Wer prüfen will, ob er den Hype um das Netzwerk Jodel verstanden hat, sollte folgenden Test machen: Einfach seinen Großeltern mal erklären, wie das soziale Netzwerk funktioniert. Ein Jodel-Nutzer schrieb kürzlich von dem Versuch. Als er seiner Oma erzählte, er schreibe sich Nachrichten mit Leuten, die er nicht kenne, habe sie nur gefragt: „Hast du keine Freunde?“ Mir ging es fast ähnlich. Als ich vor neun Monaten von der erfolgreichen App las, war mein erster Gedanke nur: „What the hell…?“

Okay, das grundlegende Prinzip von Jodel ist schnell erklärt. Es handelt sich bei der App um ein anonymes, lokales Netzwerk, in dem sich von Nutzern gepostete Beiträge hoch- und downvoten lassen. Ich kann also den Menschen in meiner Nachbarschaft, in einem Umkreis von zehn Kilometern, eine öffentliche Nachricht schicken – ohne meinen Namen zu nennen. Vorbild ist das amerikanische Yik Yak. Vor allem Studenten in Städten wie Göttingen, Münster und Aachen sollen die App lieben. Offen bleibt die Frage: Was macht den Reiz dieses Netzwerkes wirklich aus?

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Aus Neugier lud ich also die App herunter. Voller Verwunderung bin ich alle paar Tage durch die Timeline gescrollt. Nach etwa neun Monaten, ein paar eigenen Jodelposts und etwa 5.000 sogenannten Karmapunkten bin ich etwas schlauer – und verbringe täglich ungefähr eine halbe Stunde in der App:

Erfolgsfaktor 1:  Spielwiese für Flachwitze und Herzschmerz

Jodel ist eine Gegenbewegung. Längst stehen in anderen sozialen Netzwerken Oberflächlichkeiten im Mittelpunkt – auf Facebook wird der neue Job oder die Hochzeit geteilt und entfernten Bekannten zum Geburtstag gratuliert, bei Instagram lässt sich der Grillabend und das neue Sommerkleid festhalten. Jodel hingegen ermöglicht die unbeschwerte, alberne Kommunikation. Es fühlt sich wie Facebook in den frühen Jahren an.

Niemand muss bei Jodel Angst haben, dass vielleicht ein zukünftiger Arbeitgeber oder die Eltern lesen, wie der Student Anfang und Mitte zwanzig sein Leben mit Feiern, Kater, Lernen und One-Night-Stands verbringt. Gefühlsmäßig zwischen Einsamkeit, Liebesschmerz und Selbstfindung. Ein Beispiel aus den vergangenen Monaten verdeutlicht diese neue Offenheit gut – so schrieb eine Jodel-Nutzerin: „Ich bin schwanger. Wie soll ich es meinem Freund sagen?“ Eine Intimität zwischen Fremden, die es sonst nur noch selten im Netz gibt.

Beherrscht wird das Netzwerk allerdings von Flachwitzen und Alltagsgeschichten. Eine Kostprobe?

„Eben auf dem Klo den Sack eingeklemmt, weil ich mit iPhone gespielt habe. Leise gewimmert. Zufällig Shazam gedrückt. Wer ist Philipp Poisel?“

Oder:

„Hallo, auf Jodel verkaufen ist schwer… aber ein Freund von mir hat 2 Karten für das EM-Spiel Deutschland-Polen und hat jetzt erst gemerkt, dass er am selben Tag heiratet. Braucht jmd von euch einen Anzug größe 46?“

Dabei stammen viele Jokes nicht einmal ursprünglich von Jodel selbst, sondern sind aus anderen Netzwerken herübergeschwappt. Dieses Scrollen zwischen den verschiedenen Sprüchen macht süchtig. Ein Medium hat es einmal mit einer digitalen Toilettentür verglichen. Das passt.

Nach mehreren Monaten habe ich auch erkannt, für welchen Humor die Community offen ist. Mein erfolgreichster Post:

„Stehe Samstagabend an der Kasse – mit Gin und Tonic. Das Mädchen hinter mir will zwei grüne Smoothies kaufen. Unsere Blicke kreuzen sich kurz – voller Mitleid für den jeweils anderen.“

Wer diesen Humor nicht teilt, sollte es mit Jodel gar nicht erst versuchen.

