sebastian thrun udacity bertelsmann

Mit einem Bildungsportal die Welt verbessern

Berühmter Kerl, dieser Sebastian Thrun (47). In seinen Kreisen jedenfalls ein Begriff. Berühmt, ja, und bescheiden noch dazu, was eine sympathische Kombination ist. Nicht zu vergessen: Das Washingtoner Politik- und Strategiemagazin Foreign Policy hat den jugendlich wirkenden Gelehrten 2012 unter den „100 einflussreichsten Denkern der Welt“ auf Platz vier gesetzt – als einen der „weltweit führenden Experten für Robotik und künstliche Intelligenz“. Und die Credit Suisse gewann ihn im April für ihren Zürcher Verwaltungsrat.

Thrun ist der Herkunft nach ein Solinger, lebt aber seit vielen Jahren in Amerika. Nach dem Studium der Informatik, Medizin und Ökonomie in Hildesheim und Bonn nahm er eine Assistenzprofessur in Pittsburgh an, dem Bochum Pennsylvanias. 2003 wechselte er an die Stanford University im Silicon Valley, wo er ab 2007 das Amt eines ordentlichen Professors bekleidete, unter anderem das Direktorat des Artificial Intelligence Lab übernahm und sich bald einen Namen machte.

Nachdem ein von ihm entwickelter selbstfahrender VW Touareg einen Wettbewerb unter der Schirmherrschaft der US-Militärforschungsbehörde DARPA gewonnen hatte, waren die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page auf ihn aufmerksam geworden. Sie machten ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen wollte, und betrauten ihn mit dem Aufbau ihrer geheimen Forschungsabteilung Google X. Hier trug der Deutsche maßgeblich bei zur Weiterentwicklung selbstfahrender Autos, des Straßenfotografierdienstes Street View und natürlich der Rechnerbrille Google Glass, die er, Thrun, 2012 in einer US-Talkshow der Öffentlichkeit vorstellte.

Im selben Jahr noch verließ Thrun das Unternehmen und verselbstständigte sich mit der Internet-Bildungsakademie Udacity, die sich inzwischen auf Angebote zur beruflichen Weiterbildung konzentriert und gegen Studiengebühren auch Zeugnisse und Zertifikate vergibt. Im September hat sich der Gütersloher Medienkonzern Bertelsmann an Udacity mit einer zweistelligen Millioneneinlage beteiligt. Man hält Thrun für einen der Größten und die Wachstumsaussichten im Bildungssektor sowieso für eklatant.

Herr Thrun, was bedeutet das Kunstwort Udacity (mit der Betonung auf der zweiten Silbe)?

Es kommt von dem englischen Wort Audacity, das so viel heißt wie Wagemut. Es ist hier ein ganz geläufiger Ausdruck. Präsident Barack Obama hat zum Beispiel ein Buch geschrieben, das jeder kennt: The audacity of hope. Und wir haben uns für den Namen Udacity entschieden, weil das U am Anfang nicht nur für Universität steht, sondern auch für das U in Student.

Wie kamen Sie auf die Idee, Udacity zu gründen?

Die US-Universitäten gelten doch als die besten der Welt. Das Ganze begann 2011. Ich hielt damals mit meinem Kollegen Peter Norvig an der Uni Stanford die Vorlesung „Einführung in die künstliche Intelligenz“. Wir hatten eines Tages diese Vorlesung mit einer Kamera aufgezeichnet und ins Internet gestellt, weil wir glaubten, dass das Interesse an ihr recht groß sei. Normalerweise sitzen in unserem Hörsaal etwa 200 Studenten – was schon ziemlich viel ist für Stanford. Als wir unsere Vorlesung online stellten, hatten wir auf einmal 160.000 Zuhörer aus der ganzen Welt.

Und Sie fanden Nachahmer.

Zwei Stanford-Kollegen sind unserem Beispiel schnell gefolgt, auch sie hatten plötzlich 60.000 bis 80.000 Zuhörer. Das hat die Welt geradezu schockiert. Es war die Geburtsstunde der sogenannten MOOCs, der massive open online courses: Vorlesungen für alle. Wir hatten Zuhörer in Afrika, Asien, im Nahen Osten und in Europa. Die New York Times hat das Jahr 2012 zum „Jahr der MOOCs“ erklärt. Alle standen Kopf: Professoren, Studenten, Politiker, Journalisten. Die Frage, ob Universitäten, wie sie vor Jahrhunderten erfunden wurden, noch das sind, was wir heute brauchen, wird natürlich gerade im Silicon Valley gestellt, wo man kulturell nicht so sehr an europäische Bildungstraditionen gebunden ist.

