Amazon: Viel zu viele Krankmeldungen

Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi beklagt die ungewöhnlich hohen Krankenstände bei Mitarbeitern von Amazon Deutschland. Eine Umfrage unter Gewerkschaftssekretären und Betriebsräten an sieben von acht Standorten ergab, dass der Krankenstand nirgendwo unter elf Prozent liegt. Allein vier Standorte gaben eine Quote von 15 bis 20 Prozent an, in Leipzig ist sogar von 20 bis 25 Prozent der Mitarbeiter die Rede, die sich im Durchschnitt krank meldeten.

Zum Vergleich: Im Jahresschnitt 2013 fehlten laut dem Statistischen Bundesamt 3,8 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland arbeitsunfähig. Bei DHL, einem Unternehmen, das ebenfalls Pakete verschickt und bei dem die Arbeitsabläufe ähnlich sein dürften wie in den Amazon-Lagern, lag die Quote 2013 bei 8,4 Prozent.

„Die hohen Krankenstände bei Amazon sind absolut inakzeptabel“, sagt Stefanie Nutzenberger, Vorstandsmitglied für den Handel bei Verdi, der Tageszeitung Die Welt. Sie zeigten, wie wenig Wert Amazon darauf lege, die Gesundheit seiner Beschäftigten zu schützen. „Unzureichende Arbeitsmittel, Druck und Arbeitshetze, extrem lange Laufwege und zahlreiche unsichere, weil befristete Arbeitsverhältnisse machen Menschen, die bei Amazon arbeiten, krank“, sagt Nutzenberger.

Kampf um Tarifvertrag und Macht

Die Gewerkschaft führt derzeit auch einen grundsätzlichen Kampf gegen das US-Unternehmen. Verdi möchte, dass Amazon einen Tarifvertrag einführt. Bisher weigert sich Amazon, mit Verdi zu verhandeln. Immer wieder gibt es deswegen Streiks. So auch an diesem Montag. Nach Verdi-Angaben begann der Arbeitskampf in den Verteilzentren im hessischen Bad Hersfeld bereits mit der Nachtschicht. Verdi wolle damit „den Druck auf Amazon im Weihnachtsgeschäft“ erhöhen. Der Versandhändler könne mit dem Arbeitskampf „empfindlich“ getroffen werden, erklärte die Gewerkschaft vor dem Hintergrund des wichtigen Weihnachtsgeschäfts.

Verdi will für die Amazon-Beschäftigten Tarifverträge nach den Konditionen des Einzel- und Versandhandels durchsetzen. Amazon lehnt das ab. Mit einem Tarifvertrag, so Verdi, würden sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Doch es geht auch um die Macht von Verdi. Der Einfluss der Gewerkschaft schwindet, wenn sie keine Tarifverträge aushandeln kann, denn dann treten ihr weniger Mitglieder bei. In der Einzelhandelsbranche beträgt die Tarifbindung nur noch 40 Prozent.

Amazon möchte die von Verdi-Gewerkschaftssekretären und Betriebsräten verbreiteten Zahlen zum Krankenstand nicht bestätigen, aber auch nicht dementieren. Auch die Frage, ob die Entwicklung ein Problem für das Unternehmen sei, kommentiert Amazon nicht. Man arbeite beim Thema Gesundheitsmanagement eng mit den Betriebsräten und Krankenkassen zusammen und nehme das Thema sehr ernst, sagt Sprecherin Anette Nachbar. „Gesundheit und Sicherheit unserer Mitarbeiter haben für uns einen sehr hohen Stellenwert.“

Akkordähnlicher Leistungsdruck

Im Lager Koblenz liegen die Krankenstände bereits seit fünf bis sechs Monaten zwischen 15 und 20 Prozent, erzählt Gewerkschaftssekretärin Angela Bankert. Ende Oktober habe er bei exakt 16,8 Prozent gelegen. Auf der letzten Betriebsversammlung habe der Geschäftsführer selbst den hohen Krankenstand als problematisch thematisiert. Die Arbeit sei körperlich schwer, und es herrsche ein großer psychischer Druck, schnell zu arbeiten, sagt Bankert: „Die Leute sind fix und fertig.“ Viele Mitarbeiter müssten am Tag 15 bis 20 Kilometer laufen.

Die Tische, an denen die Produkte eingepackt würden, hätten Einheitsgrößen. Picker – also diejenigen, die die Produkte aus den Regalen holen – hätten keine Sitzgelegenheit. In einer Umfrage hätten die Mitarbeiter auch Monotonie und mangelnde Abwechslung beklagt, nur stehen oder nur laufen sei schlecht. Klimaanlagen funktionierten oft nicht.

Auch der akkordähnliche Leistungsdruck sei ein Stressfaktor, genauso wie mangelnder Respekt und nicht nachvollziehbare Entscheidungen der Führungskräfte, denen es an sozialer Kompetenz mangele, sagt Bankert. Sie sieht folgende Hauptgründe für den hohen Krankenstand: „Rücken, Psyche, Füße.“ Ähnlich lautet die Erklärung in den anderen Lagern.

Abweichungen stören die Kalkulation

Das System Amazon setzt in den Versandzentren weltweit auf völlige Konformität – individuell dürfen nur die Kunden handeln. Wer auf „Bestellen“ klickt, setzt eine Maschinerie in Gang, die den Mitarbeitern keine Abweichungen von standardisierten Abläufen erlaubt. Nur dank dieses auf Effizienz, Leistungsdruck und Kontrolle ausgerichteten Geschäftsmodells kann Amazon die Nachfrage Hunderttausender Artikel innerhalb weniger Stunden befriedigen.

