Zum Star mit Lippenbalm und Kosmetiktüchern vom Drogeriemarkt

Sie heißt Bibi, eigentlich Bianca Heinicke. Ihre Mutter ist Erzieherin. Ihr Vater Außendienstmitarbeiter. Sie kommt in Köln zur Welt. Sie geht erst zur Grundschule, danach auf das Gymnasium und im Reli-Unterricht, so sagt sie das, da lernt sie ihren ersten Freund kennen. Julian. Sie sind heute noch zusammen. Bibi geht gern schwimmen. Sie isst gern Donuts und sie trinkt gern Kaffee. Bei Starbucks. Wenn sie einkaufen geht, dann nennt sie das „shoppen“, und shoppen geht sie gern bei H&M und auch in der Drogerie, bei DM. Bibi, das ist das normalste Mädchen Deutschlands.

Aber Bibi ist auch die erfolgreichste deutsche Frau auf YouTube. 1,24 Millionen Menschen haben aktuell ihren Kanal abonniert. Bibi hat das, was alle Medienmacher wollen: Erfolg bei Jugendlichen. Ihre Gefolgschaft ist achtmal größer als die Auflage der Bravo. Während ARD und ZDF seit Jahren in langwierigen Konferenzen die Meinungsforschungsergebnisse wälzen und grübeln, grübeln, grübeln, wie sie die Jugend von heute mit einem „JuKa“, einem Jugend-Internetkanal, vom Twittern, SnapChatten und Whatsappen abhalten können, da gibt es den doch einfach schon längst; er heißt auch so ähnlich. Er heißt YouTube – und sein Programm: „Bibis Beauty Palace“ und „Dagi Bee“, „Julienco“, „Dner“ und „Lion TV“. Dahinter Ein-Mann-Redaktionen, Teenager oder gerade Zwanzigjährige. Sie drehen Rap-Videos und Tagebücher von herrlich ereignislosen Urlauben, sie kochen, sie backen, sie kaufen im Supermarkt Tiefkühllasagne. Und immer ist ihre Kamera dabei.

Man will dieses Wort in diesem Zusammenhang ja schon gar nicht mehr hören: Authentizität. Aber sie zählt. Denn um Bibi und ihre Kamera herum, da ist keine Kulisse, da ist das kleine Arbeitszimmer ihrer großen Neubauwohnung nahe der Kölner Innenstadt. Sie sitzt hier in Hausschuhen auf dem Fußboden, vor diesem Ikea-Expedit-Regal, das jetzt Kallax heißt und das alle haben. Über ihrer rechten Schulter liegt eine Sammlung kleiner bunter Kugeln. Amerikanischer Lippenbalsam ist das, es gibt ihn, das weiß man, wenn man Bibis Videos guckt, in den Sorten Strawberry Sorbet, Blueberry Acai und Lemon Drop. Und irgendwie so sieht Bibi auch aus. Ihre Lippen und ihr Pulli sind pink wie Strawberry Sorbet, ihre enge Hose so dunkelblau wie Blueberry Acai. Sie strahlt.

„Hallo meine Lieben, willkommen zu meinem neuen Video.“ Bibi winkt mit beiden Händen in die Kamera, so vorfreudig, so herzlich, so energiegeladen wie eine Tochter, die sich über dem halb geöffneten Zugfenster von den lieben Eltern verabschiedet, bevor sie zum ersten Mal allein in den Urlaub fährt. An die See, mit Freunden und dem Rucksack voller zuckerfreier Kaugummis. Noch energiegeladener als ihr Winken ist nur ihre Stimme. Sie hat das raus, dieses jugendlich fröhliche In-die-Kamera-Brüllen, die Musikfernsehmoderatoren haben es vorgemacht, Bibi macht es nach, obwohl sie selbst sagt: Viva? Das habe sie nie wirklich gesehen. Bibi ist 21 Jahre alt.

