Ein Bild aus frühen Tagen: das StudiVZ-Team im Sommer 2006

StudiVZ wird zehn Jahre alt – Gründerszene würdigt das Jubiläum mit einer Artikelreihe. Zu Spitzenzeiten zählte das Netzwerk 16 Millionen Mitglieder, dann begann der Abstieg. Über den Untergang des Social Networks in Deutschland wurde viel geschrieben. Dabei wird der unglaubliche Aufstieg von StudiVZ fast vergessen. Grund genug, noch einmal genau auf die Anfangstage dieses einmaligen Startups zu schauen.

Es ist im Spätherbst 2005, als die beiden Studenten Ehssan Dariani und Dennis Bemman ihr Startup StudiVZ gründen. Doch die Geschichte von StudiVZ beginnt eigentlich schon viel früher. Um den Aufstieg des ersten massenwirksamen sozialen Netzwerks Deutschlands zu verstehen, muss man weiter zurückgehen – einmal ins Jahr 1997, und dann noch weiter, ins Jahr 1986.

1986 flüchtet die Familie des sechs Jahre zuvor in Teheran geborenen Ehssan Dariani aus dem Iran nach Ost-Berlin, von dort geht es weiter in die Bundesrepublik. Bis 1992 lebt die Familie in Blaubeuren bei Ulm, dann in Kassel. Die Erfahrung hat Dariani zum Außenseiter gemacht, jedenfalls hat er sich immer so wahrgenommen. Er war der „Unterschichtsboy“, der, der sich zehn Mal mehr anstrengen musste, um das gleiche Level an Chancen zu erreichen wie die anderen aus den privilegierteren Familien. Aber Dariani hat sich irgendwann entschieden, nicht dazugehören zu wollen, sondern seine Rolle als unangepasster Outcast angenommen. Es sind solche Eigenschaften, aus denen Gründer gemacht sind: der Wille, Althergebrachtes in Frage zu stellen, das nötige Maß an Verrücktheit und kreativer Energie, dazu geringe Chancen in den üblichen, ausgetretenen Karrierepfaden. „Fast schon zwingend“ sei er zum Gründer geworden, sagt Dariani heute.

1997 ist das Jahr, in dem der damals 18-jährige Dennis Bemmann aus Salzgitter den fünften Platz bei „Jugend forscht“ in der Kategorie Mathematik und Informatik gewinnt. Den Preis bekommt Bemmann für ein selbst entwickeltes Computerspiel, bei dem Nutzer nicht selbst spielen, sondern zuvor geschriebene Programme gegeneinander antreten lassen. RoboCom ist einige Jahre lang richtig populär, wichtiger aber ist Bemmanns Teilnahme an dem Wettbewerb. Er, der Computerfreak, lernt lauter spannende Leute kennen, drei Jahre später gehört Bemmann zu den Gründern des Deutschen Jungforschernetzwerks, einem Alumniverein für „Jugend forscht“-Gewinner. Für dessen Mitglieder entwickelt er eine interne Website, auf der die Mitglieder Profile anlegen, Interessen angeben, Fotos hochladen konnten: Dennis Bemmann hatte ein erstes Social Network programmiert.

Über den Alumniverein treffen sich die StudiVZ-Gründer zum ersten Mal. Dariani, der 1995 mit einem Warnsystem für Gleisarbeiter bei „Jugend forscht“ teilgenommen hatte, taucht bei einer der Veranstaltungen auf. Dann verlieren sie sich aus den Augen. Bemmann studiert Informatik und Islamwissenschaften in Berlin, Dariani beginnt ein Studium der theoretischen Physik in Göttingen, das er abbricht. Ohne wirklich zu wissen, wie er sich das finanzieren soll, meldet er sich für die Aufnahmeprüfung der prestigeträchtigen Business School in St. Gallen an. Er wird angenommen, schafft den Bachelor, aber aufs Neue macht er die Erfahrung, nicht dazuzugehören – nicht zu den Schweizer Studenten, die lieber unter sich bleiben, nicht zu den Deutschen, die alle aus Düsseldorf, Frankfurt oder München zu kommen scheinen und mit einem Selbstbewusstsein durch die Welt gehen, als ob ihnen alles gehört. Dariani grenzt sich zunehmend selbst aus, er trägt lange Haare und einen schwarzen Ledermantel.