Erfolgsfaktor 2: Homogene Gruppe

Bei den Jodel-Nutzern handelt es sich um eine sehr homogene Nutzergruppe, das wird schnell klar. Als beispielsweise die rechte Partei AfD in drei Landtage einzog, gab es in dem Berliner Jodel-Channel so gut wie keine Kommentare, die für die AfD stimmten – im Gegenteil. Das hätte ich bei einem anonymen Netzwerk nicht erwartet. Es scheint – zumindest gilt das für den Berliner Kanal – das Klischee zu stimmen, dass es wenig rechte Studenten gibt.

Denn das verbindende Glied dieser Jodel-Gemeinschaft ist nicht nur die Nachbarschaft, sondern vor allem die Uni. Die App richtet sich schon in der Ansprache speziell an Studenten. Es ist eine dankbare Zielgruppe, da sie in ihrer Lebensphase ähnliche Fragen umtreiben. Es lässt sich vortrefflich über die Mensa ablästern oder über das Lernen ärgern. Ortsbezogene Nachrichten, etwa zu Kontrolleuren oder beliebten Events, gibt es ebenfalls. Sie funktionieren in kleineren Studentenstädten etwa Münster und Göttingen sehr viel besser als in Berlin.

Auf insgesamt eine Millionen Nutzer in mehreren europäischen Ländern verwies das Netzwerk Ende des vergangenen Jahres. Wie viele davon wirklich aktiv sind, verrät das Startup nicht. Auch eine durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer ist nicht bekannt. Den Posts nach zu urteilen, gibt es auf jeden Fall einige Heavy-Nutzer.

Erfolgsfaktor 3: Neue Sortierung für mehr Unterhaltung

Wie viele soziale Netzwerke hat auch Jodel erst kürzlich einige seiner Nutzer vor den Kopf gestoßen. Die Jodel-Posts werden in der Standardeinstellung nicht mehr chronologisch angezeigt, sondern durch einen Algorithmus sortiert. Populäre Post bleiben länger oben als früher.

In zahlreiche Posts meckerte die Community gegen die neue Sortierung. Alexander Linewitsch, Head of Product bei Jodel, verteidigt den Schritt: „Mit steigender Popularität und Wachstum stehen wir vor verschiedenen Herausforderungen“, schreibt er Gründerszene auf Nachfrage. Eine davon sei es, die Posts für die Jodler relevant zu halten. „Die Sortierung ist dabei ein Experiment von vielen, in dem wir versuchen, Erkenntnisse zu gewinnen“, sagt Linewitsch.

Auch wenn ich manche kritische Stimmen verstehen kann, geht die neue Sortierung in eine gute Richtung. In dem Kanal mit einer chronologischen Sortierung sind viel zu viele belanglose Einträge dabei. Gerade wenn ich in einer kurze Pause nach Entertainment suche, erwarte ich eine intelligente Anordnung.

Erfolgsfaktor 4? Woher soll das Geld kommen…

Die Jodel-Macher sind bei der Frage nach der Monetarisierung fast genervt. „In Deutschland ist das immer extrem wichtig, in anderen Ländern spielt die Frage aber kaum eine Rolle“, sagte Tim Schmitz, Geschäftsführer von Jodel, kürzlich gegenüber WiWo Gründer. Doch das ist nur eingeschränkt richtig, auch in den USA beispielsweise pochen die Investoren verstärkt auf das Thema Profitabilität.

Das Netzwerk aus Berlin postet bereits Job-Gesuche über seinen Channel. Der sogenannte Teampost enthält eine Mail-Adresse, die sich aber nicht verlinken lässt. Ein erster Testballon für ein Werbeformat? Nein, sagt Linewitsch. Diese prominent platzierten Teamposts würden sie häufiger verwenden. „War ganz aus Eigeninteresse, um begeisterte Jodler anzusprechen, die sich vorstellen könnten, sich unserem jungen Team anzuschließen“, teilt der Produktchef mit. Doch die Werbeformat könnten so aussehen, besonders sexy wäre das nicht.

Aus Vermarktungssicht ist eine homogene Zielgruppe an einem bestimmten Ort höchst interessant, gerade für lokale Händler oder um Studentenparties zu promoten. Gleichzeitig müsste es das Netzwerk schaffen authentisch zu bleiben.

Erstmal muss es das Netzwerk allerdings schaffen, sich weiterhin als feste Größe eines sozialen Netzwerkes zu etablieren. Gerade bei Studenten kann ein Hype auch schnell wieder enden. Auch für den Fall, dass die aktuelle Jodel-Generation plötzlich einen Job hat – und keine Zeit mehr für Scherze über das BVG-Racing-Team und den Berliner Club Matrix (typische Jodel-Insider…) hat. Ich bleibe solange auf jeden Fall dabei.

Bild: Georg Räth / Gründerszene