Andreas Barthelmess

Ein Beitrag von Andreas Barthelmess, Startup-Unternehmer, Publizist und Berater.

Alle sprechen vom Silicon Valley. Aus dem Tal der Halbleiter-Technologie ist das Epizentrum der menschlichen Zukunft geworden, aus den programmierenden Nerds kosmopolitisch stilbildende Hipster. Nach seiner Pilgerreise ins Valley trug Kai Diekmann ihren Bart.

Elon Musk, Larry Page, Mark Zuckerberg: Tech-Gründer sind heute Ikonen, Popstars, gar potenzielle Präsidentschaftskandidaten. Zukunftsszenarien, die vor Kurzem noch als Science-Fiction belächelt wurden, erscheinen realer denn je: ewiges Leben durch Kryokonservierung, Internet überall durch Ballons in der Stratosphäre, Mondreisen für jedermann mit wiederverwendbaren Raketen. Hinter diesen Plänen steht nur eine Handvoll mächtiger Köpfe.

Sie sind die Heroen der Gegenwart – nicht nur, weil wir fasziniert sind von ihrem Aufstieg zu märchenhaftem Reichtum, sondern weil sie unser Leben auf Schritt und Tritt beeinflussen. Ihre Visionen klingen wie Märchen, die Realität werden könnten. Manche Menschen inspiriert das. Anderen macht es Angst.

Übermächtige Traumfabrik

Leicht fallen wir auf die pathetische Werberhetorik der Silicon-Valley-PR herein. Wenn die aggressivsten Geschäftsmodelle als Wohltaten mit positivem gesellschaftlichem Impact überhöht werden. Google ist darin Meister. Meist ist das natürlich Humbug. Aber es zeigt eine undifferenzierte Heldenverehrung, der auch deutsche Politiker im Herdentrieb erliegen. Sie lieben Fotos mit Eric Schmidt und Sheryl Sandberg – auch wenn ihre Unternehmen bei uns keine Arbeitsplätze schaffen und keine Steuern zahlen.

Die mächtigste Traumfabrik der Welt ist heute nicht mehr Hollywood. Die post-industrielle „Soft Power Factory“ des Silicon Valleys hat ihr den Rang abgelaufen. Milliarden Menschen verbringen jeden Tag viele Stunden in Valley-Applikationen wie Facebook, Instagram oder WhatsApp.

Nicht nur die Geschäftsmodelle von Google und Co. sind übermächtig. Auch die transportierten „Werte“ sind es, ihr Design, ihre Icons und Kommunikationsregeln. Amerikanische Vorstellungen von Gewalt (liberal) und Nacktheit (restriktiv) überrollen die Welt. Was droht, ist eine kulturelle Gleichschaltung. Denn, so hatte es schon Nietzsche erkannt, nicht nur wir Menschen formen unsere Medien, sondern auch die Medien uns.

Die massive Dominanz stilbildender Apps ist eine Gefahr. Die Konzentration digitaler Exzellenz führt zu kulturellen Monopolen, die die Vielfalt zerstören. Und das führt wiederum auch zu wirtschaftlichen Monopolen in zentralen Industrien. So geraten Meinungsfreiheit und Vielfalt – ja, die Demokratie selbst – in Gefahr.

Keine europäische Aura, nirgends

Alle ikonischen Gründungen der letzten Jahre kommen aus Kalifornien. Keine kommt aus Europa, das geistig noch tief im industriellen Zeitalter steckt. Was uns fehlt, sind post-industrielle Unternehmen, die die Werte und Stärken europäischer Kultur ausstrahlen. Wenn wir den Namen „BMW“ in Schwellenländern hören, schwingt immer sehnsüchtige Bewunderung mit. Aber auf dem digitalen Feld? Keine europäische Aura, nirgends.

Statt den Weg für digitale Ikonen zu bereiten, denken wir Digitalisierung als Infrastrukturprojekt. Hauptsache, wir können wieder Glasfaserkabel einbuddeln. Hat sich ja schon in den 80ern beim Kabelfernsehen bewährt. Das ist inkrementelles deutsches Techniker-Denken: Fortschritt durch kontinuierliche Verbesserung des Bestehenden. Doch digitale Innovation ereignet sich disruptiv, explosionsartig. Plötzlich entsteht aus einer Idee eine Technologie, die die bisher vorhandenen vollständig verdrängt. Das müssen wir begreifen. Als Anfang der 90er Jahre in Erlangen das MP3-Format erfunden wird, ignoriert es die deutsche Industrie. Es gibt doch die CD! US-amerikanische Firmen machten MP3 dann schnell zum kommerziellen Welterfolg.