Dennis Bemmann als Jugend-Forscht-Gewinner 1997

Während des Studiums versucht sich Ehssan Dariani schon an ersten Eigengründungen: Er richtet eine Website ein, die Unterlagen vertreibt, mit der man sich für die Aufnahmeprüfung in St. Gallen vorbereiten kann, scheitert aber am Widerstand von Universität und Studentenschaft. Dann will er Kosmetik- und Pflegeprodukte für Herren online verkaufen, doch die Hersteller wollen nicht mit ihm zusammenarbeiten, sie haben Angst vor Preisdumping im Netz.

Nach dem Bachelor-Abschluss ist Dariani orientierungslos, er hat 20.000 Euro Schulden. Es ist das Frühjahr 2005, während seine Kommilitonen bei Banken und Versicherungen anfangen, entscheidet sich Dariani für ein Praktikum bei einem Startup in Leipzig: Spreadshirt. Das Unternehmen, bei dem Nutzer T-Shirts bedrucken und dann selbst verkaufen können, wurde drei Jahre zuvor von Lukasz Gadowski und Matthias Spieß während ihres Studiums an der Leipziger Handelshochschule gegründet. Dariani und Gadowski kennen sich aus Kassel, wo beide das Wilhelmsgymnasium besuchten.

Nach ein paar Wochen in Leipzig darf Dariani zur US-Tochter Spreadshirt, Inc. In einem Vorort von Pittsburgh arbeitet das Team quasi von einer Fabrikhalle aus, Dariani macht Marketing, das gefällt ihm, vor allem aber durchleuchtet er nebenbei den US-Markt nach Geschäftsideen, die es in Deutschland noch nicht gibt. Netflix zum Beispiel, damals ein Versandhandel für Leih-DVDs, klingt nach einer Möglichkeit.

Dann aber entdeckt Dariani ein soziales Netzwerk für Studenten: Facebook. Die Seite von Gründer Mark Zuckerberg ist noch nicht einmal anderthalb Jahre alt, aber schon jetzt haben 85 Prozent aller US-College-Studenten einen Account, zwei Drittel davon loggen sich täglich ein. Dariani soll für Spreadshirt Werbung auf der Seite buchen, aber um sich anzumelden, braucht er eine College-Email-Adresse. Ein Bekannter des lokalen Spreadshirt-Chefs ist Professor in Pittsburgh, er überlässt Dariani seinen Account. „Ich war baff“, erinnert der sich heute. „Zig Millionen Amerikaner nutzen tagtäglich ein Kommunikationsmittel, das in Kontinentaleuropa keiner kennt! Es wäre doch cool, das auch in Deutschland zu haben.“

Er weiß aber auch: Um so etwas umzusetzen, braucht er einen Techie. „Ich kann ja nicht mal richtig Microsoft Excel“, sagt er. Anfang Juli schreibt Dariani an Dennis Bemmann: Lass uns das in Deutschland probieren.

