DFKI-SB-20120623
DFKI-SB-20120623 Der DFKI-Standort in Saarbrücken

Dieses Auto, gelb und kaum größer als ein Daumennagel, ist für Wolfgang Wahlster der Beweis, welch gewaltige Revolution er da mit seinen Leuten angezettelt hat. Das Auto fährt wie von einem Geist gelenkt, ohne Fahrer, es nimmt präzise jede Kurve, bremst vor jeder Kehre, weicht Hindernissen aus. Wahlster schaut auf einen Bildschirm, der vor ihm steht, und sagt: „Noch vor wenigen Jahren wäre das unmöglich gewesen.“

Ein Tempolimit einhalten, nur bei Grün fahren, das konnten auch gewöhnliche Computerprogramme, schon vor Jahren. Aber denken, das konnten sie nicht. Das war Science-Fiction, etwas für Spinner oder Hollywood-Regisseure, vielleicht noch für Programmierer oder Nerds, etwas für Männer wie Wahlster.

Jetzt gibt es Hochleistungsrechner, die irrwitzig viele Daten in ein Abbild der Wirklichkeit verwandeln können. Und jetzt lernen Computer zu denken, lernen antrainierte Reflexe des Menschen nachzuahmen, etwa im Straßenverkehr. Das kleine gelbe Auto auf dem Bildschirm vor ihm belegt das.

„Dafür“, sagt Wahlster, „brauchen Sie künstliche Intelligenz.“

Deutsche wurden Stars der internationalen IT-Branche

Was er nicht sagt, weil der 63-Jährige Forscher mit der randlosen Brille, der mehr wie ein deutscher Mittelständler und weniger wie ein Supernerd wirkt, ein eher bescheidener Mensch ist: Dass er und seine Mitarbeiter diese weltweite Revolution mit ins Werk gesetzt haben.

Sie haben überlegt, geforscht, entwickelt, sie haben dazu beigetragen, dass Computer heute Autos lenken können, dass Roboter in Fabrikhallen selbst ihre Wartung planen und Computer Bilder in sozialen Netzwerken für Blinde übersetzen können oder sich mit Nutzern unterhalten können, als wären sie Menschen. So wurden Wahlster, Chef des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken, und seine Leute zu Stars der internationalen IT-Branche.

Internet, Computer, das verbinden die Leute meist mit dem Silicon Valley. Dort wurden aus kleinen Firmen Milliardenkonzerne, die heute fast schon so etwas wie Weltmächte sind: Amazon, Google, Facebook, Apple. In Deutschland hat die Internetrevolution keine Internet-Giganten hervorgebracht.

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Portrait_Wahlster_Photo_by_Jim_Rakete Wolfgang Wahlster

Deutsche Wissenschaftler gelten als gut in der Grundlagenforschung, doch das Geld mit diesem Wissen verdienen fast immer die anderen, vor allem die Amerikaner. So dachte man. Und nun ist da ein deutsches Institut, das so viele Ideen hat, wie man das bisherige Wissen über künstliche Intelligenz im Alltag nutzen kann. Und wie man damit Geld verdient.

Google hat Millionen Euro in das DFKI investiert

Plötzlich hat ein Konzern wie Google das DFKI entdeckt. Die Chefs wollten Partner von Wahlsters Forschungs-Unternehmen werden, das wollten sie in Deutschland bisher nie. Google hat dafür Millionen Euro in das DFKI investiert und ist nun der erste US-Konzern unter den 17 Unternehmens-Partnern.

Dann, im Mai, kam ein weiterer Riese: VW. Auch er will mitmachen. Auch er steckt nun Geld in die DFKI-Forschung und bekommt dafür einen Sitz im Aufsichtsrat, wie Google.

Es ist ein deutsches Märchen, das denkt auch Wahlster manchmal. Es beginnt im Jahr 1988, als der Informatikprofessor an der Universität des Saarlandes gleich drei Landesregierungen vom Potenzial der künstlichen Intelligenz überzeugen kann – zu einem Zeitpunkt, als die Technologie noch völlig ohne praktischen Nutzen ist, da damalige Computertechnik auf Basis von Siemens-Großrechnern zur Datenanalyse Tage oder Wochen benötigt.

Neuronale Netze bereiteten den Weg

Drei kleine Bundesländer, Rheinland-Pfalz, Bremen und das Saarland, gründen damals zusammen mit mittelständischen Firmen ein Institut für Computerforschung. Es soll an zwei Standorten eine Niederlassung haben: in Kaiserslautern und Saarbrücken.

