Als die Bundesregierung im Jahr 2003 beschloss, eine elektronische Krankenversicherungskarte mit Patientendatenspeicher einzuführen, sah die Ausschreibung des Bundesgesundheitsministeriums als Startdatum den ersten Januar 2006 vor. Gut neun Jahre später ist das IT-Großprojekt noch immer nicht einsatzfähig.

Ob Funktionen wie der elektronische Medikationsplan wie geplant Mitte 2016 eingeführt werden, ist mindestens fraglich. Laut aktuellen Meldungen zweifelt das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik in internen Gutachten die Lesegeräte an.

Angesichts des finanziellen Aufwandes wehren sich die niedergelassenen Ärzte gegen die Karte, und lange geplante Aufgaben wie der elektronische Arztbrief werden von der Gesundheitskarten-Trägergesellschaft Gematik immer weiter verschoben. Die komplette elektronische Gesundheitsakte jedes gesetzlich Versicherten ist wegen der Sicherheits- und Datenschutzbedenken von kassenärztlichen Vereinigungen, Datenschützern und Behörden in weite Ferne gerückt.

Unterdessen fragt sich eine neue Generation von Medizinern, Programmierern und Startup-Gründern, warum das Gesundheitssystem das Potenzial für eine effizientere Versorgung der Patienten via IT verschenkt – und geht eigene Wege: „Wir sehen aktuell, wie die Patienten die Verwaltung ihrer Daten selbst in die Hand nehmen. Wir stehen am Anfang einer Consumer-Health-Welt, in der Nutzer sich über Wearables selbst analysieren, ihre Daten speichern und an Ärzte und Dienstleister weitergeben“, sagt Johannes Jacubeit.

Gesundheitsdaten liegen verschlüsselt auf dem Smartphone

Der Hamburger Arzt und Startup-Gründer stellte bei seiner klinischen Arbeit fest, dass er einen Großteil seiner Arbeitszeit damit verbringt, im Patientengespräch Medikationspläne und frühere Diagnosen zu rekonstruieren. Für die eigentliche Behandlung bleibt dagegen wenig Zeit: „Ich bekomme als Arzt einfach nicht die Informationen, die ich benötige. Es würde enorm viel Zeit und Geld für Doppeluntersuchungen oder Medikamente sparen, wenn der Patient einfach sein Zeug dabei hätte“, kommentiert Jacubeit.

Deswegen gründete er Ende 2014 kurzerhand das Start-up Connected Health, um eine eigene Version der digitalen Patientenakte zu erstellen. Seine Idee: Die Patienten sollen ihre Gesundheitsdaten verschlüsselt auf ihren eigenen Smartphones ablegen.

„Das hat mehrere Vorteile: Die Geräte haben sie immer dabei, und die Hardware-Verschlüsselung etwa auf aktuellen iOS-Geräten ist bereits sehr stark“, erklärt Jacubeit. Papierdokumente wie etwa alte Arztbriefe können die Nutzer einfach per Foto der Smartphone-Kamera einlesen, Daten etwa aus Fitnesstracker-Apps, digitalen Diabetes-Tagebüchern oder von Pulssensoren liegen bereits auf den Geräten vor und lassen sich importieren.

Beim Arzt verbindet der Patient sein Smartphone mit der Connected-Health-App drahtlos und verschlüsselt über Kurzstrecken-Funk mit einem Lesegerät, das die Hamburger aktuell in einer ersten Kleinserie produzieren. Die ersten 50 Stück sollen ab November in einem Pilotprojekt an Ärzte in Norddeutschland ausgegeben werden.

Anders als bei der Patientenakte, die irgendwann mal in der elektronischen Gesundheitskarte abgelegt werden soll, können die Nutzer selber Daten verwalten – und selbst entscheiden, welche Daten sie dem Arzt freigeben. „So bekommt der Orthopäde keinen Einblick in die Diagnose eines Psychiaters, die der Patient vielleicht nicht jedem seiner Ärzte weitergeben will“, sagt Jacubeit.

Markt für Fitness-Wearables wächst weiter

Jacubeit und seine Mitgründer setzen mit ihrer App voll darauf, dass die Ärzte künftig speziell chronisch kranke Patienten als Partner sehen, denen sie die Verwaltung ihrer Krankengeschichte überlassen können. Doch nicht nur chronisch Kranke nutzen immer häufiger ihr Smartphone und Wearables, um den eigenen Körper digital zu vermessen.

Auch gesunde Nutzer wollen mehr über ihre Körperfunktionen und ihren Gesundheitszustand wissen und installieren entsprechende Apps und kaufen Schrittzähler und Pulsmessuhren wie nie zuvor: „40 Prozent aller US-Amerikaner messen bereits irgendeinen Aspekt ihres Lebens, und in Deutschland steigt die Akzeptanz gerade massiv an“, sagt Annette Zimmermann vom Analysedienst Gartner.

2016 werde der Markt „für Wearables und Apps aus dem Bereich Fitness und private Gesundheit auf voraussichtlich fünf Milliarden Dollar wachsen“. Die Kategorie „Gesundheit und Fitness“ des Apple-Appstores umfasst bereits über 100.000 Apps.

