Etwa alle 53 Minuten nimmt sich in Deutschland ein Mensch das Leben. Etwa alle vier Minuten versucht es jemand. Die Ursache ist häufig eine Depression oder eine andere psychische Erkrankung – diese ist meistens heilbar. Seit langem versuchen Sorgentelefone deshalb, Betroffenen schnelle Hilfe ohne bürokratische Hürden anzubieten.

Dem Statistischen Bundesamt zufolge sind etwa vier Millionen Menschen in Deutschland von einer depressiven Störung betroffen, aber nur ein Drittel sucht sich professionelle Hilfe. Und es vergehen durchschnittlich elf Monate, bis sich ein Betroffener diese Hilfe sucht. Hinzu kommt, dass Therapieplätze in Deutschland schwer zu bekommen sind. Wer nicht als akut gefährdet gilt und in eine stationäre Notaufnahme kommt, wartet im Schnitt fünf Monate auf einen Therapieplatz.

Kati Bermbach (links) und Nora Blum, die Gründerinnen von Selfapy

Zwei Psychologinnen aus Berlin holen mit ihrem Startup Selfapy jetzt die Psychotherapie ins Netz – und erleichtern damit den Zugang zu professioneller Hilfe. „Wir wollen Psychotherapie digitalisieren und so die langen Wartezeiten für Therapieplätze sinnvoll überbrücken“, sagt Nora Blum, eine der beiden Gründerinnen von Selfapy. Auf keinen Fall wollten sie der klassischen Therapie ihren Rang ablaufen – jedenfalls vorerst. Denn besonders für Menschen, die durch ihre psychische Krankheit sozial isoliert sind, sei der direkte Kontakt zu einem Therapeuten wichtig. Trotzdem glauben Nora Blum und Kati Bermbach daran, dass Depressionen in Zukunft bei machen Menschen auch nur durch eine Online-Therapie geheilt werden könnten.

Der Online-Therapie-Kurs, den die beiden mit erfahrenen Psychologen entwickelt haben, besteht aus neun Modulen. Dem Betroffenen werden dabei Fragen gestellt wie: „Fühlst du dich manchmal wertlos?“, „Was bedeutet es, wertlos zu sein?“, „Kann man nur wertvoll oder nicht wertvoll sein?“. Dadurch könnten negative Gedanken gestoppt werden. Zusätzlich kann jeder Teilnehmer einmal pro Woche ein 45-minütiges Telefonat mit einem studierten Psychologen führen. Der Online-Kurs kostet 125 Euro. Langfristig soll der Preis auf 500 Euro steigen. Und die Gründerinnen wollen erreichen, dass Krankenkassen diese Kosten übernehmen. Dafür muss die Wirksamkeit des Kurses noch wissenschaftlich belegt werden.

Bisher finanzieren sich die beiden durch ein kleineres Investment der Mavericks Founders und planen eine größere Finanzierungsrunde. Das Konzept dürfte Versicherungen stark interessieren. Denn eine Therapie kostet durchschnittlich 6.000 Euro. Insgesamt liegen laut TK-Depressionsatlas die Produktionsausfälle durch Depression bei rund vier Milliarden Euro in Deutschland. Das Angebot von Selfapy könnte deshalb einen erheblichen ökonomischen und gesellschaftlichen Einfluss haben; vielen Betroffenen könnte frühzeitig geholfen werden – bevor die Depression chronisch wird.

Seit den 50er Jahren existieren verschiedene Formen des Sorgentelefon, die zuerst von den Kirchen ins Leben gerufen wurden. Die Angebote von Telefonseelsorge wurden später auch von Vereinen und anderen Organisationen übernommen. 1995 waren die ersten Angebote der Telefonseelsorge im Web verfügbar. Immer mehr Stellen bieten seitdem Hilfe per Chat und Mail an. Es gibt spezielle Angebote für Kinder, Jugendliche, Studenten oder Rentner. Selfapy ist der nächste logische Schritt der Digitalisierung von Seelsorge in Richtung Psychotherapie.

Auch bei anderen psychischen Erkrankungen könnten Online-Therapien wie die von Selfapy möglich werden: Jungunternehmer wie die Gründer von MoodpathMeinSigumundJourvie oder IPSO haben erkannt, dass die Digitalisierung von Psychotherapie und Diagnose eine Marktlücke ist.

Bild: Gettyimages / Francesco Carta fotografo