Ein Beitrag von Alexander Graf, Geschäftsführer von Spryker Systems, Gründer von eTribes und Autor des Blogs Kassenzone.de.

Der Börsengang von Windeln.de war eines der Highlights 2015 für die E-Commerce-Szene. Die Kursentwicklung seit der Notierung im Mai ist enttäuschend (minus 40 Prozent) und die Diskussion über das Geschäftsmodell wird bisher recht einseitig geführt. Im Aktionär heißt es „Die Windel ist zu voll!“ und bei Excitingcommerce wird in den Kommentarenspalten klar, dass die Bewertung der Aktie eine Glaubensfrage zu sein scheint.

Es gibt zur Zeit zwei wesentliche Faktoren, die für eine Bewertung ausschlaggebend sind. Primär muss man sich die Frage stellen, ob ein klassisches Handelsmodell wie Windeln.de mit circa 100 bis 150 Millionen Euro Umsatz in der Lage sein wird, in Zalando-ähnliche Umsatzregionen vorzustoßen – oder ob es am Ende doch von Amazon verdrängt wird, weil die Produkte zu trivial sind, beziehungsweise die notwendigen Skaleneffekte (Verhandlungsmacht mit Marken, eigene Lager, IT-Team und so weiter) nicht erreicht werden können.

Zur Zeit sehe ich nicht, wie das Geschäft ausreichend Rendite generieren soll, um das notwendige Wachstum zu finanzieren. Solange Windeln.de die 500 Millionen oder sogar die Eine-Milliarde-Euro-Grenze im Umsatz nicht durchschritten hat, bin ich skeptisch. Das Geschäftsmodell ist sehr trivial und ich sehe wenige, nicht rabattgebundene Elemente, die zur beschworenen Kundenbindung beitragen. Die Zahlen in der Q1-Präsentation finde ich auch wenig aufschlussreich: Es wird nicht dargestellt, wie hoch die Kundengewinnungs- und Aktivierungskosten der einzelnen Kohorten sind.

Soweit ist die Diskussion recht bekannt und man kann sich hier vortrefflich über die Prognosen zu den Kosten streiten. Viel spannender ist im Fall von Windeln.de die Abhängigkeit von chinesischen Markt. Etwa 50 Prozent der Umsätze sind diesem Markt zuzuordnen und je nach Quellenlage dürfte dort die Marge erheblich besser sein als in Deutschland – was spannende Fragen zum Windeln.de-Geschäftsmodell aufwirft.

Bei der Agentur Factor-a, einem eTribes-Spin-Off zur Amazon- und Tmall-Optimierung, treffen zur Zeit recht viele Anfragen zum Aufbau von E-Commerce-Geschäften bei der Alibaba-Tochter Tmall.com ein. Das nehme ich zum Anlass einen genaueren Blick auf das China-Phänomen zu werfen.

E-Commerce-Strukturen sind in China in den letzten Jahren schneller gewachsen als in allen anderen Ländern der Welt zusammen. Mit 350 Milliarden Dollar Online-Umsatz im Jahr 2014 und einem Cross-Border-Anteil von 5 bis 15 Prozent (je nach Quelle) stellt der chinesische Markt so ziemlich alles in den Schatten, was wir kennen. In vielen Segmenten gibt es Wachstumsraten von 100 Prozent pro Jahr und die Nachfrage nach „westlichen“ Marken in China führt natürlich zu diversen Handelsopportunitäten.

Die hat Windeln.de frühzeitig erkannt und in China einen Absatzarm etabliert. Das hört sich schwieriger an, als es ist. Es reicht zur Zeit sich auf die Alibaba-Tochter Tmall.com zu konzentrieren, über die etwa 60 bis 70 Prozent des kompletten chinesischen Onlinehandels abgewickelt werden. TMall hat in den letzten 24 Monaten erhebliche Anstrengungen unternommen, um das Angebot von ausländischen Marken zu erhöhen. Je nach Risikoaffinität kann man über Importpartner verkaufen oder direkt eine Entität in China aufbauen.

Je größer man handelt, desto eher wird die Variante mit eigenem Lager vor Ort sinnvoll. Windeln.de hat das Geschäft aber anders strukturiert und tatsächlich direkt an chinesische Endkunden verkauft, wobei Importpartner wie zum Beispiel 8europe.com die tatsächliche Abwicklung übernommen haben dürften. Es gibt dutzende Seiten in China, die erklären, wie man bei westlichen Internetseiten bestellen kann. Man kann es sich in etwas so vorstellen wie die deutsche E-Commerce-Landschaft vor zehn Jahren: kunterbunt, viele Akteure und noch mehr Hoffnungen. Das Misstrauen in chinesische Handelsstrukturen durch Vorkommnisse wie den Milchskandal sitzt noch tief. Tief genug, um achtstellige Umsätze bei einem Händler wie Windeln.de zu erzeugen. Das führt zu spannenden Fragen:

#1 Kann Windeln.de weiterhin auf die misstrauischen Kunden aus China hoffen?
Der Milchskandal ist schon sehr alt (2008) und die „chinesischen“ Wachstumsraten bei Windeln.de sind zumindest bis zum Börsengang beeindruckend. Windeln.de hat eine direkte Kundenbeziehung und dürfte in der Lage sein, mittelfristig auch in diesem Markt zu wachsen. Gegen ein langfristiges Wachstum spricht aber, dass andere Händler den Exportprozess nach China bereits stark optimieren (Amazon zum Beispiel) und Tmall natürlich divesere Qualitätssicherungssysteme einführt, die sich aber vor allem an Hersteller richten, die Tmall zur Zeit massiv anwirbt. Das Geschäft mit den chinesischen Kunden ist also endlich.