Bemmann steht kurz vor dem Studienabschluss, ihm fehlt nur noch die Diplomarbeit. „Ich bin wohl nicht der risikofreudigste Mensch der Welt“, gibt Bemmann heute zu. Aber der Zeitpunkt zum Ende des Studium sei ideal gewesen, „weil man nichts zu verlieren hat“. Er sagt sich: „Wenn das was wird, ist gut. Wenn nicht, kann ich zumindest sagen: Ich hab mal was gegründet.“ Für Dariani ist die Gründung von StudiVZ eher „wie eine Verzweiflungstat. Wenn ich einen tollen Lebenslauf, ein tolles Netzwerk, die Chance auf ein hohes Gehalt bei den Big-Five-Companys und einen komfortablen Einstieg gehabt hätte, dann hätte ich das vielleicht nicht gemacht.“ Gleichzeitig denkt auch er: Das Risiko ist überschaubar. „Nach einem halben Jahr weißt du, entweder fliegt das Ding und dann wirst du reich und berühmt, oder es fliegt nicht, und dann musst du dir erstmal einen Beraterjob in Berlin suchen.“

Noch im Sommer beginnen sie in Berlin mit der Arbeit an der Seite. Gewerkelt wird im WG-Zimmer oder im Café. Dass sie sich, was Funktionalität und Design angeht, stark am US-Vorbild orientieren, bringt ihnen später Kritik ein. Facebook verklagt den deutschen Klon deshalb sogar, doch verurteilt wird StudiVZ nie.

Am 30. Oktober 2005 sitzt Ehssan Dariani in einem Internetcafé am Rosa-Luxemburg-Platz und meldet das Unternehmen an. Weil das billiger ist als eine deutsche GmbH, lässt Dariani das Startup von einer Agentur in Großbritannien eintragen. Zum Start hält er 45,9 Prozent der Anteile, Bemmann 44,1 Prozent, die restlichen 10 Prozent Spreadshirt-Chef Lukasz Gadowski. Ihn und seinen Mitgründer Matthias Spieß konnten sie überzeugen, 10.000 Euro Startkapital zu geben. Im Vergleich zu heutigen Seed-Runden ist das „extrem wenig“, gibt Bemmann zu. „Gut, wir waren auch ein ziemlich chaotischer Haufen. Aber wir haben aus unseren wirklich bescheidenen Mitteln das Maximum herausgeholt.“ Gadowski berät die beiden Junggründer auch, er hat auf viele der Fragen, die beim Startup-Aufbau immer wieder auftauchen, schon eine Antwort.

Bilder: Dariani, Jugend forscht

Noch ein Bild aus dem Jahr 2006: Ehssan Dariani im Facebook-Hauptquartier

Ein Launch-Datum gibt es für StudiVZ nicht. Es werden Alpha- und Beta-Versionen entwickelt, die von Freunden getestet und immer wieder verworfen werden. Alle zwei, drei Tage macht Bemmann das System wieder platt. Erst die Version vom 2. November 2005 bleibt bestehen. Von diesem Datum stammt auch das erste StudiVZ-Profil, es ist Bemmanns. Als Lieblingsspruch gibt er ein Zitat von Antoine de Saint-Exupéry an: „Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann“. Noch ist die Seite passwortgeschützt. Am 11. November wird der Schutz entfernt – StudiVZ ist online.

Die beiden Gründer sind ein ungleiches Paar: Bemmann, dessen Hobby das Lernen von Fremdsprachen ist, ein stiller Typ; und daneben Dariani, der ständig plappert und jeden noch so irren Gedanken rauslassen muss, auch wenn er ihn manchmal besser für sich behalten hätte. Dem Unternehmen wird dieser Charakterzug noch krasse Imageprobleme verschaffen, als Ehssan Dariani etwa eine Party-Einladung im Stile einer Nazi-Zeitung verschickt oder Videos ins Netz lädt, in denen er junge Frauen belästigt.

Aber für den Aufbau eines sozialen Netzwerks, das, um überhaupt funktionieren zu können, erst einmal Mitglieder braucht, ist Dariani der perfekte Typ. StudiVZ muss das Henne-Ei-Problem überwinden, an dem so viele soziale Medien gescheitert sind. Wer sich zu Anfang anmeldet, der findet sich in einer Wüste wieder, wo es kaum Mitglieder gibt und noch weniger Interaktion. Eine kritische Masse an Mitgliedern muss gewonnen werden, ohne dass es für die besonders viele Anreize dafür gibt, sich anzumelden. Man kann das über traditionelles Marketing versuchen. Aber dafür hat StudiVZ kein Geld.