Viele Professoren sehen das klassische Geschäftsmodell der US-Universitäten gefährdet. Ein Student in Stanford zahlt 52.000 Dollar im Jahr.

Hier ist kein Haus älter als 30 oder 40 Jahre. Wir sind sehr weit weg von Washington D.C., wir halten sehr wenig von Regulierung und sehr viel von freier Marktwirtschaft. Uns geht es wirklich um Innovation: Wie kann man die Welt besser machen? Diesen radikalen Willen, Themen neu anzugehen, gibt es hier stärker als sonst wo auf der Welt. Es gab in Stanford einige Diskussionen. Manche Kollegen und auch mein Dekan waren über MOOCs nicht glücklich und darüber, dass wir Vorlesungen kostenlos zur Verfügung stellten. Aber ich betrachte Bildung als ein Grundrecht, ähnlich wie das Recht zur persönlichen Entfaltung, auf Demokratie oder freie Meinungsäußerung. Ein kostenloses Studium wie in Deutschland ist eine feine Sache. Aber in den USA sind Studiengebühren ein großes Thema. Viele junge Leute verlassen die Uni mit 50.000 oder 100.000 Dollar Schulden.

Die Kosten werden mit der Qualität der Ausbildung begründet und damit, dass Absolventen guter Unis in der Regel auch schnell eine gute Stelle finden.

Stanford-Absolventen schon. Aber auch die sogenannten No-name-Unis verlangen locker 30.000 Dollar Gebühren. Das sind Schulden, die nicht selten ein Leben lang abgearbeitet werden müssen, zum Teil zu sehr überhöhten Zinssätzen. Das führt dazu, dass viele Uni-Abgänger gar keine Existenz mehr aufbauen können. Die derzeitige Situation der Hochschulen in den USA ist so nicht mehr haltbar. Ich glaube, dass es da ein radikales Umdenken geben wird in den nächsten Jahren. Ja, geben muss!

Zu Ihrem und dem Vorteil von Udacity.

Das hoffen wir. Ist es okay, den Leuten 50.000 Dollar und mehr abzuverlangen? Meiner Meinung nach nicht. Wir wollen nur das verlangen, was die Ausbildung wirklich kostet. Wer sich bei uns für einen Studiengang einschreibt und mit einem Nanodegree abschließen will, bezahlt 200 Dollar im Monat. Damit erreichen wir auch jene Leute, die es nie bis Stanford schaffen oder es sich nicht leisten können. Für mich spielt darüber hinaus aber eben auch der internationale Aspekt der Bildung eine sehr wichtige Rolle – also die Frage, wie wir jungen Menschen, etwa in den Krisenregionen dieser Welt, eine Perspektive eröffnen können.

Bitte wenden – hier geht’s zum zweiten Teil des Interviews.

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Sind Sie Geschäftsmann oder Weltverbesserer?

Thomas L. Friedman, der berühmte Kolumnist der New York Times, hat einmal geschrieben, dass eine bessere Ausbildung im Nahen Osten zu einer deutlichen Verminderung der Terrorgefahr führe. Für ihn wie für mich ist Terrorismus auch eine Folge der Perspektivlosigkeit junger Menschen.

Wenn sich das E-Lernen mit seinen Internet-Vorlesungen durchsetzte, dann stünde das Bildungssystem, wie wir es kennen, an seinem Ende.

Wenn jemand das Ende von etwas proklamiert, bin ich immer skeptisch. Das Telefon hat das Radio nicht überflüssig gemacht und das Kino nicht das Theater. Aber es wird, glaube ich, eine Ära geben, wo hochqualitative Ausbildung nicht nur sehr viel günstiger werden wird, sondern auch sehr viel erreichbarer. Wenn wir unsere Studenten fragen, warum sie Udacity lieben, antworten sie, dass man mit uns auch zu Hause studieren kann. Normalerweise muss ein Student viele Jahre buchstäblich zur Uni gehen und nicht selten dafür umziehen. Mit uns können Sie die Aus- oder Weiterbildung praktisch wie eine Freizeitbeschäftigung gestalten. Das ist ein völlig anderer Modus.

Die Praxis der Weiterbildung halten Sie geschäftlich für besonders vielversprechend?

Früher gab es den preußischen Modus, wonach eine einzige Ausbildung im Leben genügt. Meine Großeltern machten eine Ausbildung, die hat ihnen Arbeit beschert, und bei der sind sie dann ihr Leben lang geblieben. Das hat sich inzwischen gewaltig verändert. In den USA machen die Menschen im Schnitt sieben verschiedene Karrieren. Die durchschnittliche Anstellung dauert etwa viereinhalb Jahre. Und damit hat sich auch der Druck erhöht, sich weiter fortzubilden.

