Es ist wieder so weit. Die nächste Welle gegen das, was wir Internet nennen, schwappt durch das Land. Klar, wir sind alle etwas nervös. Der Wahlkampf in den USA mit dem schwer erträglichen Maulhelden Donald Trump, russische Bomben auf Aleppo und die gescheiterte Ehe von Sarah und Pietro Lombardi liegen wie ein dunkler Schatten auf der deutschen Seele.

Irgendjemand oder irgendetwas muss doch schuld sein an diesen undurchsichtigen, bedrohlichen Zuständen. Der Autor Jarett Kobek hat sich die Wut in seinem Traktat „Ich hasse dieses Internet“ von der Seele geschrieben. Das Buch ist ein großer Erfolg. Meine Kollegin Susanne Gaschke schrieb, dass sie sogar die Demokratie vom Internet bedroht sehe.

Fertig. Der Schuldige ist gefunden. Beifall, Vorhang, man nickt sich zustimmend zu. Immer diese Smartphones! Jetzt sollen irgendwie schärfere Regeln her. Oder am besten man zerrt Mark Zuckerberg und Google gleich vor ein deutsches Gericht und träumt sehr deutsch von „vollstreckungsfähigen Urteilen“ (Gaschke), die alles besser machen.

Der Hass kommt nicht aus dem Netz

Es wäre alles so schön einfach. Ist es aber nicht. Nein, der Hass kommt nicht aus dem Internet. Facebook ist nicht der Absender von menschenverachtenden Kommentaren. Es sind die Menschen, die Facebook als Plattform benutzen.

Wenn es die sozialen Netzwerke nicht gäbe, würden wir nicht merken, was viel zu viele Menschen sich auf ihren heimischen Sofas so alles an unfassbarem Zeug zusammenreimen und im Netz zusammensuchen. Das wäre vielleicht etwas bequemer und weniger ekelhaft.

Aber der ganze Hass, die unterdrückte Neigung zur Gewalt und die Verachtung der Realität, die Bereitschaft, lieber krudesten Scharlatanen zu glauben als bewährten Wissenschaften und Medien, wäre immer noch da. Nur unbemerkt.

Gesetzes-Verstöße werden auch auf Facebook verfolgt

Die Kritiker der Plattformen wollen jetzt sauber durchfegen lassen und träumen von besenreinen Netzwerken. Aber wollen wir ausgerechnet die Betreiber der Netzwerke zu Redakteuren der Wirklichkeit machen?

Wollen wir Mark Zuckerberg entscheiden lassen, wo die Grenzen eines zumutbaren Diskurses verlaufen? Soll Facebook entscheiden, was gesagt oder nicht gesagt werden darf?

Das kann doch nicht gewollt sein, wenn hinter den „Digitalkonzernen“ bereits jetzt eine nicht mehr steuerbare Macht vermutet wird. Verstöße gegen Gesetze auf Facebook werden übrigens verfolgt. Man darf dort eben nicht ungestraft jeden Müll verbreiten.

Filterblase funktioniert nicht so wie oft behauptet

Auch Angela Merkel hat sich jetzt kritisch zu Netzwerken geäußert, zur sogenannten Filterblase. Wie schon viele vor ihr. Nutzer würden durch einen unbekannten Algorithmus immer nur mit Inhalten versorgt, die ihre Meinung stützten. Das sei gefährlich.

Wie kann es eigentlich sein, dass sich gleichzeitig über Hass und Filterblasen beschwert wird. Wenn ich nicht an Hass interessiert bin, müsste ja eigentlich der Filterblaseneffekt dafür sorgen, dass ich ihn gar nicht bemerke, weil er nicht in meinem digitalen Sichtfeld auftaucht. Das tut er aber täglich. Seltsam.

Wie kann es sein, dass mir ein verständnisvoller Artikel von Jakob Augstein über Donald Trump präsentiert wird – und kritische Artikel zum HSV? Da hat meine Filterblase wohl versagt, denn ich halte Trump für einen Grusel-Clown und trage die HSV-Raute im Herzen.