„Heute gibt es mal wieder einen neuen DM-Haul von mir. Ich war kräftig shoppen und habe eine ganze, große DM-Tüte vollgemacht.“ Haul, das ist Englisch für Raubzug, auf YouTube bedeutet das, ganz viel einkaufen und die Beute zeigen. Einen nach dem anderen zieht Bibi ihre erfüllten Wünsche aus der Tüte. Kosmetiktücher „in so einer schönen Dose“ für 95 Cent. Eine neue Nagelfeile von Essence für 1,45 Euro. Dann ein Duschgel, eine Limited Edition, betont sie, Purple Kisses mit den Duft von Lilien und schwarzen Himbeeren für 55 Cent. Und neue Reinigungstücher – „Dann wisst ihr ja, ich liebe die Reinigungstücher von Balea.“ Das Billige zum Götzen machen, das, was jeder Teleshopping-Sender angestrengt jeden Tag aufs Neue versucht, Bibi schafft es mühelos. 13 Minuten lang. 680.000 Fans gefällt das, denn sie können es ihr nachmachen. Die Zauberformel Authentizität, sie funktioniert nur, solange sie auch Alltäglichkeit bedeutet. Würde Bibi bald nur noch bei Gucci einkaufen, ihr Erfolg wäre dahin.

Bis vor Kurzem noch wohnte Bibi gemeinsam mit ihrem Freund Julian Claaßen in einem Zimmer bei dessen Eltern. Jetzt sind sie umgezogen. Gemeinsam. Sie sind jetzt nicht mehr nur ein Paar. Sie sind eine GbR. Denn Julian macht jetzt auch YouTube. Was genau sie damit verdienen, sagen sie nicht. Aber es reicht für eine Wohnung in einem Neubaugebiet in Köln. 75 Quadratmeter. Einbauküche mit Abzugshaube, Kühlschrank mit Eiswürfelmaschine, großer Balkon, viel Licht, Gegensprechanlage mit Videoüberwachung. Eine Wohnung der Größe kostet hier ungefähr 1200 Euro kalt. Eine graue Couch, pinkfarbene Turnschuhe, ein Mac auf dem Schreibtisch. Zum Einrichten der Wohnung haben sie noch keine Zeit gefunden. Vergangene Woche waren sie spontan auf Djerba, weil ihnen alles über den Kopf gewachsen ist. In dem Hotel erkennt sie der Rezeptionist, ein Tunesier, er spricht kein Deutsch, guckt aber ihre Videos. Bibi und Julian, beide einundzwanzig, beide eigentlich Studenten, sie Sozialwissenschaften, er BWL, beide haben ihr Studium wegen YouTube jetzt auf Eis gelegt, sie bekommen ein kostenloses Upgrade in Tunesien. Die Suite. Bitte wenden – hier geht’s zum zweiten Teil.

Die kleine blonde Freundin mit den Strawberry-Sorbet-Lippen

Seit einem halben Jahr hat Bibi einen Manager. Beim Interview ist er dabei, genau wie ihre PR-Frau. Im Hintergrund tippen sie auf ihren Mobiltelefonen rum, während Bibi erzählt. Ihre Videos, die Ideen, das Schneiden, das mache sie aber alles noch selbst. Nur Julian hilft ihr. Wie sie ihre Themen auswählt? Alles, was sie interessiert. Morgen-Make-up auftragen, Streitigkeiten unter Geschwistern, kleine Sketche. Wie sie dazu gekommen ist? Auf YouTube war sie immer, weil sie da Musik hört. House zum Beispiel. Oder Justin Timberlake. Dann findet sie die Tutorial-Videos. Zu einer Flechtfrisur findet sie keins, sie macht es selbst. Sie findet Gefallen daran. Sie macht weiter. Nach anderthalb Jahren ist ihr YouTube-Kanal „Bibis Beauty Palace“ wirklich ein Palast, so groß, dass sie nicht mehr unerkannt vor die Tür gehen kann.

