch langfristig, da ist sich Brabeck-Letmathe sicher, stimme die Richtung, in die sich das Unternehmen bewegt. So hat der Konzern mit milliardenschweren Investitionen eine Sparte für Hautpflegeprodukte aufgebaut und bietet Nahrung für ältere und chronisch kranke Menschen an.

Gleichzeitig experimentiert man in den konzerneigenen Forschungslabors mit digital getriebenen Zukunftslösungen. Nestlé werde beispielsweise mit einem Projekt namens „Iron Man“ „die Ernährung revolutionieren“, schreibt der scheidende Verwaltungsratschef in seinem Buch.

Zuerst, so die Idee, würden tragbare Sensoren Kalorienverbrauch und Nährstoffbedarf ermitteln und die nächste Mahlzeit planen. Die geht so: „Mithilfe einer Kapsel ähnlich der von Nespresso werden die Menschen individuelle Nährstoffcocktails zu sich nehmen können oder per 3-D-Drucker ihr Essen gemäß den elektronisch erfassten Gesundheitsempfehlungen zubereiten.“

Selbst wenn die Hoffnung auf gesundheitliche Selbstoptimierung und ein langes Leben viele potenzielle Kunden motivieren dürfte, wird Nestlé viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, ehe die Kunden massenhaft zum Dinner-Drucker greifen. Auf bahnbrechende Produkte aber bleibt der Konzern angewiesen, will er seine Wachstumsziele auf Dauer erreichen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt Online.

Artikelbild: Getty Images/STEPHANE DE SAKUTIN; Infografik: Die Welt