Suedkreuz
Sehr viel Beton, nicht sehr gemütlich – der Bahnhof Südkreuz in Berlin

Was passiert da eigentlich gerade am Bahnhof Südkreuz in Berlin? Das Stichwort heißt Gesichtserkennung – und es klingeln schon seit Wochen alle George-Orwell-Gedächtnis-Warnglocken. 300 Testpersonen haben sich damit einverstanden erklärt, dass eine neue Art von Überwachungstechnik mit den biometrischen Daten ihrer Gesichter gefüttert wird. Die Technik soll beweisen, dass sie in der Lage ist, diese Gesichter in der Menschenmenge am Bahnhof zu identifizieren.

Vergangene Woche war sogar Bundesinnenminister Thomas de Maizière zu Gast, um sich den Test vor Ort anzuschauen. Denn der Versuch am Berliner Südkreuz soll klären, ob das System aus Kameras, Gesichtserkennung und Datenbankabgleich, in der Lage wäre, Gesichter von sogenannten Gefährdern und anderen Kriminellen zu erkennen. Damit könnten dann Straftaten im Vorfeld vermieden werden. Das glauben jedenfalls einige Politiker. Die Debatte um diesen Versuch entzündet sich vor allem an zwei Punkten:

1. Die getestete Technik sammelt offenbar mehr Daten, als die Veranstalter des Versuchs ihren Testpersonen versprochen haben. Das Bundesinnenministerium hat die Vorwürfe von Datenschützern allerdings zurückgewiesen. Diese wiederum reagierten umgehend und dokumentierten mit Fotos, wie sie problemlos mehr Daten aus dem verwendeten Geräten auslesen, als es eigentlich vorher abgemacht war.

2. Schneller als man George Orwell sagen kann, ist in unzähligen begleitenden Artikeln und Kommentaren von totaler Überwachung, Überwachungsstaat und Einschränkung unserer Grundrechte auf Unbeobachtetheit und Privatheit die Rede gewesen. Eigentlich sei das kein Test einer Technik, sondern ein Test für unsere Freiheit, heißt es zum Beispiel etwas pathetisch in einem Kommentar des Nachrichtenmagazins Spiegel.

Sollte das verwendete Gerät tatsächlich mehr Daten aufzeichnen, als es mit den Testpersonen abgesprochen war, ist das natürlich ein peinlicher Fehler, der gerade bei einem solchen Test nicht passieren darf. Ausgerechnet, wenn es um Sicherheit von Daten und Gesichtserkennung geht, muss die Technik absolut verlässlich sein. Es ist auch kein Argument, wenn man hinterher beteuert, die zu viel erhobenen Daten hätte man gar nicht berücksichtigt. Im Gegenteil. Man bekommt den Eindruck, dass hier mögliche Schwierigkeiten unter den Teppich gekehrt werden sollen. So verlieren die Menschen Vertrauen in eine Zukunftstechnologie.

Es gibt noch sehr viel Nachholbedarf

Die Argumentation des Innenministeriums ist, dass es mithilfe von Gesichtserkennung in Zukunft mehr Sicherheit geben soll. Sicherheit wird zweifellos gebraucht, bewiesen ist bis jetzt aber lediglich, dass es offenbar ziemlich schwierig ist, sich auf dem schmalen Grat zwischen Sicherheitsinteressen und rechtswidriger Überwachung zu bewegen. Plötzlich gibt es eine Flut von Daten der Testpersonen, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Immerhin zeigt der Versuch in Berlin, dass es hier noch sehr viel Nachholbedarf gibt.

Bei aller Vorsicht in Sachen Gesichtserkennung, ist klar, dass diese Technik in Zukunft eine große Rolle spielen wird. Nicht nur in Sachen Sicherheit. Es gibt sehr viele Bereiche, in denen Anwendungen denkbar sind. Zum Beispiel auch in der Medizin. Experten gehen zum Beispiel davon aus, dass einige Gendefekte damit diagnostiziert werden können. Besser als von erfahrenen Ärzten. Bevor wir diese Technik also in Gänze verteufeln, sollten wir vielleicht ganz kurz darüber nachdenken, wie wir davon profitieren könnten.

Was ist, wenn der IS uns überwacht?

Die Spiegel-Autorin Judith Horchers schreibt in ihrem Kommentar zur Gesichtserkennung: „Was, wenn eines Tages Linke an die Macht kommen und Jagd auf ehemalige Pegida-Demonstranten machen? Was, wenn irgendwann der IS hier übernimmt und jederzeit sehen kann, wer sich am Südkreuz Alkohol gekauft hat?“ Im Nachsatz muss sie zugeben, dass das aus heutiger Sicht etwas albern klänge. Das stimmt. Aber ein Umstand wird trotzdem deutlich: Es ist nicht die Technik selbst, die uns Sorgen machen sollte. Es ist die Frage, in wessen Händen sich diese Technik befindet. Wenn der IS am Südkreuz in Berlin den Bahnhof überwacht, haben wir sehr wahrscheinlich ganz andere Probleme als die Furcht vor totaler Überwachung.

Ach – und eins noch. In George Orwells Roman „1984“ geht es übrigens nicht um die totale Überwachung der Massen. Der Held des Buches, Winston Smith, wird überwacht, weil er für die Regierung tätig ist. Seine Arbeit besteht darin, die Vergangenheit zu fälschen: Er schreibt Zeitungsnachrichten um, damit sie der Parteipropaganda entsprechen. Missliebige Personen werden aus der Vergangenheit entfernt. Das böse Ende: Am Schluss des Romans ist Smith selber eine sogenannte „Unperson“ – und stimmt freudig seiner eigenen Liquidierung zu.

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