„Man braucht für ein soziales Netzwerk einen Kern aktiver Nutzer, die selbst von der Sache begeistert sind, weil es nur dann von selbst wachsen kann“, sagt Bemmann. „Bevor StudiVZ zum Massenphänomen wurde, haben viele Leute gar nicht verstanden, wozu sowas eigentlich gut sein soll.“ Die Gründer müssen persönliche Überzeugungsarbeit leisten. Vor allem einem liegt das: „Ehssan hat unermüdlich auf die Leute eingeredet. Er kann das sehr gut. Und ist sich nicht zu schade dafür.“

Von Dariani stammt laut eigener Aussage auch die Wortschöpfung „Gruscheln“. Das ist zwar auch bei der Facebook-Funktion „Poke“ abgeschaut, sorgt aber dafür, dass viele erst einmal inaktive Nutzer zurück auf die Plattform kommen – und Bekannte entdecken. Wer eine Email bekommt mit dem Inhalt „Du wurdest gegruschelt“, der meldet sich wieder an, schickt dem „Gruschler“ eine Nachricht, so beginnen viele Konversationen. Dariani erinnert sich: „Ich habe bis März 2006 jeden einzelnen Nutzer privat angeschrieben. Teilweise hatten die Leute ihre Handynummer im Profil stehen, da habe ich sie einfach angerufen.“

StudiVZ wächst, zwar langsam, dafür sind die ersten Nutzer loyal, überzeugt vom Produkt, und sie überzeugen andere. Diese Multiplikatoren machen den Unterschied gegenüber Konkurrenten wie Stayfriends, Unister und Studylounge, die viel Geld in traditionelle Marketingmaßnahmen stecken. StudiVZ wächst organisch und es wird irgendwann viral gehen. Für die ersten 5.000 Nutzer braucht das Netzwerk aber erst einmal bis Ende März 2006.

Noch ein Blick ins StudiVZ-Büro, ebenfalls im Sommer 2006

Von Euphorie sind sie in der Zeit weit entfernt. „Es war eine miese Stimmung am Anfang“, sagt Dariani. „Es war kalt, es war nass, tagtäglich gehst du mit Zweifeln ins Bett. Meine Mutter fragte mich, warum andere Leute studieren und danach im Anzug ins Büro gehen und ich nicht.“ Sie arbeiten 18 Stunden am Tag.

Die beiden Gründer rekrutieren vor allem zur Unterstützung der Entwicklungsarbeit die ersten Praktikanten. Mehr als ein halbes Dutzend Mitarbeiter hat das Team aber in den ersten sechs Monaten nie, am Anfang sitzen sie zu dritt mit Laptops auf der Bettkannte, telefoniert wird im Hausflur, bis sich die Nachbarn beschweren. Früh dabei sind etwa Julian Artopé, heute Afrika-Chef des Schweizer Ringier-Verlags, Tobias Walter, heute CFO des US-Startups Shoeboxed, oder Agnieszka Walorska, heute Geschäftsführerin der Berliner Agentur Creative Construction.

Weitere Investoren steigen ein, die meisten mit Kleckersummen, manche zahlen ihre Beiträge in Monatsraten. iLove-Gründer Christian Vollmann steigt ein, der damalige Spreadshirt-Mitarbeiter Kolja Hebenstreit, Business Angel Oliver Jung, Gate5-Gründer Christophe Maire, der 19-jährige Harvard-Doktorand Aaron Dessauer, außerdem Dario Suter, in St. Gallen Darianis Kommilitone und bei StudiVZ später auch operativ als CMO an Bord. Im April 2006 stößt schließlich der European Founders Fund der Samwer-Brüder hinzu, einige 100.000 Euro sind beisammen.

