ProSiebenSat.1-Zentrale in Unterföhring

Vor wenigen Tagen verkündete ProSiebenSat.1 die mehrheitliche Übernahme des Hamburger Adtech-Startups Esome. Analysen blieben beinahe aus; nur wenige Branchenmedien vermeldeten die Akquise als kurze News. Dabei erzählt der Deal mehrere Geschichten: Wie hat es das erst 2015 gegründete Adtech-Startup in so kurzer Zeit auf einen mutmaßlich knapp dreistelligen Millionen-Umsatz gebracht? Welche Rolle spielt dabei „Platform Lunar“, ein Adtech-Company-Builder, der von den früheren Performance Media-Machern Christoph Schäfer und Nico Shenawai gegründet wurde? Und welche Pläne verfolgt P7S1 mit dem Kauf der Social Advertising-Plattform? OMR blickt hinter die Kulissen.

„ProSiebenSat.1 erwirbt Mehrheit an Social-Advertising-Unternehmen Esome“, heißt es in der am 5. Dezember im Pressebereich des Medienkonzerns veröffentlichten Meldung. Die Technologie des Hamburger Startups solle in Zukunft zur KPI-basierten Optimierung von Display, Video und später auch für Addressable TV genutzt werden. Verantwortliche beider Unternehmen sprechen von der Stärkung des Adtech-Bereichs auf der einen, und von umfangreichen Werbelösungen bald auch außerhalb sozialer Netzwerke auf der anderen Seite.

Etwas überraschend kommt der Deal zu diesem Zeitpunkt schon, schließlich ging Esome erst Anfang 2015 an den Start. Als Ausgründung der Online-Mediaagentur Performance Media sollten Kunden über das Social-Advertising-Tool Facebook-Kampagnen buchen und optimieren können, weil externe Lösungen den Ansprüchen nicht mehr genügt hätten.

Group M-Beteiligung und schnelles Wachstum

Damit hat das Unternehmen offenbar den Nerv der Zeit getroffen. Group M, die größte Mediaagenturgruppe der Welt, war von Beginn an als Minderheitsgesellschafter an Bord. Neben dem Kundenstamm von Performance Media konnte Esome vermutlich also auch direkt Kampagnen von Group M-Kunden betreuen und optimieren. Der Zugang zu den größten Adspendern überhaupt dürfte Gold wert gewesen sein. Das Resultat: Eigenen Angaben zufolge setzen „200 nationale und internationale, darunter rund die Hälfte der DAX-Unternehmen, auf die Expertise von Esome“.

Im Bundesanzeiger veröffentlichte Jahresabschlüsse bestätigen eine offenbar von Anfang an sehr gute Auftragslage für Esome. So setzte das Hamburger Startup bereits ab dem 1. März 2015, im ersten Jahr der Geschäftstätigkeit, 36,7 Millionen Euro um. Ein Großteil dieser Summe wanderte logischerweise direkt in Social Media Kampagnen. Das Rohergebnis lag in den ersten zehn Monaten nach Start des operativen Geschäftsbetriebs bei rund 3,3 Millionen Euro –  wovon dann noch Gehälter, Mieten und weitere Fixkosten abgehen. 2016 wuchs der Umsatz um 78 Prozent auf 65,3 Millionen Euro und das Rohergebnis auf knapp 7,2 Millionen Euro – bei einem Jahresfehlbetrag von rund einer Million Euro.

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Wenn Esome das im Jahresabschluss 2016 prognostizierte Wachstum für dieses Jahr von 25 bis 35 Prozent einhalten kann, wird das Unternehmen zwischen 81,6 und 88,2 Millionen Euro umsetzen. Ob das Startup damit auch die Profitabilität erreicht, dürfte vor allem davon abhängen, ob die Marge weiter erhöht werden konnte. Aus Hamburger Branchenkreisen heißt es, dass Esome bereits in diesem Jahr den Break-Even mit einem EBITDA im mittleren einstelligen Millionen-Bereich erreicht hat.

Wie groß war der Deal?

