Eine Branche im digitalen Umbruch

Letzte Woche fand in den Messehallen Berlin wieder einmal die InnoTrans statt, der Branchentreff der Bahnindustrie. Herstellerunternehmen präsentierten neue Zuglösungen, ÖV-Unternehmen neue Angebotsmechanismen und Dienstleister Industrielösungen rund um das Bewegen von A nach B – alles Antworten vor allem für das traditionelle Kerngeschäft. Der Flurfunk war jedoch geprägt von der großen Fragestellung:

„Wie positioniert sich die Branche zur Digitalisierung?“

Kein vorübergehender Trend – vielmehr eine Tatsache, die mit großer Wahrscheinlichkeit den größten Wandel der Bahn mit sich bringt. Während sich Software-Unternehmen von Grund auf „digital“ konzipieren konnten, steht die Bahnwelt vor der großen Herausforderung, Antworten und Lösungen für die Fragestellung zu finden, wie man das traditionelle und hardwaregetriebene Geschäft mit der immer stärker digitalisierten Gesellschaft verbindet. Und dies mit Entwicklungsmechanismen, die bis dato weniger in der Branchen-DNA verankert waren: agil, oftmals risikobehaftet im Erfolg und der Akzeptanz, sowie im stetigen Dialog mit Kunden und Partnern.

Das Mindset muss sich weiterentwickeln

Nun gibt es schon genügend Theorien darüber, wie schnell und kapitalintensiv neue digitale Markt-Player die Old Economy zurückdrängen. Sie beschränken klassische Marktmitspieler auf ihr Kerngeschäft, um dies dann zum passenden Zeitpunkt selbst noch zu übernehmen. Kann das der Bahnindustrie passieren? Die Antwortet lautet: „Ja“.

Sicher von Traditionalisten der Branche vehement verneint – zu kostenintensiv, zu hardwareintensiv, zu politisch. Vergrößert man jedoch den Blickwinkel, weg vom reinen Ist-Zustand, so begründet sich das „Ja“ vor allem in der Veränderung des Geschäftsmodells, der Vertriebswege und der generellen Marktveränderung im Mobilitätsbereich.

Die Zukunft liegt sicher auch im „Heavy Metal“ – aber mit noch viel größerem Potential in der digitalen Infrastruktur für die gesamte Wertschöpfung von Mobilität. Die Branche tut sich noch schwer, diesen Scope zu erweitern. Und das obwohl wir von allen Industriezweigen, die aktuell in diesen Markt wachsen wollen, die besten Voraussetzung haben. Telekommunikationsfirmen, Energieversorger, Versicherer, Autobauer und nicht zuletzt die Internetbranche: Alle haben das Trendthema „Mobilitätanbieter“ für sich geclaimt.

Traditionelle Assets als Puzzlestück um den digitalen Kern eines Produktes

Wir denken jedoch noch zu stark um die bestehenden physischen Assets, wie Züge, Bahnhöfe etc. herum und referenzieren Wirkungskraft und Umsetzung digitaler Ideen vor allem aus den Erfahrungen bestehender traditioneller Services. Früher wurden Tickets am Schalter vertrieben – heute eben per App. Transformation im klassischen Stile. Wo wir hin müssen: Traditionelle Assets unter anderem als ein mögliches Puzzlestück um den digitalen Kern eines Services oder Produktes herum zu sehen. Einhergehend mit der Frage: „Womit habe ich früher Geld verdient und womit werde ich dies in Zukunft tun?“ Bleibt es zum Beispiel beim klassischen Ticketvertrieb oder sind es mehr und mehr die digitalen Datenstämme um den digital erfassten Kunden, die das Umsatzpotential bilden? Der Kauf eines Online- oder Mobile-Tickets wäre dann nur noch ein Nebenprodukt im eigentlich mal klassischen Vertriebsmodell.

Mutet disruptiv an, ist aber nur konsequent, sich diese Frage zu stellen. Und wenn die Bahnindustrie dies nicht selbst beantwortet, dann werden es sicher weiterhin andere für sie – und später ohne sie tun.

„Digital“ als großes Branchenschlagwort – es gibt Bewegung

Dass die Potentiale im Anfangsstadium erkannt wurden, zeigen erste Aktivitäten. Es werden Hackthons organisiert, Startup-Programme entwickelt, Acceleratoren gegründet und Innovationsabteilungen initiiert. Und auch auf der InnoTrans fand in diesem Jahr erstmalig in größerer Runde ein Startup-Pitch statt. Die Initiative CUBE lud Startups mit Branchenfokus Mobilität auf die Pitch-Bühne. Gepitcht wurden Ideen, die die Bandbereite an Mobilitätslösungen zeigten. Kein reiner Fokus auf gefühlte Bahnnähe also. Gewonnen hat das Startup „Ubitricity“: Ein Lösungsanbieter für smarte Ladestationen zur Förderungen von E-Mobilität.

CUBE-Pitch InnoTrans

InnoTrans Startup-Pitch Gewinner Ubitricity mit Mitgliedern der Jury

Die Chancen neuer Mobilität sind da – und sollten genutzt werden

Dies fasst exemplarisch dafür, wo die Chancen und das Wachstum liegen. Verdienen wir in Zukunft also auch Geld, wenn sich ein E-Auto-Besitzer Strom aus der Straßenlaterne zieht, oder autonom fahrende Shuttlebus-Anbieter Passagiere auf Basis von Datenanalysen von A nach B transportieren und Fahrpläne und Haltestellen im urbanen Raum damit also Geschichte werden? Warum nicht?

Das macht die Essenz eines Mobilitätsanbieters aus. Ein größeres und umfassenderes Serviceportfolio, das das Betriebssystem „Mobilität“ bildet – unabhängig vom Verkehrsmittel. Das ist auch die größte Chance, die die Digitalisierung mit sich bringt: die Möglichkeit, das Angebot zu erweitern, neue Geschäftszweige zu erschließen und darüber auch das klassische Kerngeschäft zu stärken und zu stützen.

Wir als gesamte Branche müssen uns noch mehr trauen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen.

 

Ein Kommentar von Manuel Gerres, Digital Strategy/Transformation/Innovation Expert, Swiss Federal Railways (SBB)
Manuel Gerres verantwortet die Entwicklung digitaler Prozesse, Geschäftsmodelle und Services im B2C- und B2B-Umfeld. Als internationaler Keynote-Speaker und Autor engagiert sich Manuel auch als Mentor in den Bereichen digitale Transformation und Startup-Business.

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Bild CUBE-Pitch: CUBE GmbH, Berlin