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Werbeaktion für Amazon Prime Now in England

Solche Zahlen sind tödlich. Die amerikanische Analysefirma Bespoke Investment Group hat einen Aktienindex mit dem aussagestarken Titel „Death by Amazon“ erstellt. In dem Index sind 54 US-Einzelhandelskonzerne aufgelistet, deren Geschäftsmodelle von Amazon nach Einschätzung der Experten bedroht sind, darunter renommierte US-Firmen wie Best Buy, Nordstrom oder WalMart. Mitte Juli lag der Wert dieser Firmen an der Börse zusammengenommen um 70 Milliarden Dollar niedriger als zu Jahresanfang.

Vielleicht hatte Drogerieketten-Gründer Dirk Rossmann diese Zahlen vor Augen, als er sich zur Kooperation mit Amazon entschloss. Nach dem Motto „Mach Dir zum Verbündeten, wen Du nicht schlagen kannst“ haben die Drogeriegruppe und der Online-Gigant einen Pakt für den Schnell-Lieferservice Prime Now vereinbart.

Die Lebensmittel-Zeitung hatte darüber zuerst berichtet. Nach Informationen der Welt sind die Verhandlungen praktisch abgeschlossen, so dass die offizielle Bekanntgabe voraussichtlich noch diese Woche erfolgt.

Der Pakt hat das Zeug, den deutschen Einzelhandel weit über die Drogeriemärkte hinaus umzukrempeln. Denn die großen deutschen Lebensmittelhändler sind zu Amazon auf Distanz gegangen, vor allem seitdem die Amerikaner versuchen, mit ihrem Angebot „Fresh“ in das Feld von Rewe, Edeka und den Discountern einzudringen.

Doch nun ist es Amazon erstmals gelungen, mit Rossmann einen großen deutschen Händler als Partner zu gewinnen – und das in einem Bereich, den Fachleute als „Near Food“ bezeichnen. Das sind Artikel für den täglichen Gebrauch im Haushalt oder bei der Körperpflege, die im Supermarktregal oft in der Nähre von Lebensmitteln stehen.

Digitalisierung stellt alle Marktstrukturen infrage

Auch im Wettkampf unter den Drogerieketten um die Marktführung ergibt sich nun eine neue Konstellation. Bisher liegt Rossmann-Rivale dm beim Umsatz in Deutschland mit 7,5 Milliarden Euro (2016) fast anderthalb Milliarden vorn, obwohl Rossmann mit mehr als 2050 Filialen über rund 200 Standorte mehr verfügt. „Das Beispiel zeigt, dass die Digitalisierung vermeintlich eingefahrene Marktstrukturen ganz neu in Frage stellt“, sagte Moritz Hagenmüller, Leiter des Bereichs Konsumgüter bei der Beratungsfirma Accenture Strategy.

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Die Zusammenarbeit könnte dem Amazon-Partner nun jedoch zusätzlich Schub geben. „Rossmanns Reichweite wächst erheblich. So könnte das Unternehmen Schwächen im Süden Deutschlands wettmachen, wo Müller und dm deutlich stärker sind“, sagte Bianca Casertano, Handelsanalystin bei Plant Retail.

Ohnehin ist der gesamte Drogeriemarkt stark in Bewegung geraten. Erst vor wenigen Wochen hat Lebensmittel-Marktführer Edeka eine enge Verbindung mit der Hamburger Drogeriekette Budnikowsky vereinbart – mit weitem Abstand die Nummer vier auf dem deutschen Markt. Die Kooperation ist Kern eines Plans von Edeka, künftig jährlich mindestens 50 neue Drogeriemärkte zu eröffnen.

Das wird nun schwieriger. Die Zusammenarbeit zwischen Amazon und Rossmann soll in Berlin starten und eventuell später auf München ausgedehnt werden. Vorgesehen ist zunächst offenbar, rund 17.000 Artikel ins Angebot aufzunehmen. Rossmann legt nach dem Plan die Preise und das genaue Sortiment fest, während Amazon für den digitalen Vertrieb und die Logistik sorgt.

Drogerieartikel sind eine Art Einstiegskategorie

„Gewinner der Zusammenarbeit könnte der Kunde sein, der von einem größeren Angebot, schnelleren Lieferungen und vielleicht günstigen Preisen profitieren könnte“, erwartet Hagenmüller. Für Amazon ist es zudem strategisch günstig, dass Drogerieartikel eine Art Einstiegskategorie für das wichtigere und größere Lebensmittel-Angebot darstellen.