Nun haben sich die Jamaika-Sondierer darauf geeinigt, beim Breitbandausbau künftig ausschließlich Glasfaseranschlüsse fördern zu wollen. Digitale Infrastruktur ist notwendig. Selbstverständlich. Aber sie darf nicht im Zentrum der Digitalisierungs-Debatte stehen. Enttäuschend: Schon die „Digital-Versäumnisse“, die Sascha Lobo zur Bundestagswahl anprangerte, adressierten ausschließlich den Netzausbau. Anscheinend haben sich auch die digitalen Vordenker in diesem Land längst damit abgefunden, dass wir nur konsumierende Statisten sind. Ja, wir brauchen schnelle Netze. Aber wir brauchen viel mehr als Kabel: Wir brauchen digitale Disrupter aus Europa!

„Gründungen“ assoziiert der politische Mainstream immer noch mit Fördergeld-Anträgen. „Startups“ mit fantasielosen E-Commerce-Plattformen, die irgendetwas verkaufen, aber nicht die Welt verändern. Das tun andere jenseits des Atlantiks. Und wir? Diskutieren die Versäumnisse von VW und Co., statt voranzugehen und die globalen Standards für E-Mobilität und autonomes Fahren zu setzen. Wir reden über ein Digitalministerium, wie man nach Tschernobyl einen Umweltminister für eine gute Idee hielt. Wir sind gefangen in den alten politischen Routinen. Die Revolution ist längst im Gange – und wir sind auf Standby.

Digitalisierung ist technologische Poesie

Wir müssen verstehen: Digitalisierung ist eine Aufforderung, die Zukunft zu gestalten. Sie ruft nach Kreativität, nicht nach Bürokratie. Digitalisierung ist technologische Poesie.

Doch die Deutschen sind digital gehemmt. Sie sind visionsfeindlich und kleinmütig. Von einem deutschen Bundeskanzler stammt der Ausspruch: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Ein Jahrzehnt, bevor der Satz fiel, waren die Amerikaner auf dem Mond. Und noch nie war der Spruch so falsch wie heute. Ohne Visionen gibt es keine Höhenflüge.

Ein deutscher Gründer ist im siebten Himmel, wenn sein Unternehmen vom amerikanischen Marktführer gekauft wird. Er will Geld verdienen, aber nicht zum Mond. Amerikanische Gründer wollen beides. Die Folge: Europa wird zur Zulieferindustrie des Silicon Valley. Wir müssen selbstbewusster denken. Wir brauchen Mut zum Sprung ins Ungewisse. Werfen wir Ballast ab, befreien wir uns von den Rastern, Grenzen und Ängsten des Etablierten. Die besten Gründungen entstehen an industrie- und konzernfernen Orten.

Gesellschaft und Politik sind im Konflikt. Niemand sieht gerne traditionelle Unternehmen bedroht. Das kann einem Angst machen. Aber beharrt man deswegen auf den Regeln der Old Economy, die in der Zukunft nicht mehr gelten? Oder setzt man aufs Digitale mit allen seinen zum Teil unbekannten, zum Teil ungewollten Konsequenzen? Der politische Wille ist in Deutschland konservativ, in Teilen restaurativ. Das verwundert nicht. Noch boomt die Volkswirtschaft und die Wählerschaft ist überaltert.

Das Disruptive widerspricht unserer Kultur: dem deutschen Glauben an Planbarkeit, dem Wunsch nach Sicherheit. Wir glauben an kontinuierlichen Fortschritt, an Zertifizierung und TÜV. Wir haben nicht das kollektive Selbstvertrauen der Amerikaner – und schon gar nicht einen derart gesellschaftlich akzeptierten Größenwahn – in dem das Verschieben von „Frontiers“ zum stolzen Gründungsmythos gehört und identitätsstiftend ist.

Wir messen wirtschaftliche Potenz nicht an Fantasie und Visionen für die Zukunft, sondern an Arbeitsplätzen und Umsätzen im Hier und Jetzt. Bei uns bedeutet „Unternehmensgröße“ immer noch so viel wie „Anzahl von Arbeitsplätzen“. Die GAFA-Unternehmen – Google, Apple, Facebook, Amazon – zeigen, dass diese Gleichung nicht mehr gilt. Gerade Disruptoren brauchen viel weniger „Work Force“ als ihre Vorgänger.

