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Für Amazon-Gründer Jeff Bezos gibt es nur einen Weg, ein Unternehmen richtig zu führen: Man muss besessen sein. Besessen von Tempo, von der Sache, vor allem aber: besessen von den Kunden. Auf nur drei Seiten, geschrieben in einem Stil irgendwo zwischen Predigt und Management-Handbuch, fasst er programmatische Weisheiten im Aktionärsbrief 2017 zusammen.

Das wichtigste Stichwort lautet „Tag 1“. Erfolgreiche Firmen dürften den Gründer-Spirit nie verlieren. Andernfalls drohe eine Perspektive mit durchaus höllischen Zügen: „Tag 2 bedeutet Stagnation. Dann folgt Bedeutungslosigkeit. Dann folgt unerträglicher, qualvoller Niedergang. Dann folgt der Tod. Darum muss es immer um Tag 1 gehen.“

Bezos’ Bekenntnisse kann niemand vom Tisch wischen. Dazu ist er viel zu erfolgreich. Ganze Branchen zittern, wenn Amazon dazu ansetzt, neue Märkte zu erobern – derzeit etwa der deutsche Lebensmittelhandel.

Dynamik nicht unmöglich für Konzerne

Persönlich hat Jeff Bezos es zum zweitreichsten Menschen auf dem Globus nach Microsoft-Gründer Bill gebracht. Die Bloomberg-Milliardärsliste taxierte sein Vermögen zuletzt auf schwer vorstellbare 75,6 Milliarden Dollar.

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Drive und Dynamik zu halten sei leicht für Startups und schwer für Konzerne, aber nicht unmöglich, sagt Bezos. Der 53-Jährige scheint wild entschlossen, Amazon auch im Jahr 22 der Unternehmensexistenz daran messen zu lassen. „Wir können die Form und Fähigkeiten eines Großunternehmens haben und trotzdem den Spirit und das Herz einer kleinen Firma. Aber wir müssen uns dazu entscheiden“, schreibt er.

Des Hohelied vom Kunden klingt bei Bezos so: „Kunden sind immer wunderbar und wundervoll unzufrieden, selbst wenn sie berichten, sie seien glücklich und alles sei toll.“ Häufig wüssten sie selbst nicht, dass sie etwas Besseres wollten, und dann müssten Unternehmer eben in ihrem Namen etwas Neues erfinden.

„Kein Kunde hat je darum gebeten, das Amazon Prime-Programm zu schaffen, aber es hat sich herausgestellt, dass es gewollt ist. Ich könnte vieler solcher Beispiele nennen“, so der Amazon-Gründer.

Auf das Ergebnis kommt es an

Dann folgt – weiterer Grundsatz – eine eindringliche Mahnung zur Konzentration auf das Wesentliche. So seien Ergebnisse wichtiger als das Einhalten von vorgesehenen Management-Prozessen. Skepsis zeigt Bezos gegenüber Marktforschung und Umfragen. Es bestehe die Gefahr, dass sie im Bewusstsein der Entscheider zu einer Art künstlichem Ersatz für die authentischen Kunden würden.

Gute Produktentwickler vertrauten eher auf ihr Bauchgefühl oder anekdotische Aussagen als auf den Durchschnitt, der sich notwendigerweise in Umfragen widerspiegele. Er sei nicht grundsätzlich gegen Umfragen, sie könnten Lücken aufdecken. „Aber eine bemerkenswerte Kundenerfahrung beginnt mit Herz, Intuition, Neugier, Spiel, Mut, Geschmack. Nichts davon findet man in Umfragen“ – es ist Bezos’ Plädoyer für Authentizität.

Außerdem gelte es, die großen Trends der Zeit aufzugreifen. Als Beispiel greift der Konzernchef die künstliche Intelligenz heraus. Amazon setze sie in praktischen Projekten um, darunter autonome Drohnen, ein experimentelles Geschäft ohne Kassen in Seattle („Go Convenience“) und die sprachgesteuerte Internet-Verbindung unter dem Namen Alexa.

Solche Megatrends seien nicht schwer zu erkennen, es werde viel darüber geschrieben und gesprochen. „Wenn Du Dich dagegen stemmst, bekämpfst Du wahrscheinlich die Zukunft. Nimm’ sie auf, und Du wirst Rückenwind spüren“, empfiehlt der Amazon-Chef.

Anleihen bei Henry Ford

Schließlich komme es darauf an, Entscheidungen schnell zu treffen – und sie im Zweifelsfall eben auch schnell wieder zu revidieren, wenn sie sich als falsch herausstellten. Für die meisten Entscheidungen müsse man sich mit 70 Prozent der Informationen zufrieden geben, die man eigentlich gerne hätte. „Wenn Du wartest, bis 90 Prozent zur Verfügung stehen, wirst Du wahrscheinlich zu langsam sein“, warnt Bezos. Um schnell zu sein, müsse man es auch schaffen, sich hinter eine Entscheidung zu stellen, wenn man nicht mit ihr einverstanden sei. „Ich selber mache das ständig“, schreibt der Multimilliardär.

Kürzlich habe er grünes Licht für eine Produktion der Film- und TV-Produktionssparte Amazon Studios gegeben, obwohl er nicht davon überzeugt gewesen sei – einfach, weil es zu lange gedauert hätte, wenn das Team ihn hätte überzeugen müssen. Immerhin spreche einige dafür, dass seine Leute meist richtig lägen – unter anderen elf Emmys und drei Oscars.

Nicht alle Erkenntnisse von Bezos sind freilich brandneu. Schon Henry Ford (1863 bis 1947) hat erkannt, dass gute Produktentwickler sich nicht auf Umfragen und nicht einmal auf explizite Kundenwünsche verlassen sollten, sondern auf ihre Intuition. „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: ,schnellere Pferde’“, erklärte er einmal. Stattdessen ließ er das massentaugliche Auto bauen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt Online.

Bild: Brent Lewis/Getty, Grafik: Die Welt