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IMG_0871_edit Gründerin Vanessa Lewerenz-Bourmer blickt zurück

Das Treffen ist in einem Hinterhof am Berliner Ostkreuz. Klinkerbau, fünfter Stock. Darunter ein Hot Yoga Studio, 38° C Betriebstemperatur. Der Fahrstuhl öffnet nur langsam die Türen zu einem Vorraum mit alten Fahrrädern. Der Coworking-Space hingegen, in dem Vanessa Lewerenz-Bourmer nun arbeitet, ist aufgeräumt, modern, fast clean. Ein Empfangstresen, ein Sofa, viele Rechner. Es ist still. Gedämpftes Licht, schummrig.

Für das Interview führt Vanessa in einen kleinen Konferenzraum mit gekalkten, kalten Wänden. Große Glastrennwände schirmen vom Großraumbüro ab. Schon vor der ersten Frage beginnt sie mit den Antworten:

Ich sehe Scheitern eher wie eine schlechte Note im Mathe-Test. Du hast halt mal eine Fünf. Und beim nächsten Mal hast du wieder eine gute Note. Es gibt sehr, sehr viele Leute, die eine Bauchlandung machen. Die Quote ist 1:10. Das Wort Scheitern ist ohnehin problematisch. Das Wort Misserfolg passt besser, weil du gleich die zwei Seiten der Medaille siehst. Denn im Miss-Erfolg steckt der Erfolg.

Also lieber wie in den USA, wo Scheitern zum guten Ton gehört?

In Amerika gehört Scheitern fast zu einer guten Gründungsgeschichte dazu. Jeder erfolgreiche Gründer muss Geschichten auf Lager haben, wo er es verbaut hat. Erfolg darfst du nicht genießen, wenn du vorher nicht schon zwei Fuckups hinter dir hast. Das ist zu brutal. Wir brauchen das Mittelding.

Wie kommen wir dahin?

Über eine sichtbare Debatte in den Medien. Ich finde das Thema Scheitern wird in Deutschland totgeschwiegen.

Dein Startup Leinentausch musste Anfang des Jahres Insolvenz anmelden, ein Münchner Unternehmen sprang als Käufer ein. Du bist danach aus dem Unternehmen ausgeschieden. Wie war diese Zeit für dich?

Es war der absolute Horror für mich. Ein Desaster. Ich musste mich von meinem „Baby“ verabschieden. Ich habe so lange wie möglich gekämpft. Die Einsicht, dass es nur über eine Insolvenz weiter funktioniert, kam ganz, ganz spät. Ich musste mich innerhalb weniger Tage entscheiden.

Vanessa – groß, schlank, kurz über 30 – ist heute komplett in Schwarz gekleidet. Sie redet ruhig, freundlich, aber auch ein bisschen distanziert. Ganz sicher ist sie sich bei dem Reporter vor ihr noch nicht. Bevor sie spricht, überlegt sie jetzt manchmal länger. Sie möchte nichts sagen, was sie nicht so meint.

Hast du dir für die Entscheidung einen Tag frei genommen?

Ganz ehrlich, nein. Ich war zu der Zeit schwanger, die Insolvenz kam kurz vor der Geburt meines Kindes. Da war ich gut beschäftigt. Ich finde Scheitern nicht schlimm, wenn du es verantwortungsbewusst machst. Das bedeutete in meinem Fall eine frühzeitige Insolvenz. Dadurch hatten wir eine sehr gute Gläubiger-Befriedigung und alle unsere Dienstleister haben ihr Entgeld erhalten. Das war mir wichtig. Es hätte für Leinentausch nichts geändert, noch eine Woche ins Land gehen zu lassen.

Schmerzt es, dass Leinentausch weiterbesteht – nur ohne dich?

Nein. Überhaupt nicht. Es war mir ein Herzensanliegen, dass Leinentausch weiterexistiert. Ich musste durch eine Insolvenz alle Altgesellschaftler enteignen – mich eingeschlossen. Nur dann war ein Verkauf möglich. Das war schmerzlich. Ich wäre gerne mit an Bord geblieben. Aber es war der einzige Weg, um dem Unternehmen weiter Zugang zu Cash und Wachstum zu ermöglichen.

Hättest du im Unternehmen weitergearbeitet?

Theoretisch war das möglich. Aber der neue Betreiber sitzt in München und der Lebensmittelpunkt meiner Familie ist derzeit in Berlin.

Woran ist Leinentausch gescheitert?

Es gab einige ungünstige Konstellationen.

Konstellationen?