28 Jahre später hat das DFKI mehr als 800 Mitarbeiter und das richtige Gespür. Wahlster und seine Kollegen experimentieren schon früh mit einer Technologie, die sich im Nachhinein als der Wegbereiter zu intelligenten Computern erweist: neuronale Netze. Sie wollen damit Spracherkennung ermöglichen.

Doch die Technologie, die sie erforschen, kann viel mehr: „Mehrschichtige neuronale Netze sind eine Grundlage für selbstlernende KI-Programme, die aktuell im Strategiespiel Go siegen, Bildinhalte erkennen, Sprache verstehen oder in sozialen Netzwerken Emotionen klassifizieren“, sagt Wahlster.

Und dann ging alles schnell.

Dann sagte in Amerika ein Mann, dass die Autos, die seine Firma Tesla baute, künftig ohne Fahrer fahren würden. Dann begannen einige Firmen, die lernenden Computer in ihren Fabrikhallen, im Marketing oder im Krankenhaus einzusetzen. Dort planen sie die eigene Wartung, finden unzufriedene Kunden in sozialen Netzwerken oder durchsuchen Krankenakten von Millionen Krebspatienten auf Hinweise für Heilmittel.

Und plötzlich ist, was eben noch als Spinnerei galt, der Wettbewerbsvorteil im globalen Kampf um Marktanteile, weit über die IT-Wirtschaft und die Autobranche hinaus. Wahlster und seine Leuten sind mittendrin, bereit für den Erfolg.

VW will Forschung der künstlichen Intelligenz voranbringen

„Künstliche Intelligenz ist eine Schlüsseltechnologie für das autonome Fahren und damit eine Investition in unsere Zukunft“, sagte Volkswagen-Chef Matthias Müller, nachdem er sich beim DFKI eingekauft hatte. „Wir wollen die KI-Forschung in der Autobranche und darüber hinaus voranbringen.“

Wahlster und seine Forscher haben zum Beispiel in Kaiserslautern mit dem US-Traktorhersteller John Deere den Prototyp einer Fabrik entwickelt, die per künstlicher Intelligenz gesteuert wird: Roboter optimieren selbstständig die Produktion, Arbeiter bekommen Entscheidungshilfen von einer künstlichen Intelligenz.

Dafür müssen Hochleistungsrechner mit Daten umgehen können, die völlig unstrukturiert sind: Sensordaten von Maschinen, Wetterberichte, Spracheingaben von Arbeitern in der Werkhalle oder Kundenanfragen in sozialen Netzwerken. Gewöhnliche Computerprogramme können das nicht. Sie basieren meist auf sogenannten Wenn-dann-Beziehungen: „Wenn die Ampel rot ist, muss ich anhalten – das lässt sich leicht programmieren“, erklärt Damian Borth, Leiter des Kompetenzzentrums „Deep Learning“ in der DFKI-Filiale in Kaiserslautern.

Borth forscht daran, wie künstliche Intelligenz die reale Welt sehen und verstehen kann. Seine Lern-Algorithmen sollen künftig etwa Fußgänger auf der Straße vor dem Auto erkennen oder den emotionalen Inhalt von Bildern erschließen.

„Deep Learning“ wurde reif für den praktischen Einsatz

Diese Programme sind so komplex, dass ein Mensch sie nicht von Hand schreiben kann. Daher werden Computer künftig für ihre Aufgaben trainiert. Damit ändert sich die Kunst des Programmierens grundlegend.

Künstliche Intelligenz sucht in Daten nach Mustern, die sie bereits kennt. „Diese Mustererkennung lässt sich nicht einfach programmieren“, erklärt Borth. „Vielmehr muss der Computer anhand von Trainings-Datensätzen, die wir bereits einmal vorsortiert haben, lernen und seine Lernergebnisse mit unserer Sortierarbeit abgleichen und überprüfen.“

Dazu setzen die Forscher auf neuronale Netze – hintereinander geschaltete mathematische Filter, die die Daten durchsieben und so Strukturen erkennen. Die künstliche Intelligenz lernt, indem sie Datenwerte immer wieder in die mathematischen Gleichungen einer Filterschicht einsetzt, durchrechnet und ausprobiert, mit welcher Gewichtung die Rechenergebnisse in die Gleichungen des nächsten Filters eingehen soll.

