Digitale Lernsysteme lösen auch im Medizin-Studium gedruckte Bücher ab

Bei angehenden Ärzten ist die „Schwarze Reihe“ so beliebt wie gefürchtet. Die Lernbücher sollen auf die Prüfung zum Physikum vorbereiten – an der schon so mancher hoffnungsvolle Mediziner gescheitert ist. Nur mit intensiver Vorbereitung sind die Multiple-Choice-Aufgaben zu bewältigen. Doch neue digitale Angebote kratzen nun das vermeintlich krisensichere Geschäft mit den Lehrmaterialien an.

Zu den Anbietern digitaler Lernsysteme gehört Miamed aus Köln. Laut eigenen Angaben der Gründer – drei Ärzte – nutzen 94 Prozent der angehenden Mediziner ihre web-basierte Lernplattform Amboss zur Vorbereitung auf Prüfungen.

Ihr Ziel: Marktführer für die gesamte medizinische Ausbildung werden. Die Kölner, die die Welt von Medizinern ganz unbescheiden „revolutionieren“ wollen, haben nun erstmals einen externen Investor ins Boot geholt, der einen Millionenbetrag mitbringt. Denn das Geschäftsmodell von Miamed passt ziemlich genau in das Raster von Holtzbrinck Digital, einer Tochterfirma der Stuttgarter Verlagsgruppe Holtzbrinck.

StudiVZ war ein Investment von gestern

Verleger Stefan von Holtzbrinck ist zwar promovierter Jurist, hat aber nicht erst, seit er 1996 die Leitung der britischen Zeitschriftengruppe Nature übernahm, ein Faible für Wissenschaft und Bildung.

Vor einem Jahr führte er gemeinsam mit den Finanzinvestoren BC Partners große Teile der Wissenschaftsverlage Springer Science und Macmillan Science zusammen. Es entstand Springer Nature, eine Verlagsgruppe für Wissenschafts- und Bildungsmedien mit einem Umsatz von 1,5 Milliarden Euro.

Logisch ist da nur, dass Holtzbrinck Digital, einer der führenden digitalen Investoren der Republik, in verwandte Themengebiete investiert. Wobei das nicht immer so war: Mit dem Kerngeschäft von Holtzbrinck hatten frühere Investments wenig zu tun.

Rückblende: Holtzbrinck Digital übernahm 2007 für 85 Millionen Euro StudiVZ, das deutsche Facebook. Fünf Jahre später stieß man das soziale Netzwerk mit Verlust jedoch wieder ab.

Schluss mit Dating-Seiten wie Parship

Mit Gewinn wurde im vergangenen Jahr die Partnerbörse Parship an Oakley Capital verkauft. Kleinere Beteiligungen wie der Musik-Streamingdienst Simfy wurden ebenfalls ausgemustert. Noch unter dem Holtzbrinck-Dach befindet sich MyHammer, das als lokaler Marktplatz für Handwerker auch nicht so recht in das restliche Portfolio passen will, aber immerhin Gewinne erwirtschaftet.

Markus Schunk, der CEO von Holtzbrinck Digital, hat in den vergangenen zwei Jahren kräftig aufgeräumt. Rein werbefinanzierte Angebote hält er beispielsweise nicht mehr für erfolgversprechend. Vier Felder blieben nach dem Großreinemachen übrig: Inhalte- und Ratgeberportale wie Gute Frage, Helpster und NetDoktor.

Letzteres schlägt den Bogen zur Medizin- und Gesundheitssparte, zu der auch die Online-Communitys med1 und pflege.de gehören. Darüber hinaus zählen zum Portfolio die Lernplattformen JuraOnline, das Videoangebot Lecturio und nun auch Miamed.

Digitalisierung des Wissenschaftsbetriebs wirke sehr disruptiv

Das junge, aber wachstumsstarke Feld der Wissenschaft, ist in der Tochterfirma Digital Science gebündelt. Zu diesem Zweig zählen Firmen, die wissenschaftliche Arbeit messbar machen sollen, so wie ÜberResearch oder Symplectic. Diese betreiben Recherchedatenbanken und Plattformen, die das komplexe System der wissenschaftlichen Forschung transparenter machen sollen.