Fraglich ist, wie die Institutionen, die bislang die große Lösung Gesundheitskarte gefördert haben, diese Graswurzelrevolution der Patienten bewerten. „Aus der fließenden Grenze zwischen Entertainment und ernsthafter Medizin ergeben sich neue Gefahren“, warnt Maximilian Gaßner, bis Anfang 2015 Präsident des Bundesversicherungsamtes, vor der Flut der Gesundheitsapps in den Appstores von Apple und Google. Er fordert in einem aktuellen Fachaufsatz eine bessere Regulierung der Apps und warnt vor falschem Vertrauen in ungeprüfte Diagnosen per Smartphone.

Live analysieren Apps die Körperdaten

Noch sammeln Anwendungen wie etwa die Jawbone-Fitnesstracker-App, Runtastic oder Garmins Connect vor allem die Daten. Doch der Schlüssel für den künftigen Erfolg von Startups liegt laut Analystin Zimmermann darin, diese Daten aus den verschiedenen Quellen zu bündeln und sinnvoll zu analysieren.

„In dieser Live-Analyse liegt das wahre Potenzial der digitalen Gesundheit, und hier wird das meiste Geld verdient werden“, so Zimmermann. Diverse deutsche Startups haben das erkannt und profitieren von diesem Trend.

Eine der aktuell weltweit erfolgreichsten Medizin-App ist die Zyklus-Tracking-App Clue des Berliner Startups Biowink, das Anfang Oktober sieben Millionen Dollar von internationalen Risikokapitalgebern einsammeln konnte. „Clue ist führend im Bereich der digitalen Gesundheit, und wir sehen riesiges Potenzial für ein weltweites Wachstum“, kommentiert Simon Levene, Partner beim Investor Mosaic Ventures, das Engagement.

Dabei sind die Nutzer nur in der Minderzahl der bisher verfügbaren Apps diejenigen, die Geld in ihre Gesundheit investieren sollen, erklärt Analystin Zimmermann: „Insbesondere deutsche Nutzer erwarten oft, dass Gesundheits-Dienstleistungen für sie kostenfrei sind. Zahlungsbereit sind dagegen vor allem Krankenkassen, Arbeitgeber oder auch Arzneimittelhersteller.“ Inzwischen zahlt etwa die AOK Fitnesstracker für ihre Versicherten, die Techniker-Krankenkasse gibt Apps für chronisch kranke Versicherte in Auftrag.

Zusammenarbeit mit US-Versicherungen ist kaum möglich

Wie solche Apps aussehen können, weis Inga Bergen, Chefin des Berliner E-Health-Start-ups Welldoo: „Aktuell haben wir einen sehr regulierten Markt für Medizinprodukte und hohe Anforderungen an den Datenschutz – von außen aber drücken die Konsumenten drauf und fordern intelligente Lösungen ein.“ „Diabetes-Tagebuch“ heißt eine im Auftrag der Techniker-Krankenkasse von Welldoo erstellte App, in der die Nutzer täglich Zuckerwerte, Ernährung und Insulingaben protokollieren können.

Mit einer Export-Funktion können die Patienten ihre Werte ihrem Arzt zur Verfügung stellen. Die Krankenkasse profitiert, da dank der Analyse der Daten das Risiko von Folgeerkrankungen sinkt. Für deutsche Versicherungen aber ist es fast unmöglich, mit US-Anbietern zusammenzuarbeiten: Die strengen deutschen Vorgaben verhindern, dass Daten von deutschen Versicherten auf US-Server übertragen werden.

Deswegen hat sich Welldoo darauf spezialisiert, auch die sichere Infrastruktur für die Datenauswertung bereitzustellen und die Daten gegenüber dem Versicherer zu anonymisieren. „Vor einigen Jahren war das Ziel aller Beteiligten noch, große Lösungen für alle Krankheiten und alle Versicherten zu bauen, doch inzwischen finanzieren die Akteure spezialisierte Ansätze wie das Diabetes-Tagebuch oder Allergiker-“

Startups heben Gesundheits-Bürokratie aus

Bergen erwartet, dass Nutzer wie Ärzte dem Thema künftig weniger kritisch gegenüber stehen: „Mit den Services, die wir entwickeln, ändert sich auch die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Die Mediziner können bessere Entscheidungen treffen, die Patienten sind über den eigenen Gesundheitszustand besser informiert.“

Dabei vermeidet Bergen jedoch meist, ihre Apps als Medizinprodukte zu registrieren. „Dann wird jede Weiterentwicklung schwierig, da man sich immer neuen Prüfungen unterwerfen muss.“

Die Bürokratie, die bislang das Gesundheitssystem prägt, wird durch App-Macher wie Welldoo oder Connected Health in einer Graswurzelrevolution von unten ausgehebelt. „Die Gefahr dabei ist, dass ganz viele Insellösungen entstehen“, so Bergen.

Ob der Markt das mittelfristig trägt, bezweifelt Bergen: „Die Institutionen werden künftig eine größere Rolle spielen müssen.“ Ob auch die Gematik dazu beitragen kann, bezweifelt die Welldoo-Chefin jedoch, da die Gesundheitskarten-Trägergesellschaft durch ihre Entscheidungsstruktur zu langsam sei, um wirklich große Veränderungen voranzutreiben.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Welt Online.

Bild: © Bildagentur PantherMedia  /