„Die Zeit der Heuchler ist vorbei / Und ihre Tyrannei / Denn wir sind frei“

(Jochen Distelmeyer)

Nur die wenigsten Deutschen können erklären, was ein Algorithmus ist. Doch sie pflegen trotzdem eine herzliche Abneigung dagegen. Man mag in diesem Land keine Algorithmen. Das Wort klingt nach Ausrechenbarkeit, Unmenschlichkeit, nach Herrschaft von Computern. Der Mensch soll auch in Zukunft die wichtigen Entscheidungen treffen.

Wir machen uns derweil Sorgen um unsere Daten, unsere Arbeitsplätze und sogar um unsere Demokratie. Das alles sei von den Netzwerken, den Tech-Giganten aus dem Silicon Valley und digitalen Überwachungsmethoden bedroht, heißt es in unzähligen Aufsätzen. „Wo bleibt der Mensch in diesem rasanten, digitalen Spiel?“, lautet die bange Frage.

Entscheidungen an Maschinen abgeben?

Der Mensch empfindet sich als Hauptdarsteller im Spiel des Lebens. Wir bilden uns ein, dass wir alles selbst entscheiden, dass wir die letzte Instanz sind, die Kapitänsbinde tragen. Wir klammern uns an Denkmuster, die der Realität nicht mehr standhalten, weil wir aus diesen egozentrischen Strukturen unser menschliches Selbstverständnis abgeleitet haben.

Am Schalter sitzt der Bankangestellte und entscheidet über den Kredit. Im Krankenhaus entscheidet eine Ärztin, ob operiert wird oder nicht. In der Redaktion entscheidet ein Redakteur, welche Meldung publiziert wird. Diese Entscheidungen sollen wir an Maschinen abgeben?

Ja, das sollten wir dringend tun. Wir sollten uns zumindest von Computern und Algorithmen helfen lassen, bessere Entscheidungen zu treffen. Menschen machen zu viele Fehler. Diese Erkenntnis schmerzt. Aber diese Schmerzen sind das erste Symptom für eine Besserung. 

So ähnlich muss es sich angefühlt haben, als Charles Darwin erkannte, dass Mensch und Affe gemeinsame Vorfahren haben. Es ist durchaus schwierig einzusehen, dass eine Maschine bessere Entscheidungen in Sachen Kreditvergabe fällen kann. Es ist desillusionierend festzustellen, dass Computer dem Arzt meilenweit überlegen sind, wenn es um die Krankheitsdiagnose geht.

Viele Redakteure sind immer noch der Meinung, sie wüssten besser, was die Menschen interessiert, als eine mächtige Datenanalyse-Software. Dem ist aber nicht so. Die endgültige Entscheidung darüber, was zu tun ist, können wir ja immer noch einem Menschen überlassen.

Mark Zuckerberg musste sich entschuldigen

Auch die sozialen Netzwerke sind für viele Nutzer inzwischen zu einer großen Enttäuschung geworden. Sie erscheinen als eine Bedrohung für unser Gemeinwohl. Die große Hoffnung auf ihre völkerverbindende Kraft ist Skepsis und Angst gewichen.

Schon seit langer Zeit hat man sich darüber aufgeregt, dass dort viel Unfug veröffentlicht wird. Auch um sich selbst ohne großen Aufwand als intelligent und kritisch darzustellen. So ähnlich funktioniert das auch mit dem Privatfernsehen und der Boulevardpresse. Doch jetzt sei sogar unsere Demokratie bedroht, heißt es zum Beispiel von unserer Justizministerin Katarina Barley.

Geschickte Manipulatoren der Meinung seien hier unterwegs und würden die Leute in eine bestimmte politische Richtung schubsen, heißt es. Meistens keine gute. Der gesellschaftliche Diskurs werde hier gegen das friedliche Zusammenleben gewendet. Mark Zuckerberg musste sich inzwischen in den USA und in Brüssel vor Politikern dafür entschuldigen.

Auch im Internet gelten Gesetze

Der Facebook-Gründer hat jetzt seine Geschäftspolitik dramatisch geändert, damit sein Netzwerk überleben kann. Der gesellschaftliche Druck wurde einfach zu groß. Bis vor Kurzem interessierte er sich nur ganz am Rande für das, was inhaltlich auf seiner Plattform vor sich geht.

Doch nach den Vorgängen um Cambridge Analytica hat sich Zuckerberg endgültig von dieser Politik verabschiedet. Die angestrebte Selbstregulierung des Netzwerks scheint nicht zu funktionieren. Facebook läuft über vor lauter Dreck, und die Erzählung rund um die angebliche Manipulation der politischen Stimmung und den sogenannten „Datenskandal“ ist einfach zu mächtig, um nicht darauf zu reagieren.