Im vergangenen Jahr überraschten Sie die Gilde mit der Aussage, dass Udacity ein „lausiges Produkt“ verkaufe. Was war schiefgegangen?

Ich stehe nach wie vor zu dieser Aussage. Der Anteil derjenigen, die einen unserer Kurse von Anfang bis Ende durchzogen, betrug weniger als zehn Prozent. Auf dem Stanford-Campus liegt dieser Anteil bei etwa 80 Prozent. Der Grund dafür war: Wenn unsere Studenten irgendwann Schwierigkeiten mit einer Aufgabe bekamen, fanden sie niemanden, der ihnen helfen konnte. Das ursprüngliche Konzept, einfach eine Vorlesung online zu stellen, war nach meiner Auffassung einfach nicht gut genug, um Leute auszubilden. Das war, was ich mit „lousy product“ meinte.

Nun haben Sie einen neuen Plan entwickelt?

Wir bieten das an, was man braucht, um hier im Silicon Valley einen Job zu bekommen. Und das ist etwas anderes als das, was die meisten Uni-Professoren anbieten, wie Kunst, Geschichte oder Literatur. Wir haben unser Angebot reduziert und offerieren nun ausschließlich Weiterbildungskurse wie Webprogrammierung oder Big- Data-Analyse. Amerikanische und internationale Firmen haben gerade auf diesen Gebieten einen wahnsinnig großen Bedarf an Leuten. Und dafür bieten wir nun auch unsere eigenen Abschlüsse an, die schon angesprochenen Nanodegrees. Und der große Unterschied zu früher ist nun auch: Wer sich für einen Nanodegree-Kurs einschreibt, kann jederzeit die Hilfe von Coaches in Anspruch nehmen. Unsere Absolventenquote liegt inzwischen bei über 80 Prozent.

Ihre Studenten bezahlen 200 Dollar im Monat. Lassen sich Ihre Abschlüsse dadurch refinanzieren?

Die Unterstützung für Nanodegrees seitens der Wirtschaft ist wirklich immens. Wir haben mindestens zehn Firmen, die die Entwicklung von Nanodegrees direkt fördern und finanzieren, und ungefähr weitere
30, die diese Nanodegrees als Ausbildungsäquivalent für ihre Angestellten akzeptieren. Das Telekommunikationsunternehmen AT&T hat zum Beispiel Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt, die nur Nanodegree-Absolventen vorbehalten sind. Und man darf nicht vergessen: Wir haben diese Abschlüsse erst in diesem Sommer eingeführt, und das auch nur in einem einzigen Fach: der Online-Programmierung. Wir hatten mit 200 Studenten gerechnet – und bekamen am Ende 8.000 Bewerbungen.

Die Fortbildung bei Udacity dauert nur rund sechs Monate.

Der Gedanke ist, dass man es schnell machen kann und sich zu einem späteren Zeitpunkt noch mal neu ausbilden lässt. Der große Teil unserer Nutzer hat bereits eine Ausbildung. Aber sehr oft halten diese Ausbildungen einfach nicht mehr so lange vor wie früher, weil sich der Stoff nicht selten rasant verändert. In der Informatik, schätze ich, ändert sich alle sieben Jahre praktisch fast alles: Techniken, Computersysteme, Programmiersprachen. Nach sieben Jahren ist nahezu alles, was man weiß, veraltet.

Das gilt auch für die Lehrenden selbst. Bei Udacity unterrichten keine Professoren mehr?

Im Durchschnitt sitzen Universitätsprofessoren 35 Jahre auf ihren Lehrstühlen, und in dieser Zeit unterrichten sie meist das Gleiche. Nein, wir engagieren für Udacity größtenteils Praktiker aus den Firmen, mit denen wir arbeiten, wie Facebook, Google oder Salesforce. Wir profitieren sehr stark von der Industrie. Wir sind quasi die Universität des Silicon Valleys.

Ist es Ihnen schwergefallen, dafür Ihre Arbeit bei Google aufzugeben?

Im Gegenteil. Als ich darum gebeten hatte, bei Google aufzuhören, um Udacity aufzubauen, hat Sergey mich überredet, eine Zeit lang zumindest noch einen Tag in der Woche zu Google X zu kommen. Das habe ich auch gemacht. Aber in diesem Sommer, nach zwei Jahren, wurde mir klar, dass ich mich voll auf meine Firma konzentrieren muss.

Dieser Artikel erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe der BILANZ.

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