Dariani und Bemmann wissen, dass sie eine dritte Person im Führungsteam brauchen, einen Kaufmann, einen „BWL-Schnösel, der was von Management versteht“, so hat Dariani das später mal gehässig formuliert. Ihre erste Wahl springt ab, aber bei Merrill Lynch in London, wo er arbeitet, kennt er einen Kollegen. Dem erzählt er von den zwei verrückten Jungs in Berlin, ein bisschen Himmelfahrtskommando – vielleicht wäre das etwas? Der Banker ist ein WHU-Absolvent namens Michael Brehm, er hat seit März einen StudiVZ-Account. In Hamburg treffen sich Dariani, Bemmann, Brehm und Suter zum ersten Mal. Dariani hat eine Lebensmittelvergiftung und verschläft das halbe Meeting. Aber es passt, Brehm steigt als dritter Geschäftsführer ein.

Dennis Bemmann zollt ihm dafür noch heute Respekt, schließlich musste er dafür „seinen gutbezahlten Job kündigen“. Von Ehssan Dariani hört man andere Töne, er betont, dass Brehms VZ-Account vom März 2006 datiere – „viele Monate nach Idee (Juli 2005) und Gründung (Oktober 2006)“. Dariani hat sich später mit seinem einstigen Kollegen verkracht, ihm sogar gerichtlich untersagt, sich als StudiVZ-Gründer zu bezeichnen. „So etwas wie den Facebook-Film ‚The Social Network‘ könnte man auch über StudiVZ drehen“, bilanziert Dariani vollkommen korrekt.

Brehms Einstieg gibt dem Startup den ersten Professionalisierungsschub. „Er hat die Firma wirklich vorangebracht“, sagt Bemmann. „Ehssan ist nicht derjenige, der stundenlang an einem Excel-Sheet feilt, aber ab einem bestimmten Punkt muss man seine Hausaufgaben schon ordentlich machen, damit einem nicht alles um die Ohren fliegt.“

Die Gefahr besteht zu der Zeit durchaus. Denn StudiVZ schafft es tatsächlich: das virale Wachstum, eine exponentielle Kurve. Im Mai ist sich Dariani zum ersten Mal sicher, „dass das Konzept zündet“. Aber für das Wachstum ist weder die Technologie gerüstet noch das Unternehmen vorbereitet. Im Frühsommer 2006 hat das Startup gerade sein erstes eigenes Büro bezogen, in den Edison-Höfen in Mitte, inklusive massivem Wasserschaden. Kurze Zeit später erreicht StudiVZ erstmals eine Viertelmillion Mitglieder.

Bilder: Dariani

Jahre später: Dennis Bemmann als Bergfürst-Vorstand

„Es gab einen heftigen Sprung bei Nutzerzahlen und Aktivität“, sagt Dariani, „wie bei angereichertem Uran, das die kritische Masse erreicht“. Vor allem lokale Netzwerkeffekte sind dafür verantwortlich. Die Gründer erkennen, dass sie an einer Hochschule etwa 300 Nutzer erreichen müssen, damit das Wachstum von selbst läuft. Also versuchen sie, an möglichst vielen Unis über die magische Grenze zu kommen. Dafür werden Studenten-Organisationen angeschrieben, den Jungliberalen erzählen sie von den Möglichkeiten des Netzwerkens, den Jusos vom Vorhaben, die Anonymität in der Studentenschaft zu überwinden. Sie sollen ihre Mitglieder dazu anhalten, sich anzumelden – genauso wie die „Campus Captains“. Die lokalen StudiVZ-Botschafter sind eine weitere Erfindung Darianis, sie bekommen neben ihrem Titel T-Shirts und werden zu Events eingeladen.

Sie verdeutlichen vielleicht wie nichts anderes den Zauber, der StudiVZ zu der Zeit eigen war. Man stelle das nur einmal vor: Wer würde sich heute hinstellen und unentgentlich Werbung machen für eine Online-Plattform wie Facebook? StudiVZ wird als familiär wahrgenommen, davon, dass diese Plattform irgendwann Geld verdienen muss, ahnen ihre Fans nichts (oder wollen es nicht wissen).

