christoph gerber
Talon.One-Gründer Gerber: Zweifel an manchen Tagen

Eigentlich könnte Christoph Gerber ganz entspannt sein. Mit Lieferando hat er einen der größten Exits der jüngeren deutschen Startup-Geschichte hingelegt, beim folgenden Börsengang der neuen Mutter Takeaway hat er ausgezeichnet verdient. Jetzt hat er ein neues Unternehmen gegründet, ist also Seriengründer, was soll schon noch groß schiefgehen?

Gerber sitzt im Aufenthaltsraum des Büros seines neuen Startups, fünfter Stock, abgewetzter Gewerbehof in Berlin-Kreuzberg, und sagt: „Natürlich zweifelt man an manchen Tagen.“ Ist die Idee gut genug? Gibt es einen Markt? Warum hat das noch keiner versucht? Wo ist der Haken?

Es sind solche Fragen, die Gerber umtreiben, obwohl er inzwischen 31 ist und mit seinem ersten Unternehmen eine sechsjährige Startup-Achterbahnfahrt mit allen denkbaren Höhen und Tiefen hinter sich hat. Es ist fast wie 2009, als sie bei Lieferando immer wieder zu hören bekamen: Kein Idiot wird übers Internet Essen bestellen! Kam ja dann doch etwas anders.

Erfahrung aus der Lieferando-Zeit: „Das war ein wildes Massaker“

Sein neues Startup heißt Talon.One, es soll eine Software-as-a-Service-Lösung verkaufen, mit der Unternehmen ihre Promotion-Aktionen besser verwalten können: Sie können damit Empfehlungsmarketing-Aktionen abwickeln, Angebote an treue Kunden dirigieren oder Gutschein- und Rabatt-Kampagnen verwalten. Talon.One bietet für all diese Funktionen ein einziges Backend.

Das Produkt baut auf Erfahrungen aus Gerbers Zeit im Lieferdienstvermittler-Geschäft auf. „Bei Lieferando haben wir Groupon als Marketing-Kanal genutzt, das war im Prinzip super, aber wir hatten anfangs keine Methodik, um das zu kontrollieren. Das war ein wildes Massaker.“ Manchmal werden die Gutschein-Codes des Startups in allen möglichen Foren verbreitet, dann müssen sie verzweifelt versuchen, die Löcher zu stopfen, bevor es ernsthaft teuer wird. Talon.One verspricht seinen Kunden nun, dass sie die Kontrolle behalten können.

„Man kann Budgets einstellen für Kampagnen, nur bestimmte Mitarbeiter mit Rechten zum Freischalten ausstatten“, erklärt Gerber. „Das Marketing kann alles machen, was es will.“ Dazu gehört auch, unterschiedliche Regeln für eine Kampagne definieren zu können: Das Unternehmen kann einen 20-Prozent-Gutschein herausgeben für eine bestimmte Person, und wenn der nun von jemandem eingelöst wird, für den der Gutschein nicht gedacht ist, gibt es für diesen Käufer immerhin noch fünf Prozent Rabatt.

Seine Kunden, und das ist tatsächlich neu für Gerber, sind also Unternehmen. Es ist ein B2B-Geschäft, da gelten andere Gesetze. Zum Beispiel ist der Verkaufsprozess ungleich länger: Bei einem Online-Portal wie Lieferando dreht man einfach etwas an der Online-Marketing-Schraube und innerhalb kurzer Zeit strömen die Nutzer auf die Seite. Bei Firmenkunden kann es schon mal ein halbes oder ganzes Jahr dauern, bis ein neues Unternehmen „geclosed“ ist.

Gerber ist bei Talon.One eigentlich CEO, aber im Moment auch noch erster Verkäufer. „Die ersten 20, 30 Kunden will ich selbst abschließen. Um zu verstehen, was die Issues sind. Technisch könnten wir auf 1.000 Kunden skalieren, aber das würde im momentanen Setup keinen Sinn machen, jetzt geht es um maximales Learning.“

Ich finde es nicht geil, 300 Leute unter mir zu haben

Neben Gerber besteht das Gründerteam aus COO Sebastian Haas, der zuvor das (unter anderem von Christoph Gerber finanzierte) Startup RapidApe gegründet und an ProSiebenSat.1 verkauft hat, außerdem CPO Martin Wartig, früher Produktmanager bei Lieferando/Takeaway, sowie CTO Lukas Hartmann, ebenfalls kein Startup-Neuling, er hat die Kollaborationssoftware Spacedeck gestartet, die auch von Gerber finanziert wurde.

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Blick ins Talon.One-Büro mit COO Sebastian Haas (rechts)

Sie haben Talon.One im Dezember 2015 gegründet und dann etwas über ein Jahr den Kopf runtergenommen, im „Stealth-Modus“ das Produkt entwickelt. Finanziert wurde die Aufbauphase durch eine Seed-Runde, in der zwei Millionen Euro von Friends and Family sowie zwei australischen VCs flossen, sowie mit Fördergeldern der Berliner Investitionsbank.

