Über dem Lesesaal der Bibliothek von Alexandria ist immer Sonnenaufgang

Wie eine über dem Meer aufgehende Sonne ragt das Glasdach des großen Lesesaals aus dem Boden. Damit soll die Architektur dieses modernen Bauwerks an das stetig wachsende Wissen der Welt erinnern. Bereits in der Antike stand in der zweitgrößten Stadt Ägyptens, die eine der wichtigsten Welt-Kulturmetropolen war, eine Bibliothek. Mit der neuen Bibliothek von Alexandria will der ägyptische Staat an diese Tradition anknüpfen und weltweites Ansehen erlangen. Doch vor dem Hintergrund seines katastrophalen Bildungssystems und wachsender Armut wirkt dieses Mega-Projekt ein wenig grotesk.

Das moderne Kultur- und Wissenschaftszentrum wurde im Jahr 2002 mithilfe der UNESCO und der ägyptischen Regierung eröffnet. Auch europäische Regierungen und sogar Saddam Hussein sollen sich an dem 167 Millionen Euro teuren Bau beteiligt haben. Auf dem Gelände, das an die große Bibliothek angeschlossen ist, befinden sich ein Planetarium, Museen, Veranstaltungsräume und Forschungseinrichtungen.

Auf den Terrassen bietet der Saal 2.000 Lesenden Platz

Das Herzstück der Anlage bildet die Bibliothek selbst, deren terrassenförmiger Lesesaal mit 2.000 Leseplätzen der größte seiner Art ist. Das Bauwerk ist eine architektonische Meisterleistung. Durch die schräggestellte Lamellen im Dach fällt nie direktes Tageslicht in den Lesesaal, der tagsüber trotzdem angenehm hell ist. Im Innenraum soll die Wahl bestimmter Materialen und Formen an die historische Bibliotheken erinnern. So ist beispielsweise die Wand mit Einbuchtungen übersät, die einerseits für eine gedämpfte Akustik in der Halle sorgen, und gleichzeitig eine Reminiszenz an die Regale sind, in denen die antiken Papyrus-Rollen aufbewahrt wurden.

Die Bibliothek beinhaltet Bücher in zahlreichen Sprachen neben Arabisch und besitzt die sechstgrößte Sammlung französischer Bücher weltweit. Besonders bemerkenswert aber ist die digitale Bibliothek. Bibliotheksdirektor Ismail Serageldin drückt es so aus: „We are born digital“. Es sei die erste Bibliothek, die im 21. Jahrhundert für das 21. Jahrhundert gebaut wurde.

„Wir haben zum ersten Mal die Möglichkeit, das gesamte Wissen der Welt allen Menschen jederzeit zur Verfügung zu stellen.“ In einem Online-Katalog ist der gesamte vorhandene Bestand katalogisiert, der auf acht Millionen Werke ausgelegt ist. Zudem wird daran gearbeitet, jedes vorhandene Buch digital verfügbar zu machen und deren Inhalte zu erhalten. Dazu werden täglich zwischen 100 und 200 Bücher eingescannt. In der Antike waren es Gelehrte, die hier alte Bücher oder Schriftrollen handschriftlich kopierten, um sie zu bewahren und zu verbreiten.

Auch Google Books und das Projekt Gutenberg sind dabei, die Bücher der Welt zu digitalisieren. Die alexandrinische Bibliothek bereichert diese Bewegung vor allem durch ihren Schwerpunkt in arabischer Literatur. Sie ist der Digital Library Federation seit 2005 als zweites, nicht-amerikanisches Institut angeschlossen. Aber nicht nur um Bücher kümmert sich die selbsterklärte Wissensmetropole. Die Bibliothek von Alexandria ist Teil eines Projekts aus San Francisco: dem Internet Archive.

Die Wayback-Machine speichert Webseiten seit 1996

Auf einem Server des Archivs, der Wayback Machine, werden seit 1996 alle Internetseiten der Top-Level-Domains in über 40 Sprachen konserviert. Das sind über 150 Billionen Seiten, die – komprimiert – schätzungsweise sechs Petabytes Speicher einnehmen. Das sind sechs Milliarden Megabyte (MB). Zur Veranschaulichung: Wenn eine Minute Musik in MP3-Format ungefähr einem MB entspricht, sind drei Milliarden Minuten Musik 11714 Jahre.

Für die Sicherung dieser Daten gibt es zwei Spiegelserver – einer davon steht in Alexandria. Das hat auch einen symbolischen Charakter: Die Schriftstücke aus der antiken Bibliothek sind zum großen Teil für immer verloren, da sie wahrscheinlich einem Brand zum Opfer fielen.

Auch an einer digitalen Sammlung altägyptischer Fundstücke wird gearbeitet. Darunter alte Münzen, Scherben und Schmuckstücke. Sie werden hier mit Bild und Beschreibung von überall zugänglich gemacht. Dieser Katalog entsteht in Kooperation mit der Library of Congress in den USA. Auch andere Großprojekte der Digitalisierung werden hier durchgeführt und zeigen, dass Ägypten sehr wohl fähig ist, mit dem Westen mitzuhalten. Die Description de l’Égypte, eine wichtige Text- und Bildsammlung über Ägypten, die auf der ägyptischen Expedition Napoleon Bonapartes entstand, ist eines davon.

All diese Projekte sind für Wissenschaftler weltweit von Bedeutung, denn Ägypten spielt historisch eine wichtige Rolle. Andererseits kann man es auch als absurd bezeichnen, dass „solche Summe für eine sogenannte internationale und kolossale Bibliothek in einer Stadt auszugeben, die vor Armut, Verfall und Dreck starrt“, wie es John Rodenbeck bei Baubeginn tat. Er ist Experte für die alte und neue Geschichte Alexandrias an der American University in Kairo.

Dass die Prestige-Bibliothek in einem Land mit über 30 Prozent Analphabeten keinen Platz habe, bestritt Serageddin von Anfang an: „Die Alexandrina ist keine einfache Bücherei, sondern wird mit mutigen Konferenzen und Diskussionen gegen Obskurantismus und jegliche Art von Fundamentalismus kämpfen.“ Außerdem zeige der Andrang arabischer Studenten und Besucher, dass die Bibliothek ein Schritt in die richtige Richtung sei, der dem Land viel Gutes bringe.

Dazu gehöre, dass hier auch kritische Tagungen und ethische Debatten geführt würden. Trotz der politischen Unruhen ist und bleibt dieser Ort eine florierende Oase der Bildung und Nachwuchsförderung inmitten eines Landes, dessen Bildungssystem von der UNO als extrem schwach bewertet wird und dessen Wirtschaft am Boden ist.

Digitalisierung rückwärts: Diese Maschine druckt und bindet ein beliebiges Buch aus dem Online-Katalog

Damit bei all den Bemühungen um die Digitalisierung von Wissen das Medium Buch nicht ganz verloren geht, bietet die Bibliothek noch etwas Besonderes: Die sogenannte Espresso-Book-Machine. Sie stellt auf Knopfdruck ein Buch her, das man sich aus einem Online-Katalog wählen kann: Vom Druck bis zur Bindung, alles aus dem einen Gerät und in wenigen Minuten. Weltweit existieren nur ein paar Dutzend Exemplare.

Titelbild: GROART.DE; entstanden auf einer journalistischen Reise zum Thema „freiwilliges Engagement von Jugendlichen in Ägypten“ vom 16. bis 22. April 2016 mit dem Pressenetzwerk für Jugendthemen.