Sie kommen aus Estland und sollen die letzte Meile revolutionieren: Die Lieferroboter von Starship Technologies.
Sie kommen aus Estland und sollen die letzte Meile revolutionieren: Die Lieferroboter von Starship Technologies.

Gibt es noch Fragen? Der Botschafter blickt knapp unter dem Rand seiner Brille hindurch, die Journalisten wissen auch nicht so recht – noch Fragen? Auf dem Konferenztisch summt leise der Projektor, an der Wand zeigt er die letzte Slide des bereits geführten Vortrags an. Smart Meter, intelligente Strommessung, in Estland längst überall verbreitet, in Deutschland ist das natürlich alles sehr kompliziert, langwierig und teuer.

Fragen, davon hatten die Journalisten schon viele gestellt zur digitalen Wunderwelt Estlands, aber irgendwie hatte das für eine skurrile Stimmung gesorgt, als hätten die einen mit den Fragen so wenig anfangen können wie die anderen mit den Antworten. Wem gehören die Daten, die über die Nutzer gesammelt werden? Die Frage hatte kommen müssen. „Die kann ich den Energieversorgern per Knopfdruck geben und die können mir dann ein besseres Angebot machen. Dann haben sie doch die Daten.“ Pause.

Mit am Tisch sitzen neben dem Botschafter Mart Laanemäe noch Kristiina Omri, Harri Mikk, Margus Simson und Toomas Talts. Keine Namen, die man aus den Medien kennen muss, aber Menschen, die wissen, wie man beeindruckt. Zusammen verkörpern sie das Digitale Wunderland Estland, wie es in Großbuchstaben schon auf der Einladung stand. Wie in einer Wunderwelt kommt man sich auch vor, wenn die fünf Esten von ihrem Land erzählen.

Zwei Stunden für die Steuererklärung, die Rückzahlung gibt es dann kurz darauf. Ein Unternehmen gründen? Geht an einem Tag. In Estland kann man alles Behördliche online erledigen, außer heiraten, sich scheiden lassen und Immobilien verkaufen. Wichtige Basis für all das ist die Blockchain, an dieser Stelle wären die meisten deutschen Politiker wohl schon thematisch raus, auch wenn sie den Begriff „natürlich kennen“. Der estnische Ministerpräsident unterschreibe derweil schon lange keine Gesetze mehr auf Papier, erzählt Kristiina Omri, sie ist Wirtschaftsdiplomatin hier in Deutschland, bald kehrt sie nach Estland zurück, um sich dort weiter um die Digitalisierung ihres Landes zu kümmern.

Vielleicht würden die Deutschen zu lange überlegen, wie die perfekte digitale Welt aussehen könnte, hatte Margus Simson vermutet, er ist Manager der estnischen Luminor Bank. In Deutschland müsse es immer einen 1.000-Seiten-Masterplan geben, der alles bedenkt und am Ende nichts bewirkt, das Bild hatte er vom Botschafter aufgegriffen. Die Esten gehen hart mit Deutschland ins Gericht, vielleicht fühlt es sich als Zuhörer aber auch nur deshalb so an, weil man sich irgendwie ertappt fühlt.

In dem baltischen Land jedenfalls mache man lieber viele kleine Schritte als einen großen zeitfressenden. Oder wer es in der Tech-Lingo braucht: Man arbeitet agil. Und auch, wenn das in einem Land mit insgesamt weniger Einwohnern als Hamburg einfacher sein mag als in einem Land wie Deutschland, das fast 64 mal größer ist – man kann den Esten ihre Leistung nicht absprechen. Estland ist kein reiches Land, ganz im Gegenteil. „Schon deswegen müssen wir in kleinen Schritten denken, große können wir uns nicht leisten.“

Möglich geworden ist das Digitalwunderland, weil schlaue Menschen nach dem Fall der Sowjetunion die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Sie haben nicht versucht, aufzuholen, was andere Länder hatten, sondern sie haben nach vorne geschaut. Festnetztelefone waren in der Vergangenheit schwer zu bekommen, also ist das gesamte Land gleich auf Mobiltelefone umgestiegen. Die Umstellung auf eine digitale Verwaltung hat vor 18 Jahren begonnen, heute machen gerade noch fünf Prozent der Esten ihre Steuer auf Papier, aus deutscher Sicht ist das fast unvorstellbar.