Fehler, die ich gemacht habe. Zum Beispiel, dass ich als Erstgründerin ein kompliziertes Geschäftsmodell versucht habe, ohne signifikante finanzielle Ressourcen dahinter zu haben. Ohne gewichtige Investoren an Bord. Ein provisionsbasiertes Marktplatz-Modell, das basierend auf Kleingebühren organisch wächst – das funktioniert dann nicht. Wenn ich Leinentausch erneut gründen würde, würde ich viel früher Fundraising betreiben, um schneller und intensiver ins Marketing zu investieren.

Du sprichst von Fehlern – was waren die anderen Dinge, die nicht gut liefen?

Es gibt drei Sachen, die extrem wichtig sind. Gehe frühzeitig mit deiner Geschäftsidee an den Markt, um Feedback von den Kunden zu bekommen.
Das Zweite ist Netzwerken. In unserem Büro hing der Spruch: „Du kannst jedes Problem mit drei Anrufen lösen.“ Hast du wenig Ressourcen, wenig Kapital – dann ist es wichtig zu wissen, wen du anrufen musst, um dir Hilfe zu beschaffen. Ich habe am Anfang viel zu viel Zeit in meinen eigenen vier Office-Wänden verbracht.
Das Dritte, was super relevant ist: Frühzeitig die Sprache und Denke von Investoren lernen. Wenn ich mir meine Pitching-Slides von 2014 anschaue, dann wundert es mich heute nicht, dass wir damals keine guten Angebote hatten.

Bevor sie Fragen zum nächsten heiklen Thema beantworten soll, gibt es eine kleine Lockerungsübung. Sie soll den gefühlten Aktienkurs ihres Startups zeichnen. Eine gute Idee, findet sie, will aber mit Bleistift vorzeichnen. Bei der Stimmungskurve überlegt sie länger.

Gefühlter Aktienkurs_Leinentausch
Stimmungskurve_Leinentausch
Gefühlter Aktienkurs und Stimmungskurve bei Leinentausch.de

Wie geht es Nini und Filou?

Sie lacht. Die Frage nach ihren Hunden hat sie nicht erwartet.

Nini und Filou haben gerade ein sehr langweiliges Leben. Bei Leinentausch waren sie immer im Büro. Mittlerweile haben sie aber einen neuen Job: Sie sind zuhause und passen mit auf das Baby auf.

Wie kommt der Rest der Familie mit deinem Ende bei Leinentausch zurecht?

Es war natürlich Thema bei der nächsten Familienfeier. Die Tanten, die Onkel. Mein Vater ist Lehrer – eine Karriere bei der du 40 Jahre Stabilität hast. Das hätte er sich für seine Tochter sicher auch gewünscht. Ich glaube, er macht sich Sorgen um mich. Und das ist natürlich schade, dass sich jemand um eine 30-jährige Tochter Sorgen machen muss.

Wie hat er auf die Nachricht des Scheiterns reagiert?

Sie lächelt entschuldigend. Aber es ist klar: Mehr will sie nicht sagen. Familie ist ihr hier zu intim.

Redest du mit anderen Gründern über das Scheitern?

Ja, hin und wieder schon. Ich werde aber oft von jungen, weiblichen Gründerinnen angesprochen, die sich dafür interessieren, wie sie Unternehmensgründung und Kinder vereinbaren können. Gründerin und Mutter, das ist ein Spagat. Aber es ist machbar! Ich bin unendlich glücklich, dass ich in Deutschland in einem Land – und in Berlin in einem Ökosystem – wohne, das es mir ermöglicht zwei Rollen zu leben. Wer auch immer ein ernsthaftes Interesse daran hat, darf sich sehr, sehr gerne an mich wenden, um sich auszutauschen.

Das Interview ist fast zu Ende. Was fehlt, ist ein Foto. Doch das ist kompliziert. Das Licht stimmt nicht, sagt sie. Zu viele Schatten. Im Innenhof verhindert der Wind die ersten Aufnahmen. Dann sitzen auch die Haare. Besonders der Hintergrund mit Graffiti und einem Herz an der Wand gefällt ihr. Ein Herz – ganz wie ihr Herzensprojekt Leinentausch.

Hast du derzeit ein neues Projekt?

Ich arbeite da an etwas Neuem. Aber ich möchte noch nicht sagen, was es ist. Ich denke, Unternehmer zu sein, ist eine Persönlichkeitsfrage. Mich treibt Neugierde. Und der Wunsch, die Gesellschaft zu verändern. Das hat sich auch nicht nach der Insolvenz von Leinentausch geändert.

Bild: Michel Penke