Deutschland wird bei der Digitalisierung gerade abgehängt – das ist die wenig erfreuliche Botschaft, die eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission am Mittwoch Kanzlerin Angela Merkel überreichte. Die selbstgesteckten Ziele seien nicht erreicht worden, sagte Komissionschef Dietmar Harhoff, Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb.

Der deutsche Mittelstand ist so wenig innovativ wie fast nirgendwo in Europa, digitale Amtsstuben sind eine Servicewüste und im Bereich der Service-Robotik verpasst Deutschland gerade einen Zukunftsmarkt, so das Ergebnis der sechsköpfigen Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI).

Die Kommission wurde 2006 von der Bundesregierung erstmals eingerichtet und veröffentlicht seitdem jährlich ein Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands. Diesmal stand dabei die Digitalisierung im Mittelpunkt.

Der oft gelobte deutsche Mittelstand kommt dabei in diesem Jahr ganz besonders schlecht weg, wenn es um die Digitalisierung geht. Im Vergleich zu kleinen und mittelgroßen Unternehmen (KMU) in sieben anderen europäischen Ländern mit zehn bis 249 Beschäftigten gaben deutsche Unternehmen besonders wenig für Innovationen aus. Nur KMU aus Großbritannien investierten gemessen am Umsatz noch weniger in Forschung, Entwicklung und sonstige Innovationsthemen, geht aus Daten von Eurostat hervor. „Es droht eine digitale Spaltung zwischen KMU und Großunternehmen“, sagte Harhoff am Mittwoch vor Journalisten.

Innovationspotenzial liegt brach

Schlimmer noch: Der Trend geht in die falsche Richtung. „Die Bereitschaft der KMU, in Innovationsaktivitäten wie auch in Forschungsprojekte zu investieren, hat seit Jahren abgenommen“, sagte Uwe Cantner von der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitglied der Expertenkommission. Durch den Mangel an internen Finanzierungsquellen und den zunehmenden Fachkräftemangel liege so vorhandenes Innovationspotenzial von kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland brach.

Den vom Bundesbildungsministerium angekündigten Zehn-Punkte-Plan „Vorfahrt für den Mittelstand“ kritisierte Harhoff als unzureichend. Unterm Strich könne damit der staatliche Anteil der Investitionen von KMU für Forschung und Entwicklung gerade mal von etwa 14 auf etwa 15 Prozent erhöht werden.
Als Gegenmaßnahme empfehlen die Mitglieder der Kommission unter anderem eine bessere steuerliche Förderung von Investitionen in Innovationsthemen. In den meisten Ländern der westlichen Welt würde Unternehmen eine Steuergutschrift zustehen, die sich an der Höhe ihrer Ausgaben für Forschung und Entwicklung bemesse.

Merkel habe „Sympathie“ für den Vorschlag erkennen lassen, aber darauf hingewiesen, dass auch Finanzminister Wolfgang Schäuble dem noch zustimmen müsse, sagte Harhoff. Die steuerliche Absetzbarkeit der Forschung fordert die Kommission allerdings schon seit Jahren.

„Digitale Service-Wüste in deutschen Amtsstuben“

Doch auch deutsche Unternehmen abseits des Mittelstands sind „bei der Nutzung neuer digitaler Möglichkeiten derzeit allenfalls internationales Mittelmaß“, sagte Komissionschef Harhoff. Stattdessen trieben US-Unternehmen wie Apple, Google, Amazon oder Facebook international die Internetwirtschaft an. Die genannten Unternehmen seien an der Börse 15 Mal mehr wert als die gesamte deutsche Internetwirtschaft.

Im Bereich der Robotik, in dem Deutschland traditionell stark ist, verpassen deutsche Unternehmen nach Einschätzung der Kommission gerade einen Zukunftsmarkt. Durch technische Fortschritte befänden sich Roboter auf dem Sprung raus aus den Fabriken und arbeiteten häufiger direkt mit Menschen zusammen – beispielsweise bei der Reinigung oder Pflege. In Deutschland verstelle aber eine „Fokussierung auf die Industrie“ die Sicht auf diese aktuelle Robotik-Entwicklungen, sagte Kommissionsmitglied Ingrid Ott vom Karlsruher Institut für Technologie.

2011 seien in China nicht mehr als etwa 45.000 Roboter eingesetzt worden, während Deutschland rund 143.000 einsetzte. „In nur drei Jahren hat China mit einem Wachstum von 218 Prozent nahezu an den Bestand Deutschlands aufgeschlossen“, sagte Harhoff. Befürchtungen in der Bevölkerung,dass Roboter Löhne senken oder Arbeitslosigkeit fördern könnten, hätten sich auch bei der ersten Automatisierungswelle Ende der 1970er-Jahre nicht bewahrheitet.

Geradezu düster sieht es auch bei der Digitalisierung der Behörden in Deutschland aus. Von einer „digitalen Service-Wüste in deutschen Amtsstuben“ spricht die Kommission. „Bislang bauen Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden ihre E-Government-Angebote weitgehend in Eigenregie auf. Es ist dringend geboten, den Aufbau in Deutschland zentral zu koordinieren“, sagte Kommissionsmitglied Christoph Böhringer von den Universität Oldenburg.

Insgesamt geht die Bundesregierung nach Meinung von Harhoff zu „defensiv“ mit dem Thema Digitalisierung um. Statt nur die etablierten Industriesektoren mit Strategie wie der Regierungsinitiative „Industrie 4.0“ zu verteidigen, sollte sich die Regierung stärker auch mit den neuen Möglichkeiten beschäftigen, die die Internetwirtschaft eröffnet.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Welt.de.

Bild: Gettyimages BLOOM image