Die Standardisierung sei „die Basis unseres Wachstums“, sagt Amazon-Manager Karsten Müller. Er leitet das Versandzentrum im brandenburgischen Brieselang. Jeder Ablauf ist bis ins kleinste Detail optimiert. Abweichungen würden die Kalkulation stören. Thomas Rigotti, Arbeitspsychologe an der Uni Mainz, sieht generell das Risiko von höheren Krankenständen, wenn Mitarbeiter repetitive, monotone, standardisierte und körperlich schwere Arbeiten verrichten.

Bücken, laufen, langes Stehen, all das belaste den Rücken und die Gelenke. Hinzu kämen psychische Belastungen. Zeitdruck und wenig Autonomie erhöhten das Risiko psychischer Erkrankungen. „Wenn die individuellen Gestaltungsspielräume gering sind, steigt die Krankheitsgefahr“, sagt Rigotti.

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Bild: Amazon

Millionen für die Klimatisierung

Bei vielen Menschen, die in einem solchen Umfeld arbeiteten, könne es neben den körperlichen auch zu psychischen stressbedingten Erkrankungen kommen. „Manche reagieren mit Herzproblemen, andere mit Depressionen“, sagt Rigotti.

Um Erkrankungen vorzubeugen, empfiehlt er zunächst die Einrichtung individuell gestalteter ergonomischer Arbeitsplätze. „Sie müssen individuell anpassbar sein, sonst sind Haltungsschäden die Folge“, so Rigotti. Um psychischen Erkrankungen vorzubeugen, seien regelmäßige Aufgabenwechsel sinnvoll sowie die Einrichtung teilautonomer Arbeitsgruppen. Auch flache Hierarchien, die es den Mitarbeitern erlauben, mitzureden und selbstbestimmter zu arbeiten, seien gesünder.

Amazon zufolge kümmert man sich um die Bedürfnisse der Mitarbeiter. „Dazu haben wir an allen Standorten Gesundheits- und Sicherheitskomitees gegründet, die permanent daran arbeiten, unsere Sicherheitsstandards zu verbessern“, sagt Anette Nachbar. Investitionen in Millionenhöhe seien in die Klimatisierung der Hallen, in zusätzliche dezentrale Pausenräume und in die Qualität der Kantinen geflossen. Man habe in eine Technologie investiert, die anzeige, ob ein Mitarbeiter einen Gegenstand allein tragen könne oder nicht.

Befristung sorgt für psychischen Druck

„An unseren Steharbeitsplätzen entlasten spezielle Fußmatten die Wirbelsäule“, erklärt die Sprecherin. Amazon zufolge gibt es an den „meisten der Standorte“ unterschiedliche Tischhöhen an den Verpackungsstationen. Die befragten Gewerkschaftssekretäre und Betriebsräte können davon allerdings nicht berichten. Bevor er Mitte Juni zum Betriebsrat in Brieselang gewählt wurde, hat der 1,85 Meter große Andreas Kolb selbst an einem Tisch verpackt, dessen Höhe nicht verstellbar war. „Das war zu niedrig“, sagt er. Doch das zu ändern, sei schwierig, weil das ganze System samt Fließband an die Tische gekoppelt sei.

Kolb ist allerdings der Meinung, dass es weitaus schlechtere Arbeitsbedingungen als bei Amazon gebe. Wer als Gerüstbauer arbeite, müsse mehr aushalten, sagt er. Kolb führt die hohen Krankenstände – in Brieselang liegen sie bei 15 bis 20 Prozent – auch darauf zurück, dass es so viele befristete Arbeitsverhältnisse gebe.

In Brieselang arbeiten Kolb zufolge derzeit, in der Hochsaison vor Weihnachten, 1.700 Mitarbeiter. Davon seien nur 300 fest angestellt. „Keiner weiß, ob er nach dem 31.12. hier noch weiter beschäftigt wird“, sagt Kolb. Diese Unsicherheit übe psychischen Druck aus.

Bonus für niedrigen Krankenstand

Amazon setzt stark auf Saisonarbeit: Insgesamt beschäftigt das Unternehmen derzeit 10.000 Festangestellte und 12.000 Saisonkräfte. Eine Erklärung für den hohen Krankenstand, die auch unter Gewerkschaftern kursiert, ist die teilweise niedrige Motivation jener, die von der Arbeitsagentur zu Amazon vermittelt würden.

Im Versandzentrum Pforzheim hat das Management jedenfalls eine Maßnahme ergriffen, den Krankenstand zu senken, der die Gesundheit der Mitarbeiter nicht unbedingt verbessern dürfte. Seit September wird den Mitarbeitern ein Bonus ausgezahlt, wenn der Krankenstand im Amazon-Verhältnis niedrig bleibt.

Einen Bronze-Zuschlag von zwei Prozent des Gehalts gibt es, wenn der Krankenstand unter zehn Prozent liegt. Wenn die Quote unter vier Prozent bleibt, haben sich die Mitarbeiter den Platin-Bonus verdient – er beträgt sechs Prozent des Gehalts.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Welt.

Bild: Amazon