<> on December 29, 2010 in Berlin, Germany.
<> on December 29, 2010 in Berlin, Germany. Daniel Domscheit-Berg

An einem Montagnachmittag liegt der Retter der Welt in einem Bett, das wie eine Schaukel sachte unter einem Baum hin und her schwingt. Ein Mann mit dunklem Vollbart, alles an ihm ist schwarz: Hornbrille, Poloshirt, Hose. Er starrt versunken in den Laptop, der auf seinem Bauch steht.

Und die Retterin der Welt öffnet die Haustür, führt den Besuch zur Bettschaukel. Eine zierliche Frau mit angegrauten Haaren, auch sie ganz in Schwarz, begleitet von einem fetten, roten Kater, der Gustav heißt und wie Garfield aussieht. Die Frau geht vorbei an einem Baum, dessen Stamm sie mit selbst gehäkelten Spitzen ummantelt hat, vorbei an Komposthaufen, einem Insektenhotel, Gemüsebeeten, einer 15.000-Liter-Zisterne und einem riesigen Trampolin zu dem Baum, unter dessen Krone ihr Mann hängt.

Das hier, eine Villa Kunterbunt in Brandenburg, ist das neue Leben von Anke und Daniel Domscheit-Berg, Deutschlands bekanntestem Aktivistenpaar. Zurückgezogen, ruhig, ganz anders als früher. Vor fünf Jahren sind sie vor ihrem alten Leben aufs Land geflohen, es war ihnen zu schnell und zu verrückt geworden: die WikiLeaks-Zeit, in der Daniel Domscheit-Berg und Julian Assange mit ihrer Enthüllungsplattform im Mittelpunkt des Weltgeschehens standen.

Nun sieht es so aus, als hätten die Domscheit-Bergs Kraft gesammelt für ihren nächsten Versuch, die Welt zu verändern. Sie will im kommenden Jahr in den Bundestag einziehen. Er will mit einer neuen Firma das Internet revolutionieren und das Monopol der Deutschen Telekom beenden. Deutschland, so sein Plan, soll ein flächendeckendes Breitbandnetz bekommen.

Seit 2010 keinen Kontakt mehr mit Assange

Anke Domscheit-Berg sagt, so schön das Schaukel-Bett auch sei, sie würden das Interview lieber in der Küche geben. Es gibt viel zu besprechen, WikiLeaks, die neue Firma, die Flüchtlingskrise; Pläne, Politik und Liebe.

WikiLeaks wird in dieser Woche zehn Jahre alt, Daniel Domscheit-Berg hatte die Enthüllungsplattform zu seiner Sache gemacht, aber heute will er damit nichts mehr zu tun haben. Er hat vor fünf Jahren ein Buch über seine Zeit bei der „gefährlichsten Webseite der Welt“ geschrieben, damit sei doch alles gesagt. Gründer Assange sitzt seit vier Jahren im selbst gewählten Exil in der ecuadorianischen Botschaft in London. Vergangene Woche kündigte er in einer Videobotschaft neue Enthüllungen an, die angeblich den US-Wahlkampf beeinflussen werden.

Daniel Domscheit-Berg verdreht die Augen, wenn man ihn darauf anspricht. Es sei traurig, was aus Assange und WikiLeaks geworden sei, sagt er. „Als ich mich Assange 2007 anschloss, hatten wir beide den moralischen Anspruch, die Welt zu verbessern und Verbrechen ans Licht zu bringen, die die Öffentlichkeit wissen muss.“ Das klappte anfangs: WikiLeaks deckte auf, wie isländische Banker sich an Kunden bereicherten und Schweizer Banker Kunden beim Steuerbetrug halfen. WikiLeaks hat einen Korruptionsskandal in der kenianischen Regierung aufgedeckt und ein Video veröffentlicht, in dem ein US-Militärhubschrauber im Irak zwei Journalisten und einen unbewaffneten Familienvater abschießt.

Domscheit-Berg seufzt. „Heutzutage ist WikiLeaks eine Plattform, auf der Leute versuchen, Wahlen zu beeinflussen oder die Geschicke der Welt zu manipulieren.“ Gerüchten zufolge sollen die Russen WikiLeaks mit Informationen über die USA infiltriert haben. Domscheit-Berg sagt, er wisse nicht, ob das stimme. Er habe keinen Kontakt mehr mit Assange, seit 2010 nicht, als die beiden sich zerstritten und er ausstieg.

Beide wussten: So kann es nicht weitergehen

Wie es dazu kam, dazu gibt es zwei Versionen. Assange sagt, Daniel Domscheit-Berg habe ihn hintergangen und verraten. Domscheit-Berg sagt, Assange sei immer paranoider geworden und habe sich so autoritär und intransparent verhalten wie die Institutionen, die er bekämpfen wollte. In seinem Buch schrieb er: „Manchmal hasse ich ihn so sehr, dass ich Angst habe, ich könnte körperliche Gewalt ausüben.“ Heute sagt er: „Er tut mir leid.“

Das Jahr 2010 war auch in anderer Hinsicht ein Neuanfang. Denn da lernte er seine Frau kennen, in einem Falafelladen in Berlin-Mitte. Ein Bekannter stellte sie einander vor: „Das ist der WikiLeaks-Daniel, das ist die Microsoft-Anke.“ Daniel Berg, geboren 1978, aufgewachsen im Westen, ein Computer-Programmierer, der gerade dabei war, mit seinem Kampf für eine gerechtere Welt zu scheitern.