Wenn ein Netz aus Dutzenden hintereinander durchgerechneten Filtern bei der Analyse eines Hundebildes anschließend das Ergebnis „Hund“ ausspuckt, wird die Gewichtung beibehalten, andernfalls verworfen. Je mehr Bilder mit bekannten Inhalten zur Kontrolle zur Verfügung stehen, desto genauer kann ein neuronales Netz trainiert werden.

Diese Technik bezeichnen die Forscher als „Deep Learning“. Bekannt ist sie bereits seit den 80er-Jahren, doch fordert das Training neuronaler Netze immense Rechenleistung – deswegen galten sie bis vor wenigen Jahren als in der Praxis unanwendbar.

2012 jedoch kamen verschiedene Forschungsteams weltweit gleichzeitig auf die Idee, moderne 3-D-Grafikkarten des Herstellers nVidia für das Training einzusetzen: Die Matrizen-Mathematik hinter den neuronalen Netzen ist relativ einfach, muss aber milliardenfach wiederholt gerechnet werden – damit gleicht sie den Formeln hinter der Simulation von 3-D-Welten in Spielen. Auf diese Weise war das Training der Computer plötzlich um mehrere Potenzen schneller möglich, die Technik reif für den praktischen Einsatz.

Der Computer erkennt Emotionen, er hat einen Geschmack

Wahlster und seine Forscher am DFKI setzen bereits seit den frühen 90er-Jahren auf neuronale Netze – damals programmierten sie entgegen aller Unkenrufen aus der Forschergemeinschaft die Spracherkennung „Verbmobil“ auf Basis der Technik. Heute bringt ihre frühe Expertise in der Schlüsseltechnik den entscheidenden Vorsprung, der die US-Firmen anlockt.

Nvidia schenkte den DFKI-Forschern Ende September als ersten Forschern in Europa einen DGX1-Supercomputer mit den neuesten Chips des Unternehmens: „Die besten KI-Forschungseinrichtungen sollen über die beste Technologie verfügen“, kommentiert Chef Jen-Hsun Huang bei der Übergabe in Amsterdam – auch sein Konzern hofft auf neue Erkenntnisse aus dem Austausch mit den DFKI-Forschern.

Wie gut die künstliche Intelligenz des DFKI bereits die reale Welt wahrnehmen kann, demonstriert Borth in seinem Labor in Saarbrücken anhand von Videomaterial aus dem Fotodienst Flickr: Während auf seinem Bildschirm ein Video läuft, kommentiert der Computer in Echtzeit, was er sieht.

Er schreibt in irrwitzigem Tempo auf den Schirm: „Schöne Straße“, „düstere Stadt“, „stürmisches Meer“, „sonnige Stadt“. Der Computer erkennt Emotionen in den Bildern, er hat einen Geschmack. Er hat es gelernt. Die Computer-Flüsterer haben es ihm beigebracht.

Assistenten auf Pixel-Smartphones treten in einen Dialog

Es sind solche Dinge, die das DFKI für Giganten wie Google so interessant machen. Wer erkennen kann, was genau die Nutzer der Tech-Konzerne in deren Diensten und sozialen Netzwerken veröffentlichen, der kann individuell darauf eingehen – und etwa passende Werbung zu fröhliche Hundebildern der Nutzer stellen oder Hass-Postings automatisch finden und löschen.

Google setzt auf seinen neuesten, im Oktober herausgebrachten Pixel-Smartphones einen intelligenten Assistenten ein, der den Nutzer als allwissende Stimme durch den Alltag begleitet – aktuell auf dem Smartphone, später im Auto, über intelligente Lautsprecher im Haushalt, überall. Das System soll nicht nur programmierte Antworten beherrschen, sondern mit dem Nutzer in einen echten Dialog treten.

Das ist nur möglich, wenn der Assistent auch emotionale Inhalte oder Bezüge auf frühere Gespräche erkennt. „Der Assistent lernt mit jedem Gespräch dazu, und jeder Nutzer baut mit jeder neuen Anfrage sein persönliches Google“, sagt Google-Vorstandschef Sundar Pichai. Damit wird jeder Nutzer künftig zum Trainer seiner persönlichen künstlichen Intelligenz.

Die Methoden des DFKI sind im Alltag angekommen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Welt.

Artikelbild: DFKI; Bild im Text: Jim Rakete