Die Amerikaner wollen mit GAFA digital Geld verdienen, weltweit die Meinungsfreiheit fördern, tödliche Krankheiten ausrotten und den Klimawandel aufhalten. Wir Deutschen sehen das anders. Wir wollen die Digitalisierung eigentlich nicht. Sie stört unsere Ruhe, ist unbequem und bringt unbekannte Risiken mit sich. So ähnlich wie Fluglärm, Atomkraftwerke und Flüchtlinge. Wir geben uns als Skeptiker, sind aber tatsächlich verunsichert und verängstigt. Kein Wunder, dass wir kein motivierendes Narrativ für die Digitalisierung finden.

Bild: Andreas Barthelmess

Was sollen wir tun? Wie verwandeln wir Digitalisierungsskepsis in Zukunftsbegeisterung? Klar ist: Eine digitale Gründerkultur ist kein hipper Selbstzweck.

Wir brauchen jetzt Maßnahmen und Narrative. Bei guten Geschichten besteht die Kunst im Weglassen und Verdichten. Lasst uns also herausfinden, wo unsere europäischen Stärken liegen, was wir wollen – und was nicht. Die Marslandung ist uns nicht so wichtig. Aber als Kontinent der Aufklärung wollen wir Spitzenbildung, die sich alle leisten können – kann uns die Digitalisierung da helfen? Weil sozialer Frieden für uns Europäer ein hohes Gut ist, brauchen wir eine Top-Gesundheitsversorgung für alle Bürger – wird das durch digitale Medizin bezahlbar? Wir wollen keine Kohle mehr fördern und die CO2-Emissionen senken – schaffen wir das durch eine neue, digitalisierte Mobilität?

Wir wollen keine Abschottung und keine Kleinstaaterei, sondern aus der Vielfalt an Sprachen und Kulturen als Kontinent die weltweit hörbare Stimme der Vernunft sein. Lasst uns also anfangen, eine Vision zu entwickeln!

Weg mit den Fördergeldern!

Und konkret: Wir streichen alle Fördergelder für Startups. Antragsprosa ist keine Gründungskompetenz. Fördergelder schaffen kein Ökosystem für die Digital Economy. Im Gegenteil: Sie fördern die Gefahr, dass sich die richtigen Köpfe mit den falschen Ideen beschäftigen. Stattdessen verbessern Deutschland und Europa die Voraussetzungen für Angel- Investments in der Frühphase von Unternehmen und für Venture Capital in ihrer Wachstumsphase. Nur die Investoren-Validierung hilft den Startups und dem Markt. Es geht nicht darum, dass alle Startups Gelder bekommen. Sondern darum, dass die aussichtsreichsten große Finanzierungen und großes Talent anziehen. Daran hapert es heute noch.

Europa setzt Anreize zur Übernahmen von Startups durch Industrie und Mittelstand. Das beschleunigt die digitale Transformation der Old Economy. Vor allem aber: Mehr Exits helfen dem gesamten Ökosystem und steigern indirekt den Zufluss von internationalem Wagniskapital – durch die damit wachsende Erfolgswahrscheinlichkeit für die Investoren. Das Silicon Valley ist auch deshalb so erfolgreich, weil die GAFA-Konzerne vor ihrer Haustür Gründungen aufkaufen, sobald sie ihnen auffallen.

Das nächste Google gründet kein Betriebswirt

Liebe Universitäten, holt Eure Gründer zurück an die Alma Mater! Die Samwer-Brüder, wenn auch nicht unumstritten, haben das mit der WHU vorgemacht. Studenten brauchen Vorbilder, um selbst zu gründen. Da sind sich Spitzenforschung (Endziel Nobelpreis) und Gründerszene (Fernziel Börsengang) sehr ähnlich. Die Nachbarschaft von Silicon Valley und Stanford University ist kein Zufall. Und sorgt dafür, dass sich die Besten aus unterschiedlichen Fachbereichen kennenlernen. Soviel ist sicher: Das nächste Google wird wieder nicht von einem Betriebswirt gegründet. Gerade den Naturwissenschaften muss deshalb schon in der Schule mehr Kreativität und Unternehmergeist eingehaucht werden.

Was Mut und Hoffnung macht, sind Hubs wie Tel Aviv oder Stockholm, die ohne großen Heimatmarkt und gerade aus der Schwäche einer fehlenden Industrie heraus funktionierende Ökosysteme mit erfolgreichen Gründungen hervorgebracht haben. Ihr Momentum zeigt: Europa darf sich nicht mit Förderprogrammen und Infrastrukturbürokratie vom Wesen der Digitalisierung ablenken lassen. Jetzt ist die Zeit, Europa digital auf die Sprünge zu helfen.

Dieser Essay erschien in einer gekürzten Version bereits in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Gründerszene veröffentlicht ihn exklusiv in voller Länge.

Bild: Archiv