Und Anke Domscheit, geboren 1968, aufgewachsen im Osten, eine Managerin, der es ähnlich ging. In zahlreichen Initiativen hatte sie für die Frauenquote in Aufsichtsräten gekämpft und eine Bewegung angeführt, die mehr Transparenz von der Bundesregierung und der Verwaltung forderte. Neben einem Vollzeit-Job viel zu viel für eine Person. Zumal wenn man wie Anke Domscheit damals erzog und zwei Burn-outs hinter sich hatte.

Sie trafen sich in einem Moment ihres Lebens, in dem beide für sich entschieden hatten: So kann es nicht weitergehen. Und sie trafen in dem anderen jemanden, der die gleichen Ziele verfolgte, nur mit anderen Werkzeugen.

Nachtigall statt besoffener Briten

Sie sagt heute: „Wir wollten beide eine transparentere, fairere Gesellschaft. Ich hab mit der Top-down-Strategie versucht, auf Unternehmen, Politik und Verwaltung Einfluss zu nehmen. Daniel hat mit der Bottom-up-Strategie versucht, durch Enthüllungen Transparenz herstellen, wenn es die Institutionen nicht freiwillig tun.“

Er sagt: „Ich habe mich noch nie in jemanden verliebt, der ein ebenso großer Überzeugungstäter ist wie ich. Anke ging es andersherum wohl genauso.“ Fünf Tage nach der ersten Begegnung zog er bei ihr ein, neun Tage später verlobten sie sich, vier Monate später waren sie verheiratet.

Die beiden verabschiedeten sich dann von ihren alten Leben. Ihr neues hat viel mit der Villa zu tun: Sie war so günstig, dass sie keine Jobs annehmen müssen, die ihnen nicht gefallen. Beide lebten zuletzt hauptberuflich von Vorträgen, Auftritten im Fernsehen und vom Schreiben. Zudem ist das Haus mit 400 Quadratmetern groß genug.

Sie sagt: „Nachts hören wir hier die Nachtigall singen. In meiner Berliner Wohnung auf der Oranienburger Straße waren es besoffene Briten.“

Er sagt: „Ich habe immer von einem Haus geträumt, das Menschen offen steht.“

Offenes WLAN-Netz für Flüchtlinge

Die aus Sicht der anderen im Dorf anfangs etwas wunderlichen Domscheit-Bergs haben sich gut integriert. Er ist zu einer Art Peter Lustig von Nordbrandenburg geworden. Im Erdgeschoss hat er eine Zukunftswerkstatt eingerichtet, wo er Kindern aus der Umgebung Programmieren beibringt, sie mit seinen 3-D-Druckern und dem Lötgerät experimentieren lässt.

In der Küche trifft sich regelmäßig ein Strickzirkel, den Anke Domscheit-Berg mit ihrer Begeisterung fürs „politische Guerillastricken“ angesteckt hat. Das meint: „Mit einer originär weiblichen Arbeit öffentlichen Raum erobern.“ Im vergangenen Jahr haben die Frauen die Bäume im Stadtpark umstrickt, dieses Jahr stricken sie Wintersachen für die Flüchtlinge im Ort. In einer Küchenecke stehen drei Kisten voll mit Pullis, Schals und Mützen. 300 Teile.

Die Flüchtlingskrise ist in der Villa der Domscheit-Bergs ein großes Thema, auch davor. Jeden Tag sitzen Flüchtlinge mit ihren Handys auf der Bordsteinkante, sie nutzen das offene WLAN-Netz der Domscheit-Bergs. Und in der obersten Etage der Villa haben im vergangenen Jahr etwa vier Dutzend Flüchtlinge gewohnt. Einige ein paar Tage, manche Wochen, eine vierköpfige syrische Familie blieb ein halbes Jahr.

Eigentlich wollte das Paar die obere Etage als reguläre Flüchtlingsunterkunft anmelden. „Aber die Bürokratie hat uns irre gemacht“, sagt Anke Domscheit-Berg. Es laufe so vieles schief bei der Flüchtlingsintegration, sagt auch er. Im Ort wurden zwei Millionen Euro in ein Flüchtlingswohnheim investiert, das jetzt zur Hälfte leer steht. „Gleichzeitig fehlt Geld für Sprach- und Integrationskurse – alles komplett ineffizient.“

Kampf um Direktmandat gegen Steinmeier

Die negative Stimmung im Land, die Unfähigkeit der Politik, den Leuten klarzumachen, dass eine Million Flüchtlinge für eine Nation von 80 Millionen kein Problem sein sollten, mache sie krank, sagen sie beide. Deswegen hat sich Anke Domscheit-Berg in Brandenburg als freie Kandidatin der Linkspartei zur Bundestagswahl aufstellen lassen. Viele haben das belächelt, nach dem Motto, die Domscheit-Berg wechsle ihr Parteibuch wie andere die Unterwäsche.