Der frühe Umstieg auf Mobiles und Digitales hat auch dazu geführt, dass in Estland eine beachtliche Startup-Szene entstanden ist. Die große Erfolgsgeschichte ist Skype, auch wenn viele gar nicht wissen, dass die Chat-Software, für Microsoft 8,3 Milliarden Dollar bezahlt hat, aus dem baltischen Land stammt.

Das Unternehmen Starship Technologies, das kleine Lieferroboter baut und in das unter anderem Daimler investiert hat, stammt ebenfalls aus der estnischen Hauptstadt Talinn. Hier in Deutschland zuckeln die sechsrädrigen Gefährte schon im Schritttempo durch Hamburg, getestet werden sie vom Essenslieferdienst Foodora, aber auch andere sind interessiert. Starship ist eines der Vorzeigeunternehmen aus Talinn, gestartet wurde es von Ahti Heinla und Janus Friis, die auch schon Skype mitgegründet hatten.

Apropos Unternehmertum. Auch der estnische Staat will aus seiner Vorreiterstellung beim digitalen Staatswesen Kapital schlagen. Dazu hat die Regierung schon vor einiger Zeit die virtuelle Staatsmitgliedschaft eingeführt. Wer eine Gebühr bezahlt, darf offiziell Este werden und wenn er ein Unternehmen gründet, hat er damit Zugang zum EU-Binnenmarkt. 30.000 E-Mitgliedschaften und 4.000 damit verbundene Unternehmen gebe es schon, erzählt Kristiina Omri. Was der Staat damit verdient hat? Die Diplomatin erklärt es so: Zwei Prozent des Bruttosozialprodukts – so viel wie die Nato für die Mitgliedschaft verlangt. In anderen Worten, Estland finanziert seine Sicherheit durch die virtuelle Bürgerschaft.

Gerade hat der Direktor des estnischen E-Residency Programms Kaspar Korjus verkündet, auf Medium – wo sonst?, dass das Land einen zweiten Anlauf in Richtung einer Kryptowährung („Estcoin“) starten will. Den ersten hatte EU-Zentralbankchef Mario Draghi im Spätsommer abrupt gestoppt: Kein Mitgliedsland könne eine eigene Währung neben dem Euro einführen!

Doch Korjus will sich nicht von der Idee abbringen lassen. „Wir wollen den Estcoin starten – und das ist nur der Anfang!“, drei Möglichkeiten schlägt er vor, die man allesamt einführen könne, „ohne gleich die EU-Zentralbank zu alarmieren“: ein Loyalty-System, eine digitale Unterschrift oder einen an den Euro gebundenen „stable coin“. Die Möglichkeit von vertrauenswürdigen ICOs soll das Land noch attraktiver machen für E-Residents. Und noch mehr Einnahmen für den Staat generieren. Irgendwann sollen die Esten keine Steuern mehr zahlen müssen, weil der Staat sich selbst finanziert, das ist der Plan.

Auch für die fünf Esten hier in der Botschaft, die mit Bildern ländlicher Trachten geschmückt ist, scheinen die Möglichkeiten des Digitalen unendlich, man nimmt ihnen ab, dass sie viel mehr Chancen als Gefahren sehen. Dabei hat das Land auch schon mit erheblichen Herausforderungen kämpfen müssen. In der Identity Card, dem digitalen Personalausweis der Esten, klaffte eine Lücke. Die hätte – theoretisch jedenfalls – missbraucht werden können, um weitreichende Befugnisse des Karteninhabers zu erschleichen, auch „E-Residents“ waren betroffen.

Regierungschef Jüri Ratas hatte von einem „ernsthaften Sicherheitsvorfall“ gesprochen und einen Staatsbesuch abgesagt. „Na und?“, sagen die fünf Esten fast im Chor. Fehler könne es immer geben, beeindrucken lassen dürfe man sich davon nicht. „Es kommt nur darauf an, dass man schnell reagiert.“ Estland sei und werde ein E-Staat bleiben. Keine Frage.

Bild: Starship Technologies