#2 Wäre der Umsatz auf Tmall stabil beziehungsweise führt er zu stabilen Kundenbeziehungen?
Aus meiner Sicht liegt die Kundenbeziehung bei Tmall. Der Umsatz hängt also am Angebot und nicht am Händler. Sollte ein anderer Händler, womöglich der Hersteller selbst, die Produkte auf der Plattform anbieten, dann verlagert sich der Umsatz auf andere Händler. Ich halte einen Vergleich mit Amazon Marketplace Partnern für angebracht. Man nimmt deren Angebote gerne an, wenn Preis und Verfügbarkeit stimmen – aber gekauft wird am Ende über Amazon.

#3 Kann das chinesische E-Commerce-Wachstum grundsätzlich ein Treiber für Windeln.de sein?
Das E-Commerce-Wachstum in China ist weiterhin sehr groß. Neue Sortimente, neue Kunden, bessere Ausschöpfung – alles Dinge, die für ein weiteres Engagement in China sprechen. Windeln.de braucht dafür allerdings einen proprietären Zugang zu nachgefragten Produkten. Ob ihnen ein ähnlicher Coup wie beim Milchpulver noch einmal gelingen kann, ist offen. Optionen bieten sich aber sehr viele.

Linke Grafik: Exporte aus China: (3,5 Milliarden RMB)
Rechte Grafik: Importe nach China: 98 Prozent CAGR

#4 Hat Windeln.de einen Wettbewerbsvorsprung mit dem Chinageschäft?
Das Unternehmen hatte in den letzten Jahren auf jeden Fall einen Vorsprung. Der Börsengang und die damit einhergehende Veröffentlichung der Chinastrategie dürfte aber diverse Wettbewerber auf den Plan rufen. Zudem vereinfacht Tmall permament den Marktzugang und am Ende dürfte die Plattform direkte Deals mit den Herstellern machen. Analog läuf es ja auch bei Amazon. Der Wettbewerbsvorsprung mag heute da sein, aber er ist nicht stabil und kann noch für ein bis zwei Jahre für „Pioniererträge“ sorgen.

In der Diskussion mit Dienstleistern, die Exportgeschäfte nach China aufbauen, wird Windeln.de zwar gelobt, aber alle Gesprächspartner halten diese Strategie für endlich. Es wäre zwar durchaus möglich, dass Windeln.de seine Präsenz dort ausbaut und mit seinem aktuell bestehenden Vertrauen Eigenmarken schafft. Dafür ist aber sehr viel Kapital notwendig, dass laut Börsenprospekt in die Europaexpansion gesteckt werden soll.

Es ist vorstellbar, dass das Geschäft von Windeln.de auch in China langfristig funktionieren kann, aber dafür muss viel mehr als die beim Börsengang eingesammelten 100 Millionen Euro Kapital bereitgestellt werden. In einem Gründerszene-Interview hat Konstantin Urban auf die Frage nach dem richtige Zeitpunkt des Börsengangs geantwortet:

Genau kann man das wohl erst rückblickend in zwei Jahren sagen. Momentan ist es eine gute Zeit, um private Runden zu machen. Bei dem Markt weiß man nie, wie er sich entwickeln wird. Dann wiederum ist es müßig, sich diese Frage zu stellen. Wir haben 100 Millionen Euro mit diesem Börsengang eingenommen – so, wie wir es wollten. Nun liegt es an uns, damit unsere weiteren Ziele zu erreichen. Es hängt aber auch davon ab, ob die Börse an unseren Wachstumskurs glauben wird. Wir wollen jetzt europäische Märkte zumachen, dafür braucht man Kapital und das schlägt zunächst auf die Profitabilität. Das ist in Deutschland immer ein Problem, da sich alle nur auf kurzfristige Profitabilität fokussieren.

In unserem E-Commerce Buch haben wir Windeln.de als einen der 25 Business Cases ausgewählt und kommen zu folgender Bewertung:

windeln-diagrammWindeln.de kann aus unserer Sicht ohne Weiteres als exzellentes Beispiel für einen Pure-Player genannt werden. Alle operativen Themen scheinen auf hohem Niveau gelöst zu werden, was die Entwicklung der wesentlichen KPIs auch widerspiegelt. Wir fragen uns allerdings, ob die gewählte Nische groß genug ist, um dauerhaft Kunden binden zu können. Warum sollten die Kunden in Zukunft die Produkte bei Windeln.de kaufen und nicht bei Amazon? Zudem spricht die Wahl der Domain gegen eine starke Ausweitung des Sortiments in den Kinder- und Jugendbereich hinein. Ein Problem dem Notebooksbilliger.de und Buch.de auch gegenüberstehen. Spanned zu beobachten ist in diesem Zusammenhang die Eigenmarkenstrategie von Amazon (Amazon Elements), die 2015 und 2016 neue Bewegung in den Markt bringt.

Ich bleibe bei meiner Einschätzung, dass man im aktuellen Marktumfeld etwa einen Euro pro avisiertem Zielumsatz-Euro benötigt. Für ein 500-Millionen-Euro-Umsatz-Geschäft braucht Windeln.de also noch um die 300 bis 400 Millionen Euro Kapital. Das weicht erheblich vom eingesammelten Kapital ab – China hin oder her.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Grafs Blog Kassenzone.

Titelbild: © panthermedia.net / TongRoFoto Lewis Lee