Sie war mal passives Mitglied der Grünen, stieg 2012 gemeinsam mit ihrem Mann bei den Piraten ein und zwei Jahre später wieder aus. Beide sagen, die Piraten seien ihnen nicht progressiv genug gewesen. Viele hätten sich bloß für Vorratsdatenspeicherung interessiert. Sie aber wollten die Vision einer digitalen, basisdemokratischen Gesellschaft entwerfen, neue Formen der Arbeit, der Bildung und soziale Reformen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen.

So ist das bei den Domscheit-Bergs immer: groß oder gar nicht. Sie sind Idealisten, sie können nicht mit Leuten, die faule Kompromisse machen. Insofern ist das mit den Linken ein spannendes Experiment. Wenn Anke Domscheit-Berg denn gewählt wird. Sie müsste einen guten Platz auf der Liste der Partei bekommen, das entscheidet sich bald. Oder sie holt das Direktmandat, da aber ist Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ihr Gegner. Sie sagt: „Er ist Umfragen zufolge der beliebteste Politiker des Landes, das wird eine Herausforderung.“

Er sagt: „Wenn es jemand schafft, dann Anke.“ Beiden ist klar, dass damit ihr plüschiges Hippie-Leben zumindest vorübergehend endet. Auch die Anfeindungen werden sicher nicht weniger: Und dann ist da ja auch noch sein Programm zur Weltveränderung: Die Sache mit dem Breitbandinternet. Auch das wird Zeit und Nerven kosten. Er greift eine Firma an, die geübt darin ist, sich Wettbewerber vom Hals zu halten.

Internet in Schweden bis zu hundertmal schneller

Die Sache kam so: Vor einer Weile zogen die Domscheit-Bergs einen Werbeprospekt der Telekom aus ihrem Briefkasten. „Vectoring ist die Zukunft“ stand da drauf. „Vectoring ist nicht die Zukunft, sondern eher die Braunkohle der Kommunikationstechnologie“, sagt sie. Es bedeutet, dass die Telekom zwar Glasfaserkabel durch ganz Deutschland legt, Tausende Kilometer lang, und dafür hohe Subventionen vom Staat kassiert.

Nur leider haben die Deutschen wenig davon. Denn die letzten Meter vom Anschlusskasten zur Wohnung müssen die übertragenen Daten durch alte Kupferleitungen nehmen. Die Technik, sagt Daniel Domscheit-Berg, sei störungsanfällig, verbrauche mehr Strom und sei viel langsamer als ein echter Breitbandanschluss. Er hat die Telekom mal gefragt, was ein Glasfaseranschluss ins Haus kosten würde: „500 Euro“, er stößt verächtlich Luft durch die Nase, „pro Monat.“

Also hat er einen Mann angerufen, den die Schweden Breitband-Jesus nennen. Der wird ihn bei seiner Revolte unterstützen. Der Breitband-Jesus heißt eigentlich Jonas Birgersson, Domscheit-Berg kennt ihn aus anderen Internet-Projekten. Birgerssons Firma ViaEuropa ist der Grund, warum in Schweden heute vier von zehn Haushalten einen schnellen Breitbandanschluss haben. In Deutschland ist es ein Haushalt von 100.

In Schweden ist es, anders als in Deutschland, nicht einer einzigen Firma überlassen, die Netze auszubauen. Stattdessen machen es die Kommunen selbst und verdienen ordentlich daran. ViaEurope hilft ihnen bei der Planung und bringt Internetanbieter und Kunden zusammen. So, sagt Domscheidt-Berg, koste das Internet etwa so viel wie in Deutschland, sei aber bis zu hundertmal schneller.

„Das stinkt doch zum Himmel“

Warum, denkt er sich, soll nicht in Deutschland klappen, was in Schweden bestens funktioniert?

Die Domscheit-Bergs haben mit dem Breitband-Jesus eine deutsche Tochterfirma gegründet. Vor drei Wochen haben sie das Projekt vorgestellt, seitdem seien sie von Kommunen mit Anfragen bombardiert worden. „Die Frustration über die Telekom, die mit ihrer Quasi-Monopolstellung überhaupt keinen Anreiz hat, ein zukunftsfähiges Netz aufzubauen, ist enorm groß“, sagt Daniel Domscheit-Berg.
Erst vor Kurzem sei durch eine parlamentarische Anfrage der Linkspartei ans Licht gekommen, dass Telekom-Chef Tim Höttges in den vergangenen Jahren sieben Treffen mit der Bundeskanzlerin und 45 Treffen mit Ministern oder Staatssekretären hatte – nur Bahn-Chef Rüdiger Grube kam auf noch mehr Termine. „Das stinkt doch zum Himmel“, sagt er, und sie nickt. Zwei Menschen mit einer Mission.

Und so schaffen es die Domscheit-Bergs, selbst dem durch und durch kapitalistischen Akt einer Unternehmensgründung einen politischen Überbau zu geben: Unrecht beseitigen, Transparenz schaffen, die Welt retten. Darunter machen es die Domscheit-Bergs nicht.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Welt Online

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