ÜberResearch beispielsweise analysiert, welche Forschungsgelder in welche Projekte fließen, was wiederum die Dynamik in einzelnen Themengebieten zeigt. Neu ist eine Beteiligung am amerikanischen Unternehmen TetraScience, das die Forschung in der Internet-Cloud befördern will.

Speziell die Digitalisierung des Wissenschaftsbetriebs wirke sehr disruptiv, sagt Schunk. Etablierte Methoden, mit denen Wissenschaftler bisher ihre Forschungsergebnisse analysierten und dokumentierten, geraten demnach unter Druck. Viel für die Öffnung und Beschleunigung des Publikationsprozesses im Forschungsbetrieb getan hat das deutsche Startup Researchgate, das von Microsoft-Gründer Bill Gates finanziert wird.

Finanzkraft als limitierender Faktor

Rund 20 Beteiligungen in verschiedenen Größenordnungen unterhält derweil Holtzbrinck Digital. Markus Schunk ist nicht nur auf komplette Übernahmen aus, er geht auch Minderheitsbeteiligungen ein. Ein konkretes Umsatzziel für die Beteiligungsfirma nennt Schunk auf Nachfrage nicht.

Viel hängt davon ab, wie sich die Firmen entwickeln, wie viele auf der Strecke bleiben, und ob man mit einem Investment vielleicht sogar einen Volltreffer landet. Doch auch die sogenannten „Unicorns“, die Milliarden-Dollar-Unternehmen, entstehen nicht einfach so. Sie brauchen in der Regel viel Geld, um sehr rasch wachsen zu können. Schunk zieht den Vergleich: „Amerikanische Unternehmen können ein ganz anderes Tempo gehen, weil höhere Investmentsummen zur Verfügung stehen.“ In Deutschland sei die Finanzkraft „oft der limitierende Faktor“.

Wachstum gehe in vielen Fällen, nicht anders als bei anderen digitalen Geschäftsmodellen, vor Profitabilität. Bei einer Reihe von Unternehmen seien Gewinne erst in drei bis fünf Jahren geplant, sie schreiben also Verluste. Was nicht bedeuten soll, dass die Aussicht auf Gewinne zweitrangig ist. Im Gegenteil: ein sauberes Geschäftsmodell spiele in der digitalen Ökonomie die entscheidende Rolle. Markus Schunk glaubt, dass dies aber noch nicht bei allen Gründern angekommen ist.

„Buzzwords und Trends gibt es viele“

„Vieles, was wir angeboten bekommen, entbehrt wirklich jeglicher Geschäftsgrundlage. Buzzwords und Trends gibt es viele, als Kaufmann muss man da aber schnell abwinken.“ Warum immer noch schlechte Geschäftsmodelle von Investoren Geld bekommen? „Wo viel Liquidität im Markt ist, existiert eben auch ein Anlagedruck“, sagt Schunk.

Neben Deutschland hat Schunk vor allem Großbritannien und die USA im Blick. Gerade hat Holtzbrinck sich auf München als Standort in Deutschland festgelegt. In Berlin, ein ehemals großer Stützpunkt mit StudiVZ, gibt es nur noch ein kleineres Büro. Boston und London sind als Standorte ebenfalls gesetzt. Wer in einem globalen Geschäft unterwegs ist, zieht unweigerlich Vergleiche. „Deutschland hat ein gutes Fundament der Bildung, aber digital sind wir offen gesagt gegenüber den USA oder Südkorea eher rückständig“, beobachtet Schunk.

„Digitale Kenntnisse müssen noch mehr integrativer Bestandteil des Unterrichts werden.“ In manchen asiatischen Ländern bekämen Schüler schließlich sofort ein Tablet oder Laptop. Ganz andere „Grundvoraussetzungen der digitalen Bildung“ seien das. Markus Schunk mag dabei vor allem an die Gründer von morgen denken.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Welt.de.

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