Sie verzeihen dem Netzwerk auch seine Unzulänglichkeiten. Im August 2006 ist StudiVZ manchmal von acht Uhr morgens bis Mitternacht einfach nicht erreichbar. „Käffchen!?“, heißt es dann. „Wir sind gleich wieder für euch da.“ Die Serverkapazitäten sind völlig unzureichend. Mit Telefónica hat das Startup zwar einen Vertrag, aber der Netzbetreiber kommt nicht hinterher, irgendwann weigert sich das Unternehmen, für das vereinbarte Entgelt so unglaublich viel Traffic abwickeln zu müssen. StudiVZ geht das Problem auf seine Weise an: Auf der Startseite fordert es seine Nutzer auf, bei Telefónica zu reklamieren. Telefonnummer und Email-Adresse schreibt man gleich dazu.

Das reicht aber nicht, das Startup braucht schlichtweg mehr Kapital, und zwar schnell. Die Samwer-Brüder helfen, eine richtige Finanzierungsrunde von zwei Millionen Euro auf die Beine zu stellen und holen Holtzbrinck Ventures mit ins Boot. „Wir hatten Millionen Nutzer, die sich auch noch jeden Tag angemeldet haben und teilweise stundenlang auf der Plattform herumgeklickt und Traffic verursacht haben“, erklärt Bemmann. „Das muss man ja irgendwie finanzieren, wenn man noch gar keine Einnahmen hat.“ Auch das Team wächst quasi ungebremst, nach zwölf Monaten sind es 70 Mitarbeiter, nach 24 Monaten 300.

michael brehm dennis bemmann bergfürst
Michael Brehm (links) und Dennis Bemmann zu StudiVZ-Zeiten

Ende 2006 hat StudiVZ die Millionenmarke geknackt und Ableger in Polen, Frankreich und Italien eröffnet. Das Startup ist nicht mehr nur in den Mensen und Unibibliotheken des Landes bekannt, es steht jetzt voll in der Öffentlichkeit. Machen die Gründer Fehler, werden sie dafür gnadenlos bestraft. Sensible Nutzerdaten sind lange weitgehend ungeschützt – Datenschützer kochen vor Wut, Studentenvertreter empfehlen die Abmeldung. Es heißt, StudiVZ verkaufe die Daten seiner Mitglieder – das Gerücht ist falsch, aber nur schwer aus der Welt zu schaffen. Darianis Eskapaden – die frauenfeindlichen Videos, die lustig gemeinte Nazi-Einladung – sind wochenlang ein gefundenes Fressen für Blogger und Presse. Von einer StudiVZ-Gruppe, die laut eigener Beschreibung „geile Schnitten“ unter den Nutzern suchen will, um diese anzuschreiben, kann sich das Unternehmen nicht richtig distanzieren.

Anfang Dezember ist die Seite wegen Sicherheitsproblemen und Hackerangriffen für sechs Tage komplett vom Netz. Eine Zeitung schreibt: „Wie Deutschlands heißestes Startup vor die Wand fährt.“

Doch diese Diagnose ist voreilig. StudiVZ wird weiter wachsen, in der Spitze wird das Netzwerk die unglaubliche Zahl von 16 Millionen Mitgliedern erreichen. Und während in der zweiten Jahreshälfte 2006 in der Öffentlichkeit der Streit über StudiVZ tobt, sind Gründer und Gesellschafter längst in Verhandlungen über eine Mehrheitsübernahme.