Schlüsselrolle für Künstliche Intelligenz

Mark Zuckerberg hat sich deshalb dazu verpflichtet, die volle Verantwortung für die Inhalte auf seiner Plattform zu übernehmen. Dieses Eingeständnis soll für ein gutes Gefühl bei seinen Kunden und der Politik sorgen. Das gute Gefühl, dass endlich wieder ein Mensch an den Hebeln sitzt.

Doch auch diese Vorstellung wird enttäuscht. Wir sollten genauer hinhören, wie Zuckerberg in Zukunft dieses Problem handhaben will. Denn daraus können wir lernen, wie das Silicon Valley und viele Entrepreneure in der digitalen Welt denken.

Zuckerberg sagte, dass er die Probleme auf der Plattform vor allem mithilfe von Technik lösen wolle. Die Schlüsselrolle werde dabei die sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) übernehmen. Sie soll die falschen Nachrichten, Beeinflussungsversuche, den Schmutz und die Gewalt erkennen und automatisch von der Plattform verbannen. Das tut sie übrigens jetzt schon. 

Gefahr ist eine zu negative Sicht auf Technik

Laut Zuckerberg kommt keine Technik fertig auf den Tisch. Er sieht sein Produkt Facebook als eine vorläufige, fehlerhafte Version von etwas, das sich ständig weiterentwickelt. Fehler, die erkannt werden, sollen durch den smarten Einsatz von Technologie abgestellt werden. Von seiner Mission, die gesamte Welt zu vernetzen, rückt Zuckerberg keinen Millimeter ab. Von seinem Geschäftsmodell mit gezielter Werbung auch nicht.

Die eigentliche Gefahr sieht Zuckerberg im Gegensatz zur Politik und weiten Teilen der Gesellschaft in einer zu negativen und ängstlichen Sicht auf Technik. Das, was gerade bei der Entwicklung von selbstfahrenden Autos geschieht, führt er als exemplarisch an. Wenn es einen Unfall mit einem selbstfahrenden Auto gebe, seien die Medien voll mit Warnungen vor einer mangelhaften Technik. Von den alltäglichen Verkehrstoten liest man wenig. 

Dunkle Seite der Menschheit im Brennglas

Dabei sei Technologie schon bald eine Garantie dafür, dass Tote auf den Straßen weitgehend vermieden werden könnten. Deshalb sei es gefährlich, die technischen Entwicklungen zu bremsen. Zuckerberg: „Wer mit solchen Argumenten versucht, den Fortschritt zu bremsen, der muss die Verantwortung für tödliche Unfälle und Krankheiten übernehmen. Warum bremsen? Wir müssen schnell sein.“

Das Image der Giganten aus dem Silicon Valley ist auf dem Tiefpunkt und damit auch das Vertrauen in die positiven Wirkmächte der Digitalisierung. Wir erschrecken uns vor unserem hässlichen Spiegelbild auf Facebook. Wie unter dem Brennglas versammelt sich hier auch die dunkle Seite der Menschlichkeit.

Technik könnte ihre Zerstörungskraft entfalten

Es sehe ganz danach aus, als ob am Ende lediglich politische Beeinflussung, Eitelkeit, Gefahr für unsere Demokratie und Privatheit und prekäre Arbeitsverhältnisse aus dem Silicon Valley herausgekommen seien, sagen Kritiker. Algorithmen entmündigten den Menschen, die Technik, die eigentlich hilfreich und gut habe sein wollen, richte sich gerade mit großer Zerstörungskraft und Wucht gegen die fragile Zivilisation.

Wenn man Zuckerberg und anderen Entwicklern aus dem Valley zuhört, gibt es für diese und andere große Probleme der Menschheit trotzdem nur eine einzige Lösung: kluge Menschen, denen intelligente Technik zur Verfügung steht. Ein System, das Fehler offenbart, lernt gleichzeitig, sie zu lösen. Noch prüfen Tausende Mitarbeiter rund um die Welt, ob Beiträge auf Facebook gelöscht werden oder nicht. Aber schon bald wird das ein kluger Algorithmus übernehmen können.

Damit KI und Algorithmen im besten Sinne für das Wohlergehen der Zivilisation eingesetzt werden können, müssen wir durchdringen, was das ist und was ihre Aufgabe sein können. Denn sonst wendet sich die Technik tatsächlich gegen uns. Herzliche Abneigung ist zu wenig – und die eigentliche Quelle der Gefahr.

Ein gutes Gefühl gibt uns Leon Bridges auf seinem neuen Album „Good Thing“.

Bild: YouTube (Screenshot)