Wie? Es gibt schon autonome, elektrisch angetriebene Flugtaxis? Und was ist mit den Kabeln?

Wir Deutschen sind ein eigensinniges Volk. Wir tragen lieber Jack Wolfskin als Prada, essen Kartoffeln statt Avocado-Schaum, lieben Thomas Müller und verachten Christiano Ronaldo. Alles Ausschweifende ist uns verdächtig. Auf diese unglamouröse Bodenständigkeit sind wir stolz. Visionen, ausufernde Fantasie, gut gelaunter Optimismus haben bei uns einen zweifelhaften Ruf. Das musste auch Dorothee Bär (CSU) erfahren, die am kommenden Mittwoch zur ersten Staatsministerin für Digitales in Deutschland vereidigt werden soll.

Seit sie es in einem ZDF-Interview mit Marietta Slomka wagte, über Flugtaxis und nicht über Glasfaserkabel zu sprechen, wie es die Moderation vehement verlangt hatte, schlagen die Wellen hoch. Bevor hier in Deutschland das Kabel nicht in der Muttererde verscharrt ist, darf offenbar niemand über Zukunftsprojekte sprechen, die über rustikale Aushubarbeiten hinausgehen. Von Seiten der Internetauskenner, vor allem der Männer, wird seitdem das Know-how von Bär in Frage gestellt oder man versucht, sie noch vor Amtsantritt in sozialen Netzwerken lächerlich zu machen. Der Rest hält sie wahrscheinlich einfach nur für durchgeknallt. Flugtaxis!

Investoren sind keine naiven Träumer

Vielleicht helfen ein paar Fakten, um die Gemüter zu beruhigen. Es gibt in Deutschland mindestens drei Firmen, die sehr konkret an der Flugtaxi-Idee arbeiten. Das Startup Lilium hat 90 Millionen Euro eingesammelt, um das weltweit erste elektrisch angetriebene Flugzeug, das senkrecht starten und landen kann, zu bauen. Das Geld stammt unter anderem vom chinesischen Konzern Tencent, Frank Thelen, den man aus der TV-Show „Die Höhle der Löwen“ kennt, und einem von Twitter-Mitgründer Ev Williams gestarteten Fonds. Diese Investoren sind bis jetzt nicht als naive Träumer aufgefallen. Konkurrent Volocopter arbeitet an einem autonomen Zweisitzer mit 18 Rotoren und hat bislang 30 Millionen Euro eingesammelt. Unter anderem von Daimler. Auch Flugzeughersteller Airbus hat bereits erste erfolgreiche Flugversuche mit seinem autonomen Flugtaxi Vahana unternommen.

Aber mit dem Flugtaxi hat Dorothee Bär eigentlich eine ganz andere Herausforderung angesprochen, die es in den kommenden Jahren anzugehen gilt. Wenn Frau Slomka etwas genauer hingehört hätte, hätte sie vielleicht verstanden, dass das grundsätzliche Thema eben nicht das Verbuddeln von Glasfaserkabeln ist, sondern dass es darum geht, Deutschlands führende Rolle in der globalen Wirtschaft zu verteidigen. Nachdem wir die erste Welle verschlafen haben und den USA und Südkorea kampflos das Feld der Hardware an Apple und Samsung, den Bereich der Software und Suche an Google, des Einkaufens an Amazon und der sozialen Netzwerke an Facebook und Instagram überlassen haben, geht es jetzt darum, klüger zu handeln, bevor die nächste Welle Deutschlands Wirtschaft aus dem Weltmarkt spült.

Ausnahmsweise hinkt das Silicon Valley hinterher

Im nächsten Schritt geht es vor allem um drei Bereiche: künstliche Intelligenz, Internet der Dinge und eine Technologie, die sich Blockchain nennt. Diese drei Technikfelder werden unsere Gesellschaft und Wirtschaft in ein neues Zeitalter katapultieren. Hier tut sich ein gewaltiges Potential für neue Geschäftsfelder, neue Produkte, eine klügere Verwaltung und effektivere Politik auf. Kein Bereich unseres Lebens wird von diesen Entwicklungen unberührt bleiben. Die Schlacht um die Marktführerschaft in diesen grundlegenden Zukunftstechnologien ist noch längst nicht geschlagen. Berlin spielt zum Beispiel auf dem Feld der Blockchain-Technologie ein sehr gute Rolle. Hier gibt es unzählige Experten und Startups, die sich damit beschäftigen. Zum ersten Mal ist ein Thema in Deutschland angekommen, dass sich tief mit Zukunfts-Technologie auseinandersetzt. Das Silicon Valley hinkt in diesem Fall ausnahmsweise einmal hinterher.