Mindestens vier unterschriftsreife Angebote liegen am Ende vor dem Führungstrio, zwei aus den USA, zwei aus Deutschland. Als erstes meldet sich im Oktober Yahoo: Hallo, wir wollen euch treffen. Dann Facebook: Mit Top-Manager Dan Rose und Mitgründer Dustin Moskovitz gehen sie in San Francisco Burger essen. Das Unternehmen von Mark Zuckerberg bietet ihnen in Ermangelung der erforderlichen Barmittel Aktien: Fünf, sechs Prozent sollen es gewesen sein. Das Problem: Die Anteile sind zu der Zeit noch nicht handelbar, die Deutschen haben den Eindruck, Facebook werde im Wesentlichen von einer Person kontrolliert, und wer kann schon sagen, wie sich dieses Unternehmen entwickeln wird. Yahoo bietet Cash, genauso wie die beiden deutschen Verlage Holtzbrinck und Axel Springer.

Am Ende soll Springer mit 90 Millionen Euro sogar fünf Millionen mehr als Holtzbrinck geboten haben – doch der bereits über seinen Beteiligungsarm investierte Holtzbrinck-Verlag bekommt für 85 Millionen Euro schließlich den Zuschlag, wegen der besseren Konditionen, was vor allem realistischere Zielvorgaben an die Geschäftsführung gewesen sein sollen. Vorangetrieben haben den Verkaufsprozess vor allem die Samwer-Brüder, aber da sind so viele Parteien mit unterschiedlichen Interessen, vor allem Dariani fühlt sich unter Druck gesetzt. „Wir sind sehr beeinflusst worden. Alles war auf Anschlag, extreme Anstrengung und Stress, immer wieder Euphorie“, so beschreibt er heute die Zeit vor dem Exit. „Selbstzweifel, folgenschwere Entscheidungen bei absolut unvollständiger Information, emotional, unter öffentlicher Beobachtung.“ Ganz klar: „Nicht so spaßig, wie es im Nachhinein wirkte.“

ehssan dariani studivz vert capital holtzbrinck
Privatier mit Bart: Ehssan Dariani im Jahr 2013

Und der Verkauf, war das überhaupt die richtige Option? Dennis Bemmann sagt heute: „In der Situation war es die richtige Entscheidung.“ Die nächste Finanzierungsunde „hätte unsere Anteile noch mehr verwässert“, und: „Wir hätten uns wenig später schon wieder um Finanzierung kümmern müssen statt um unser Social Network.“

Die beiden Gründer macht der Verkauf zu Multimillionären – mit dem Facebook-Deal wären sie wohl zu Milliardären geworden. Hätte, wäre, wenn. Unbestreitbar ist, dass mit dem Exit eine der aufregendsten und besten Startup-Geschichte der deutschen Gründerszene ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Die StudiVZ-Gründer haben gezeigt, dass solche Geschichten auch in Deutschland möglich sind. Die vielen frühen Geldgeber versetzte der Verkauf überhaupt erst in die Lage, mit dem eingenommenen Kapital in der Folge das deutsche Startup-Ökosystem aufzubauen. „Nach dem Erfolg von StudiVZ waren Startups wieder salonfähig, werbefinanzierte Geschäftsmodelle kein Tabu mehr“, resümiert Bemmann. „Wir haben gezeigt, dass sich investiertes Geld verfielfachen lässt. Seed-Finanzierungen sind heute kein Problem mehr.“

Dennis Bemmann blieb bis Ende 2008 Geschäftsführer, anschließend machte er eine Weltreise und gründete als CTO die Finanzierungsplattform Bergfürst mit. Im Juni ist er aus dem Bergfürst-Vorstand in den Aufsichtsrat gewechselt. Dort hat auch Michael Brehm, ebenfalls bis Ende 2008 noch Geschäftsführer und seither vor allem als Investor aktiv, einen Sitz. Ehssan Dariani musste schon im März 2007 auf Betreiben des neuen Besitzers die Geschäftsführung verlassen, er sieht sich heute als „intellektuell neugierig sowie politisch und gesellschaftlich experimentell“. Im Moment unterstützt er das Berliner Fintech-Startup Cookies als Gründungsinvestor.

Bilder: Bergfürst, Dariani