Menschen bleiben lieber unter sich

Haben sich die Leute in Zeiten vor Netzwerken regelmäßig in völlig andere Milieus begeben, um ruhig ihre konträren Argumente auszutauschen? Haben sie eine Zeitung abonniert, die gegen ihre politische Meinung schreibt? Nein. Das haben sie nie getan – und sie sind schon immer lieber unter sich geblieben.

Netzwerke und der ganze Rest des Internets haben uns aber eine Freiheit geschenkt, die noch vor einigen Jahren undenkbar schien. Die ganz konkrete Filterblase aus örtlichem Gymnasium, Gesangsverein und der einzigen Buchhandlung und Bücherei wurde nie infrage gestellt. Sie ist durch das Netz geplatzt.

Ich habe jetzt die Möglichkeit, mich per Knopfdruck mit der gesamten Weltpresse zu versorgen. Oder mit allen relevanten Blogs und Ansichten zu einem Thema. Ich kann das natürlich auch lassen. Aber niemand hat jemals behauptet, dass das Internet Dummheit und Ignoranz kurieren wird.

Zu allem Irrsinn, Quatsch und Hass, der verbreitet wird, gehört auch immer ein Publikum, das das alles irgendwie ernst nimmt. Sonst funktioniert es nicht.

Im Shitstorm einfach mal ruhig bleiben

Mein Ratschlag: Bleiben wir doch einfach mal ruhig. Auch im heftigsten Shitstorm. Das ist die beste Medizin. Es kommt ein neuer Morgen. Die Ruhe nach dem Sturm.

Je weniger Aufregung, desto schneller. Und desto weniger macht es den Unruhestiftern da draußen Spaß, ihren Unrat zu verbreiten. Bis die nächste Aufregungswelle durch die Gemüter rast. Aber auch sie wird sich legen und in geregelte Bahnen zurückfinden. Sehr schnell. Wenn wir es wollen.

Und in Zukunft immer schneller, weil wir die Mechanismen und die Sprache des Netzes durchschauen und uns aneignen werden wie die Fähigkeit, ein Buch oder eine Zeitung zu lesen.

Wir müssen uns heute selber darum kümmern, dass uns die relevanten Nachrichten und Meinungen erreichen. Und wir müssen Quellen auf ihre Relevanz und Glaubwürdigkeit prüfen. Es sind viele Scharlatane und Manipulatoren unterwegs.

Das Internet kann große Menschheitsprobleme lösen

Im Netz ist jeder Mensch nicht nur Empfänger, sondern auch Absender. Wir sind also alle verantwortlich dafür, was wir in unseren Kreisen verbreiten. Das macht die Sache noch unübersichtlicher und anstrengender. Und diese Unübersichtlichkeit und der Kraftaufwand können nervös machen.

Nicht nur Autoren wie Gaschke und Kobek haben deshalb einen regelrechten Hass auf das Netz entwickelt. Es ist nicht zu fassen, schwer zu regulieren, entgleitet uns, hüllt uns ein, nervt und wird schon sehr bald unsere gesamte Umgebung durchdringen.

Aber es ist auch das Universalwerkzeug, das uns in die Lage versetzt, die schwierigsten Probleme der Menschheit zu lösen: globale Bildung, Ernährung, Energieversorgung, Bekämpfung der Armut. Um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Wir brauchen keine neuen Regeln, wir brauchen Visionen

Wir werden völlig neue Fähigkeiten entwickeln, um mit dem Netz zurechtzukommen. Dann ist alles möglich. Und dieses wichtigste und intelligenteste Instrument der Menschheit wollen wir aus der Hand legen, nur weil ein paar Krakeeler unterwegs sind?

Weil die unzähligen Möglichkeiten uns irgendwie nervös machen? Weil wir uns Nummern nicht mehr merken müssen und es vielleicht verlernen, Landkarten zu lesen? Weil es uns doch eigentlich jetzt schon ganz gut geht in Deutschland?

Wir brauchen keine neuen Regeln, Gesetze und vollstreckbaren Urteile. Wir brauchen Visionen, Kreativität und Ideen, wie wir mit den Mitteln des Netzes sinnvolle Dinge tun und eine großartige Zukunft gestalten können. Und um Google und Facebook Paroli bieten zu können. Dann löst sich die Wut auf das Netz und im Netz auf. Wie Butter in der Sonne.

Dieser Text erschien zuerst bei Welt Online.

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