So möchte nach einer Umfrage der Beratungsfirma AT Kearney die große Mehrheit der Konsumenten in Deutschland frische Lebensmittel zwar noch nicht im Internet bestellen. Drei von vier Bundesbürgern kaufen Äpfel, Salat oder Fleisch nach wie vor nur im stationären Handel, der Umsatzanteil der Online-Käufe dümpelt bei rund einem Prozent.

Allerdings ist die Zurückhaltung bei Wasch- und Reinigungsmitteln, Hygieneartikeln und Körperpflege sehr viel geringer. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, solche typischen Drogerieartikel regelmäßig im Netz zu ordern. Sollten die Gewöhnung sich auf frische Lebensmittel übertragen lassen, würde die Zusammenarbeit Amazon einen Vorteil in einem Marktsegment bringen, bei dem es um viel geht.

Jeder Prozentpunkt mehr Online-Umsatz entspricht einem Geschäftsvolumen von 1,9 Milliarden Euro. Marktkenner rechnen nun mit einem baldigen Durchbruch für den digitalen Verkauf von Lebensmitteln in Deutschland und einem Anstieg des Online-Marktanteils, der in Großbritannien bereits rund fünf Prozent erreicht hat.

Rossmann profitiert durch den Einblick in Kundendaten

Vor diesem Hintergrund sei die Zusammenarbeit für beide Unternehmen ein Gewinn, ist sich Casertano sicher: „Rossmann wird zum Beispiel durch den Einblick in Kundendaten profitieren, die dem Unternehmen bisher nicht zugänglich waren. Amazon Prime erhält ein viel breiteres Sortiment bei Drogerieartikeln.“

Bisher konnten die beiden neuen Partner in dem Bereich nicht gerade mit Erfolgen glänzen. Rossmanns eigenes Online-Geschäft kommt nach früheren Angaben von Einkaufs- und Marketing-Chef Raoul Rossmann gerade mal auf 28 Millionen Euro Umsatz bei einstelligen Wachstumsraten. Gemessen am gesamten Konzernumsatz von 8,4 Milliarden Euro im vergangenen Jahr ist die Größenordnung mikroskopisch klein. Amazon hatte bis 2013 mit dm kooperiert, doch versandete die Allianz wohl auch wegen mangelnden Erfolgs.

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Diesmal ist alles anders, glaubt Hagenmüller. Rossmann suche die Zusammenarbeit auf strategischer Ebene und betrachte Amazon eben nicht nur als reinen Vertriebskanal. Umgekehrt legte sich Amazon für Deutschland auf einen Partner für ein bestimmtes Warensegment fest.

Weitere Partnerschaften werden folgen

Dieses Muster könne als Blaupause für andere Warenbereich dienen: „Dass Amazon auch mit Händlern kooperiert, ist bekannt. Aber die hier vermutete Dimension ist bemerkenswert – und ich kann mir gut vorstellen, dass weitere Partnerschaften folgen werden“, sagte der Accenture-Stratege.

Vom Online-Händler entwickele sich Amazon derzeit stark zu einer Plattform, über die andere ihre Geschäfte abwickeln. In Kombination mit neuen Technologien wie dem noch im Experimentierstadium steckenden kassenlosen Laden Amazon Go oder dem sprachgesteuerten System Alexa ergäben sich für die mit Amazon kooperierenden Händler ganz neue Perspektiven.

Denn Prime-Kunden, die Pizza oder Klopapier über Sprachsysteme bestellen, machen sich noch weniger als andere die Mühe, konkurrierende Angebote auch nur anzuschauen.

Allerdings birgt das Modell auch hohe Risiken. „Die logistischen Ansprüche bei der schnellen Lieferung sind hoch“, sagt Expertin Casertano. Wer innerhalb von einer bis zwei Stunden die gekauften Artikel zustellen wolle, müsse viel investieren und werde trotzdem für Patzer schnell abgestraft: „Wer Versprechungen macht, die er nicht einhält, vergrault die Kunden.“ Mit anderen Worten: Amazon und Rossmann sind zum Erfolg verurteilt. Doch je erfolgreicher das Tandem ist, umso weniger wird Rossmann in seinen bestehenden Läden verkaufen – es sei denn, auf Kosten der Konkurrenten in einem Wettbewerb, der ohnehin schon knochenhart ist.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Welt Online.

Bild: Andrew Benge /Getty ; Grafiken: Welt