Gestern, sagt Bibi in ihren kuscheligen Hausschuhen auf dem Sofa, wollte Julian sich zwei neue T-Shirts kaufen und eine Sweatshirtjacke, aber sie mussten das Shopping in der Kölner Ehrenfeldstraße abbrechen. Aus mehreren Geschäften wurden sie wegen des Menschenauflaufs, den sie verursachten, hinausgeschmissen. Zwei Stunden gaben sie Autogramme und ließen sich mit den Fans fotografieren. Bibi lacht. Sie findet das wirklich super. Sie war auch mal Fan. Von Disneys „High School Musical“, von Zac Efron, von Vanessa Hudgens. Angst macht ihr der Verlust ihrer Privatsphäre nicht.

Auch dann nicht, wenn sie und ihr Freund am Züricher Flughafen von 200 Fans überrascht werden, so wie vor ein paar Wochen. Die liefen auf sie zu, hängten sich an sie ran. Die 1,55 Meter kleine Frau rief dann: So, jetzt bitte alle rüber an die Wand, und danach kann jeder einzeln zu mir. „Die wollen am allerwenigsten, dass mir was passiert.“

Als Viva 1993 auf Sendung ging, saßen da die damals so jungschen Heike Makatsch, Nils Bokelberg und Mola Adebisi, sie saßen in einer Kulisse, die aussehen sollte wie ein heimischer Dachboden. „Wir sind mehr als nur ein Fernsehsender“ sagten sie. Ihre Kleidung war bunt, sie strahlten: „Wir sind euer Sprachrohr und euer Freund. Und ab heute bleiben wir für immer zusammen, okay?“ Diese Idee war visionär. Jugendliche wollen wirklich Fernsehen, das ist wie ihr Freund. Nur hat sich der Jugendsender an diese Formel gar nicht gehalten. Freunde lassen sich nicht im Beisein von Harald Schmidt und Helmut Zerlett die Mittelhand piercen – wie Charlotte Roche in „Fast Forward“. Freunde sitzen nicht wie Aleks Bechtel mit Robbie Williams auf einem Fitness-Rad in London und reden über die Take-That-Trennung. Und Freunde gehen nicht wie Heike Makatsch auf Hausbesuch bei Christoph Schlingensief, bei Blixa Bargeld, bei Madonna und bei Sting. Wirklich, kein Teenager Deutschlands hat solche Freunde. Das einstige Jugendsprachrohr sendet heute nur noch bis 17 Uhr.

Bibi hingegen ist auf allen Kanälen. Fast wöchentlich ist das Schlagwort #askbibi, also Frag Bibi, unter den weltweiten Twittertrends neben #USOpen und #FCBayernTransfer. Hunderttausende Twitter-Nutzer fragen die 21-Jährige: Was soll ich machen, wenn ich gemobbt werde? Und welches Make-up benutzt du? Bibi wird gemocht, weil sie immer positiv ist. Weil sie antwortet: Glaub an dich. Gibt nicht auf. „Ich bin ein lebensfroher Mensch“, sagt sie über sich. Sie hat keine Sendezeit, die Jugendlichen haben sie auf Abruf immer in ihrer Hosentasche, die kleine blonde Freundin mit den Strawberry-Sorbet-Lippen.

Aus den Jugendstars von damals, aus Heike Makatsch zum Beispiel, wurde eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. Aus Charlotte Roche das Feuchtgebiete-Imperium. Ob sich hier gerade Geschichte wiederholt? Bibi zuckt mit den Schultern. Ihr männliches Pendant Sami Slimani, einer der erfolgreichsten männlichen YouTuber, moderiert jetzt die Viva Top 100. YouTube aufgeben, sagt Bibi, das würde sie dafür nicht. Dann sagt die PR-Frau, Bibi habe jetzt keine Zeit mehr. Sie muss ihrem Julian noch ein Outfit rauslegen. Eine Jeans, ein T-Shirt, irgendwas, denn es geht jetzt weiter zum Bravo-Shooting. Gerade wurde bekannt, die Jugendzeitschrift erscheint jetzt nur noch alle zwei Wochen. Bald aber soll es ein Sonderheft zu den YouTube-Stars geben. Bravo und Viva, die Jugendmarken der Vergangenheit, sie brauchen die YouTuber mehr als umgekehrt. Die Jugend macht sich heute selbst zur Marke.

Bild: Screenshot Youtube
Dieser Artikel erschien zuerst in der Welt am Sonntag.