Die zuletzt im August 2015 aktualisierte Gesellschafterliste weist darauf hin, wer jetzt vor allem vom Verkauf an P7S1 profitieren dürfte. Christoph Schäfer, ehemaliger Performance-Media-Geschäftsführer, hält laut Handelsregister über seine eigene Beteiligungsgesellschaft CHS mit 33,12 Prozent die meisten Anteile. Es folgen die Mutter-Holding von Performance Media, die Performance Interactive Alliance (PIA), mit 21,52 Prozent, Labora Capital UG von den Geschäftsführern Hansjörg Blase sowie Christoph Brust mit zwölf Prozent, die Group M mit zehn Prozent und Nico Shenawai, ebenfalls ehemaliger Performance-Media-Geschäftsführer, mit 5,78 Prozent. Die restlichen Anteile verteilen sich unter anderem auf die anderen beiden Esome-Geschäftsführer Falk Bielisch und Manuel König, sowie auf Geschäftsführer weiterer Companys der PIA-Holding.

Auf Nachfrage von OMR zu Kaufpreis, Beteiligungshöhe und weiteren Details wollten sich sowohl Esome, als auch P7S1 nicht weiter äußern. Die Übernahme stehe unter Vorbehalt der Genehmigung durch die zuständigen Kartellbehörden; die Pressemitteilungen beinhalten alles, was man aktuell sagen könne. Laut Milbank, der M&A-Kanzlei von ProSiebenSat.1, geht es bei dem Deal um 90 Prozent der Anteile an Esome. Damit dürfte sehr wahrscheinlich sein, dass es sich bei den restlichen zehn Prozent um den weiterhin bestehenden Anteil der Group M handelt.

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Wie viel P7S1 am Ende wirklich für Esome bezahlt, lässt sich von außen zwar noch nicht konkret feststellen (der Jahresbericht von P7S1 kommt erst in einigen Monaten). Auf Basis von marktüblichen Multiples – also Multiplikatoren bei der Unternehmensbewertung – und Einschätzungen aus der Branche lässt sich aber zumindest ein Näherungswert ermitteln. Als grobe Faustregel lässt sich sagen: Multipliziert man das EBITDA, also das Ergebnis vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen auf Sachanlagen und Abschreibungen auf immaterielle Vermögensgegenstände, mit Faktor zehn bis zwölf, erhält man einen recht soliden Näherungswert für den Verkaufspreis.

Im Fall von Esome und einem kolportierten EBITDA im mittleren einstelligen Millionen-Bereich läge der Verkaufspreis demnach irgendwo zwischen 40 (4 Millionen Euro mal zehn) und 72 (6 Millionen Euro mal zwölf) Millionen Euro. Ob der Deal eine Earn-Out-Klausel, also eine später eventuell fällige, erfolgsabhängige Zahlung, enthält, bleibt ebenfalls Spekulation. Die vergleichsweise kurze Geschäftstätigkeit von Esome und die zumindest bis 2016 nicht erreichte Profitabilität würden allerdings dafür sprechen.

Welchen Anteil hat „Platform Lunar“?

Christoph Schäfer, bis zur Abwicklung des Verkaufs an P7S1 größter Gesellschafter von Esome, will zur Transaktion von Esome zwar auch keine Stellung beziehen. Allerdings erklärt er erstmals gegenüber OMR, an was er gemeinsam mit seinem langjährigen Geschäftspartner Nico Shenawai in den letzten anderthalb Jahren gearbeitet hat. Ende 2015 hatten beide die Geschäftsführung von Performance Media verlassen, um sich neuen Projekten im Adtech-Umfeld zu widmen.

Was das im Klartext heißt, kann man schon länger auf dem Linkedin-Profil von Nico Shenawai erahnen; seine aktuelle Jobbezeichnung lautet dort seit 2016 „Founder Platform Lunar“. In der entsprechenden Company-Beschreibung heißt es: „We build online marketing companies – Platform Lunar is an independent company builder focusing on Marketing Technology.“ Insgesamt 45 Mitarbeiter arbeiten laut Christoph Schäfer aktuell in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, und Hamburg für das Unternehmen.