Das Team ist jetzt 17 Leute stark, allein 13 davon sind Entwickler. Das ist für ein Startup von anderthalb Jahren nicht gerade viel. Aber Gerber will die Mannschaft lieber klein und schlagkräftig halten. „Ich will keine maximal große Organisation“, sagt er. „Manche messen ihren Erfolg ja über Headcount. Ich finde es nicht geil, 300 Leute unter mir zu haben. Das ist für mich eine absolute Horrorvorstellung.“

Noch so ein Learning. „Wir haben eine relativ moderate Burn-Rate“, sagt Gerber. Selbst, wenn Talon.One jetzt keinen Cent mehr wachsen würde, könnten sie 18 Monate bei gleicher Teamgröße durchhalten. Bei Lieferando hatten sie „mehr als einmal“ kein Geld mehr, Entscheidungen, die man unter solchen Liquiditätszwängen treffen muss, sind selten nachhaltig. Einmal mussten sie auf einen Schlag 40 Prozent der Leute entlassen. Bei Gerbers neuem Startup wird jede Einstellung lange abgewogen und genau hinterfragt. Gerber holt ausschließlich Leute mit sieben, acht Jahren Berufserfahrung, Praktikanten arbeiten keine hier.

Ein Quantensprung wie vom Text Editor zu Office

Inzwischen kann das Startup knapp ein Dutzend Kunden vorweisen, E-Commerce-Startups, aber auch große Food-Unternehmen gehören dazu. Sie zahlen für unterschiedlich große Pakete vier- oder fünfstellige Beträge im Monat – unabhängig von der Größe der Kampagnen, die gefahren werden. Ein Unterschied zu den – wenigen – vorhandenen Konkurrenten. Zu denen gehört etwa ReferralCandy. Keine echte Gefahr, glaubt Gerber. Wer von der Referral-Marketing-Software auf Talon.One umsteige, für den sei das wie ein Sprung vom Text Editor zu Microsoft Office, wirbt der Gründer.

Der größte Wettbewerber sei in Wahrheit „das internal good enough“, also die eigene hausgemachte Lösung, mit der die meisten Unternehmen arbeiten. Das macht es Gerber auch so schwer, genau zu beziffern, welche Größe der Zielmarkt für Talon.One hat. „Wie groß ist der Markt für Promotion? Ich weiß es nicht, ich glaube, er ist groß genug.“

Es ist eine Wette. Mit gehörig viel Risiko. Eigentlich klassisches Startup-Geschäft. Vielen Investoren aus Deutschland fehle aber dafür die Phantasie, klagt der Gründer. „Ein Großteil der deutschen VCs hat ein Problem damit, das big picture zu erkennen, sie schauen zu wenig auf die großen Trends.“ Sie finanzieren die x-te Variante eines bekannten Geschäftsmodells als einen echten Moonshot, bei dem unklar ist, ob daraus was wird und wenn ja, wie groß das werden könnte.

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Gerber als Lieferando-Chef mit den Mitgründern Kai Hansen (links) und Jörg Gerbig (Mitte)

„Hätten wir bei Lieferando nur deutsche VCs gehabt, hätten wir den Laden nach ein paar Jahren an Lieferheld verkauft und zwar für die Hälfte des Preises, den Takeaway gezahlt hat“, glaubt Gerber. Stattdessen kam das wichtigste Investment von einer australischen Private-Equity-Firma, Macquarie. Die hätten das Startup „auf einem ganz anderen Niveau unterstützt und angetrieben“. Die deutschen Investoren entschieden sich nach dem Exit an Takeaway allesamt dazu auszucashen – anstatt Anteile am Käufer zu übernehmen. „Bis zum IPO hätten sie ihren Einsatz innerhalb von zwei Jahren versechsfachen können.“ (Gerber hatte letztere Option gewählt.)

Für den Talon.One-Gründer ist das ganze ein kulturelles Defizit, das nicht bei deutschen VCs endet. Er erzählt von einem Treffen mit dem Head of Digital and Innovation eines großen deutschen Handelsunternehmens, vor dem er Talon.One gepitcht hat. Die Antwort des Konzern-Manns: Kommt in zwei Jahren wieder, wenn ihr fünf Dax-Unternehmen als Kunden habt. „Warum?“, ärgert sich Gerber. „Wie bist du Head of Digital and Innovation geworden?“ Manchmal hat der Gründer den Eindruck, er sitze „einer Armee von kleinen Strombergs gegenüber“. Wenn er in den USA einen Bekannten nach einem Intro zu Macy’s frage, finde er sich zwei Tage später in einem Google Hangout mit dem richtigen Ansprechpartner wieder.

Warum hat er dann eigentlich wieder in Deutschland gegründet? Gerber hätte in Australien bleiben können, wo er 2015 und 2016 mehrere Monate verbracht und die Arbeit an Talon.One begonnen hat. „Ich habe mein Netzwerk hier, fühle mich in Berlin wohl.“ Und: „Alleine unsere Personalkosten wären im Valley vier, fünf Mal so hoch. Dann hätten wir zehn Millionen Euro gebraucht, um da zu sein, wo wir jetzt sind.“ In letzter Konsequenz, sagt Gerber, würde das Unternehmen aber in die USA gehen. Wenn alles gutgeht, natürlich.

Bild: Talon.One

 

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Christoph Gerber ist Speaker bei der Heureka-Konferenz 2017. Tickets für die Veranstaltung am 20. Juni gibt es hier.