Anwendungen mit künstlicher Intelligenz werden uns helfen, die unvorstellbaren Datenmassen, die durch das Internet der Dinge entstehen, intelligent und rasant zu verarbeiten. Mustererkennung, selbst lernende Systeme und Algorithmen sind in der Lage, schneller und besser als ein Mensch zu reagieren und zu entscheiden. Zum Beispiel Krankheiten zu erkennen, Schädlingsbefall von Nutzpflanzen vorherzusagen oder eine Maschine zu identifizieren, die schon bald nicht mehr funktionieren wird oder ein selbstfahrendes Auto zu steuern.

Die Blockchain-Technologie lässt sich nicht ganz so einfach verstehen, doch ihre Auswirkungen sind gewaltig. Sie wird uns in die Lage versetzen, Werte im Internet zu übertragen – ohne einen Mittelsmann wie eine Bank oder einen Notar. Auf dieser Technologie basieren auch die digitalen Währungen. Gierige Anleger, die in die sogenannten Kryptowährungen investieren, müssen jederzeit mit Totalverlust rechnen. Doch es zeichnet sich ab, das auch unser Finanzsystem in ein neues Zeitalter eintritt. Egal, ob der Bitcoin-Kurs gerade steigt oder ins Bodenlose fällt. Die Idee hinter einer dezentralen, digitalen Währung ist zu mächtig, um einfach wieder zu verschwinden.

Hoffnung für Länder, die kein Grundbuch haben

Für die Reform unserer Grundbuch- oder Meldeämter scheint Blockchain-Technologie ebenfalls wie gemacht zu sein. Derzeit liegen Informationen darüber, wem welches Grundstück gehört, wie vor 100 Jahren auf dem Amt. In Papierform. Das hat bis heute sehr gut funktioniert. In Deutschland viel besser als in den meisten anderen Ländern. Aber jetzt scheint es bald möglich zu sein, Informationen dieser Art sicher im Netz aufzubewahren und die Umschreibung von Immobilien per Computer rechtssicher vorzunehmen. Das ist ein Hoffnungsschimmer für Länder, in denen es kein Grundbuch oder ein Geburtenregister gibt.

Es sind noch längst nicht alle Probleme gelöst. Für Flugtaxis müsste zum Beispiel unser Luftraum rechtlich neu organisiert werden. Keine Kleinigkeit. Blockchain und Bitcoin verbrauchen derzeit noch viel zu viel Energie. Auf der anderen Seite erleben wir gerade Technologiesprünge wie im Zeitraffer. Das wird helfen, diese Probleme zu lösen. Wir in Deutschland ziehen uns gerne auf das Machbare zurück. Damit haben wir sehr viel Erfolg gehabt in den vergangenen 70 Jahren. Startups aus den USA haben uns allerdings im vergangenen Jahrzehnt gezeigt, dass man in der digitalen Welt das Undenkbare denken muss, um auch in Zukunft Erfolg zu haben.

Immer den Gründern mit den größten Plänen zuhören

Wir sehen, dass es eine Menge sehr wichtiger Themen gäbe, über die man mit einer Staatsministerin für Digitales reden könnte. Nicht nur über die Verlegung von Glasfaserkabeln, die natürlich auch erledigt werden muss, um unser Land zukunftsfest zu machen.

Stellen wir uns vor, ein junger Mark Zuckerberg hätte im Interview mit Marietta Slomka gesagt, er würde gerne ein Netzwerk im Internet bauen, dass in der Lage sei, die gesamte Weltbevölkerung zu verbinden. Stellen wir uns vor, ein jugendlicher Sergej Brin hätte behauptet, dass er es für möglich hielte, dass seine Software in Sekundenbruchteilen das Internet durchsuchen könne und der Student Jeff Bezos hätte von seinen Plänen erzählt, dass schon bald Milliarden Menschen jedes denkbare Produkt auf seiner Internet-Plattform einkaufen könnten. Elon Musk schießt Raketen zum Mars, bohrt Löcher unter Großstädten, um den unterirdischen Verkehr der Zukunft zu organisieren und baut Satelliten, die das Internet aus dem Orbit zu uns bringen sollen. Sind wir in Deutschland wirklich bereit für große Ideen?

Eine eiserne Regel bei den großen Risikokapitalgebern im Silicon Valley ist, sich immer die Gründer mit den größten Plänen, den absurdesten Visionen und dem wahnsinnigsten Plan auszusuchen – und ihnen ernsthaft zuzuhören. Das sagt zum Beispiel Margit Wennmachers, Partnerin beim milliardenschweren Risikokapitalgeber Andreessen Horowitz. Denn oft liege in den abwegigsten Vorstellungen der Schlüssel zu einer wirklich großen Idee, die unser Leben bereichern und verbessern – und mit der man gleichzeitig sehr viel Geld verdienen kann. Wir sollten uns diese Fähigkeit zu eigen machen. Mehr Visionen, weniger Kabel – das wäre ein guter Anfang für die zweite Chance im Internet für Deutschland.

Ziemlich seltsame Visionen hat auch die Band Field Music. Das klingt, als ob die Talking Heads in ein Fass mit Prog-Rock gefallen sind. 

Foto: Field Music / Youtube / Screenshot