Rocket Börsengang

Weltherrschaft und Größenwahn? Vielleicht.

Da draußen tobt die digitale Revolution. Ihre Ausläufer erreichten gestern auch die Frankfurter Börse. Die Deutschen starren in ihre Smartphones und wissen, dass wir in aufregenden Zeiten leben, weil sich durch die digitalen Möglichkeiten unser Leben radikal ändern wird. Dass das mobile Internet zur Schaltzentrale des modernen Menschen wird, zum Userinterface für die Welt. Das beweist auch das große Interesse an den Börsengängen von Zalando und Rocket Internet.

Die drei Samwer-Brüder sind so etwas wie die deutschen Popstars des unübersichtlichen Internetgeschäfts. Man kennt die Chefs von Rocket Internet, wie man Bundesliga-Spieler kennt. Sie sind für die ersten Börsengänge eines Internetunternehmens in Deutschland seit vielen Jahren verantwortlich und wollen um fast jeden Preis von der Revolution profitieren. Manchmal auch mit etwas sonderbarem Geschäftsgebaren und verstörenden Auftritten. Die Samwers wollen die Dinge, wie wir sie kennen, mit ihren Firmen ändern. Schnell und radikal. Und vor allem auch radikal viel Geld damit verdienen. Das ist ihnen heute an der Börse nicht ganz perfekt gelungen. Aber 1,6 Milliarden Euro wurden durch den Börsengang eingenommen.

Aber Veränderung fällt uns nicht leicht in Deutschland. Radikale Veränderung schon gar nicht. Man ist mit dem Status Quo eigentlich ganz zufrieden und bereit, viele Freiheiten einzuschränken, um ihn zu erhalten. Das Leben ist doch ganz gemütlich hier. Der Blick reicht nur ganz selten bis hinter den perfekt gemähten deutschen Vorgarten, hinter die aufgeräumten Regale der Bioläden. Mit Unbehagen und Stirnrunzeln wird beobachtet, was sich die Amerikaner im Silicon Valley ausdenken.

Berlin ist zum Beispiel langsam auf dem Weg zu einer ganz normalen, europäischen Großstadt – leider auch was Mieten und soziale Strukturen angeht. Diese Entwicklung soll durch „Milieuschutz“, „Mietpreisbremse“ oder andere fragwürdige Maßnahmen unbedingt verlangsamt oder sogar aufgehalten werden. Dafür darf die Politik dann auch gerne mal die Wohnungen genau unter die Lupe nehmen und prüfen, ob da nicht irgendwo verbotenerweise ein neues Bad eingebaut oder Parkett verlegt wurde. Etwas seltsam in Zeiten der aufgeregten Datendiskussion. Die globale technische Entwicklung lässt sich aber auf keinen Fall aufhalten. Auch nicht durch das Bezirksamt in Friedrichshain-Kreuzberg.

Die Samwers wollen und brauchen keinen Milieuschutz. Sie sind die Typen mit den sogenannten „Ecken und Kanten“. Davon leben sie. In der Schule und an der Uni waren die drei Brüder stets die Besten. Eher laut als leise. Eher autoritär als laisser-faire. Eher ungemütlich als allgemeinverträglich und hyperaktiv als cool. In unseren Schulen war der Klassenprimus aber noch nie beliebt. Man wollte viel lieber zu den Typen gehören, die, statt Mathe zu pauken, lieber im Fahrradkeller ein paar lustige Zigaretten rauchten. Die Samwers haben eine klare Vision: Rocket soll das Amazon oder Alibaba außerhalb der USA und Chinas werden. Ansonsten global natürlich. Klingt nach Weltherrschaftsfantasien und Größenwahn? Vielleicht. Aber so ist das manchmal mit Visionen. Groß denken ist auch eine Meisterschaft. Das kann nicht jeder.

In der Politik regiert derzeit eine große Koalition der Pragmatiker – von Charismatikern keine Spur. Man möchte scheinbar in diesem Land mit Merkel alt werden und hofft, dass sie uns noch lange lautlos diese ganzen schrecklichen Probleme vom Hals hält, von denen die Tagesschau immer berichtet. Referenzgröße für viele politische Entscheidungen in Deutschland ist die „alleinerziehende Mutter“ – auf keinen Fall die wirtschaftliche oder sonst irgendeine Elite. Und irgendwie gilt hierzulande immer noch der ebenso legendäre wie falsche Ausspruch von Altkanzler Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“

Im Internet und bei der Firma Rocket Internet passiert seit einigen Jahren genau das Gegenteil. Visionen sind bares Geld wert. Sehr viel Geld unter Umständen. Das sieht zumindest die Börse heute auch so. Bis jetzt verdient der Firmen-Ausbrüter noch kein Geld. Aber es gibt gute Ideen und viele begabte junge Leute. Das reicht vorerst, damit die Rechnung zumindest für die Samwers aufgeht. Mal schauen, wie es den Investoren in ein paar Monaten geht. In Frankfurt treiben sich jedenfalls eine Menge Menschen herum, die ziemlich gut rechnen können.

Visionen werden heute dringender denn je gebraucht in Deutschland. Zum Beispiel in den Industrien und Wirtschaftszweigen, die sich mit guten Ideen gegen das Eindringen der digitalen Welt in ihre bislang erfolgreichen Geschäfte wehren müssen, um zu überleben. Zum Beispiel in der Medienbranche. Natürlich auch in der Gründerszene, für die der Börsengang von Zalando und Rocket Internet als Signal wichtig ist, weil in Deutschland das Geld für junge Firmen fehlt.

Die Samwers zeigen uns, was für Typen gebraucht werden, wenn wir mit den rasanten Entwicklungen in der digitalen Branche auch nur ansatzweise Schritt halten wollen. Durchsetzungsstark, manchmal auch rücksichtslos und aggressiv, visionär sollten sie sein. Typen, die vor der Kamera gerne etwas verwirrt und ungelenk wirken dürfen, wie heute Oliver Samwer in TV-Interviews. Die bereit sind, mit ganz großen Ansprüchen und Plänen zu starten – und krachend damit zu scheitern, wenn es unbedingt sein muss. Das braucht eine Menge Mut. Wir brauchen jetzt alle deutlich mehr Mut für Veränderungen.

Bild: © panthermedia.net / Walter J. Pilsak