„Platform Lunar ist ein vertikaler Company-Builder für den Adtech-Bereich. Die Infrastruktur haben wir in den letzten 18 Monaten erfolgreich komplett für Esome eingesetzt“, so Schäfer. „Das war sozusagen der Praxis-Test, ob alles so funktioniert, wie wir uns das vorstellen.“ Nach dieser Phase wollen Schäfer und Shenawai mit Platform Lunar jetzt das Tempo erhöhen – und pro Jahr mindestens ein bis zwei neue Companys im Adtech-Bereich gründen. „Der nächste Launch ist für Anfang bis Mitte 2018 geplant. Das neue Projekt wird ‚Dynamic Audience‘ heißen und ein sehr Publisher-orientiertes Modell sein: sehr technologisch, im Prinzip ein Ad-Network der nächsten Generation.“ Schäfer sagt zu seinem gesamten Vorhaben: „Wir gehen mit Adtech und Company-Building bewusst antizyklisch Themen an. Keines der beiden Themen ist gerade gehyped.“ Das Vorhaben klingt entsprechend abwegig, wenn nicht Christoph Schäfer dahinter stünde, der bislang durch extrem smartes Vorgehen und zahlreiche erfolgreiche Exits (darunter der „100-Millionen-plus-Superseller Performance Media“) aufgefallen ist. Generell muss man Schäfer (und Shenawai) damit neben Thomas Falk (eValue) oder Mark Grether (Sizmek) wohl im sehr kleinen Kreis der deutschen Player in der globalen Adtech-Champions-League sehen.

Starke Wette: ProSiebenSat.1 baut sich ein „Full Ad Stack“

Was P7S1 im Detail mit Esome vorhat, lässt sich aus den Infos der Pressemitteilungen nur erahnen. Dass aber ein größerer, langfristiger Plan dahinter steckt, deuten zumindest die häufigen Erwähnungen von „Addressable-TV“ an. Schon länger finden sich im Portfolio vom Vermarkter Sevenone Media mehrere Formate der – einfach gesagt – Fernsehwerbung mit Targeting. Vorausgesetzt, der Fernseher verfügt über einen Internetzugang (Smart TV), lassen sich so klassische TV-Spots mit Mehrwerten des digitalen Marketings kombinieren. Targeting nach Orten, Wetter oder Uhrzeiten sind so schon jetzt kein Problem.

P7S1 investierte zuletzt sehr konsequent in den Aufbau eines eigenen „Full Ad Stacks“, will also die gesamte Wertschöpfungskette im digitalen Marketing abdecken – und nimmt damit als einzige deutsche Company bewusst den Wettbewerb mit Google und Facebook an. Mitte 2015 übernahm der Medienkonzern zu diesem Zweck die Mehrheit an der Freiburger Technologie-Holding Virtual Minds. Zu der Unternehmensgruppe zählen Adtech-Companys wie Adition (Adserver), Yieldlab (SSP), Active Agent (DSP) sowie Adex (DMP & Adverification). Nur wenige Wochen später folgte die mehrheitliche Übernahme der Programmatic-Video-Plattform Smartstream.tv.

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Es sind aber nicht nur Akquisitionen wie diese, die die Ambitionen aus Unterföhring verdeutlichen. Auch personell und strukturell wird das digitale Geschäft des Konzerns verstärkt. Vor wenigen Monaten kam Bernd Hoffmann als neuer Geschäftsführer für den Bereich Advertising Platform Solutions. Hoffmann war zuvor Chief Client Officer bei der Group M. Ab Januar 2018 wird im Zuge eines Konzernumbaus außerdem das gesamte Geschäft in drei Bereiche aufgeteilt. Unter „Entertainment“ werden in Zukunft so beispielsweise unter anderem TV, Advertising Platform Solutions und der Investmentarm Seven Ventures gebündelt. Zusätzlich wird ab Januar Jana Eisenstein als Executive Vice President neben CEO Jens Mittnacht die Geschicke von Advertising Platform Solutions leiten.

Mit dem Fokus und entsprechenden Investitionen im Adtech- und Addressable-TV-Bereich peilt P7S1 einen Milliarden-Markt an. Branchenbeobachter rechnen damit, dass der europäische Adressable TV-Markt schon in fünf Jahren bis zu zehn Milliarden Euro schwer sein wird. Für P7S1 gibt es im Prinzip nur zwei Szenarien: Entweder es gelingt, eine funktionierende Vertriebsplattform für Addressable TV zu bauen und zu etablieren – oder Google und Facebook sammeln mit der Zeit auch diese Budgets ein. Eine riskante, mutige und auf jeden Fall spannende Wette.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Online Marketing Rockstars.

Bild: ProSiebenSat.1