Ein Beitrag von Alexander Graf, Geschäftsführer von Spryker Systems, Gründer von eTribes und Autor des Blogs Kassenzone.de.

Es fühlt sich gerade wieder so an wie in den Jahren 2008 und 2009, als jede Woche ein neues E-Commerce-Konzept das Licht der Welt erblickte und man regelmäßig über neue Shoppingclubs und Möchtegern-Shoppingclubs (fab.com) schreiben konnte. In dieser Woche gesellt sich Jet.com in diesen illustren Kreis und beweist sensationelle PR-Arbeit. Die Medien sehnen den nächsten Amazon-Herausforderer geradezu herbei – und nachdem ich die gängigen Artikel dazu durchgelesen habe, bleiben ehrlich gesagt mehr Fragezeichen als Euphorie übrig.

Vielleicht bin ich schon zu sehr abgestumpft durch die Vielzahl von Konzepten, die durch bessere Preise Kunden gewinnen und binden wollen. Oder ich verstehe das Konzept noch nicht richtig. Auf Internetworld wird es so erklärt: Jet.com ist eine Art Marktplatz mit Eintrittsgebühr (50 US-Dollar im Jahr), der auf jegliche Handelsspanne verzichten will und alle Kickback-Einnahmen (Affiliate-Guthaben….) direkt den Kunden zuschreibt. Ich denke einmal „laut“ mit:

Jet.com gewinnt Kunden mit dem Versprechen, dass sie dort Produkte zum niedrigsten Preis kaufen können und presst bei weiterem Wachstum so viel Handelsmarge wie möglich aus dem System. So ergibt es strategisch weder für Hersteller noch für Händler Sinn, Produkte an/über Jet.com zu liefern. Für Kunden lohnt sich ein Kauf solange, wie das enorme Funding der Plattform in die Subventionierung des Angebotes gesteckt wird. Eine echte Kundenbindung gibt es nicht. (Die Jahresgebühr bindet meines Erachtens nicht.) Gut, eine ähnliche Strategie hatte Amazon auch – aber das schon vor 20 Jahren und sie hatten keine bösartigen Wettbewerber – wie heutzutage eben Amazon einer ist. Gedankliches Zwischenfazit: WTF.

Vielleicht habe ich ja etwas übersehen. Ein erster Preischeck hat auf jeden Fall nicht zu meiner Beruhigung beigetragen. Die Produkte, die ich mit Amazon.com verglichen habe, waren nicht spürbar günstiger. Aber gegebenenfalls muss man mehr Zeit investieren.

jet-kamera

Vergleichsprodukt bei Amazon: Samsung EDC-WB350F. Was übersehe ich also? Hat der Gründer vielleicht eine größere Vision? Auf seinem Blog schreibt Marc Lore:

We believe that there is big opportunity to deliver meaningful value to mass consumers by optimizing the underlying economics of online shopping and unbundling the embedded retail costs that drive up price. We’ve seen wholesale clubs innovate around price by re-imagining traditional retail economics before. Leveraging a membership model, they found ways to take costs out of the system, including placing stores in less desired areas, selling a very limited assortment, focusing on bulk-buying, and leaving products on palettes. In doing so, they unlocked significant savings for members and transformed how people shop; today over 80 million Americans are wholesale club members. At Jet, we see the opportunity to leverage technology and bring price innovation to an unlimited product selection by working collaboratively with our retail partners. We don’t compete with our partners; rather, we empower them with pricing tools that enable them to set different rules based on their business goals and profit targets.

Aha – es soll eine Art Costco 2.0 werden. So hat es auch Exiting Commerce-Macher Jochen Krisch schon vor einem halben Jahr gesehen. Costco ist allerdings ein sehr stationär gedachtes Modell und es hat ganz eigenen Probleme. Immer dann, wenn in diesen Zeiten Onlineunternehmen Vorbilder aus stationären Umfeldern nennen, läuten bei mir die Alarmglocken: Die erfolgreichen E-Commerce-Themen haben kein Äquivalent im stationären Handel. Amazon ist ja nicht etwa eine Art Karstadt 2.0 – zumindest genauso viel oder wenig wie ein aktueller Mercedes eine Pferdekutsche 2.0 ist.

Im Wall Street Journal wird beschrieben, dass Jet.com clevere Strategien verwende, um Kunden höhere Ersparnis zu bringen. Da wird unter anderem erklärt, dass Kunden Affiliate-Erlöse gutgeschrieben würden.

To save money, when Jet’s staff manually place orders on other websites on behalf of customers, they sometimes travel to the other sites via links that enable them to earn a back-end commission on the sale, according to Marc Lore, Jet’s chief executive. So-called affiliate programs are the key. Online merchants establish such programs to encourage websites to send them customers, giving them a link to paste on their site and paying them a commission if one of their users clicks through and buys a product.

 

Das heißt also, dass Jet.com so sogar mit Partnern vorgeht, die diesem Verfahren nicht zugestimmt haben. Das widerspricht wahrscheinlich allen Partner-AGBs und ist in etwa so clever wie Cookie Dropping moralisch vertretbar wäre. Ich halte es für eher bescheuert, ein Geschäftsmodell auf einem solchen System zu gründen. Wie begründet also der Investor ein 220-Millionen-US-Dollar-Investment in diese Firma? Bei re/code sagt Scott Friend:

So as I sat there way back when we invested $5 million in the first round, it was rooted in the idea that commerce has not been innovated on in a long, long time. Amazon has a disproportionate share of the market and many, many others continue to grow. But we haven’t seen a real type of disruptive innovation in e-commerce after 20 years of massive growth that started when Amazon started. The best analog we can think of was when Walmart appeared to be eating the world of retail and here comes this little company called Costco with the club format … there was enough market for both of them. We definitely think there’s a similar opportunity here.

Er sagt noch andere interessante Sachen, aber auch er wiederholt die Fabel von Offline Stories, die sich im Online-Handel wiederholen werden. Das halte ich für sehr schwer belegbar und in diesem Fall ist es für mich ein Paradebeispiel einer linearen Denkweise, die in einem exponentiellen Markt fehl am Platz ist. Nun, er muss ja selber wissen, was er mit seinem Geld macht. Gehen wir mal davon aus, dass die ersten 200 Millionen sinnvoll eingesetzt werden. Was dann? Exciting Commerce schrieb, dass Jet.com in Millarden denke – und nicht in Millionen. Das ist ambitioniert. In einem Artikel in Business Insider sagt Marc Lore sogar, dass das Unternehmen erst ab 20 Milliarden US-Dollar Umsatz Geld verdienen werde.

He says Jet’s business model doesn’t work and it won’t start making money until the company reaches a big enough scale. Lore defines that „to scale“ landmark as when it sells $20 billion in products per year and has 15 million paying customers. Lore says the site should hit that scale and become profitable by 2020.

Das wären 1.333 US-Dollar Umsatz pro Mitglied. Wenn man auf die Umsätze bei Amazon schaut, ist das nicht abwegig. Bis es soweit ist, lenkt Marc Lore mit ein paar PR-Nebelbomben von den wesentlichen Fragestellungen ab. Die sind für mich:


Update In der Harvard Business Review gibt es einen passenden, eher kritischen Artikel zu Jet.com. Dort wird der Einkauf empfohlen, solange es Jet.com noch gibt:

„Consumers should take advantage of the three-month free membership trial and enjoy the discounts while they last. As an example of the absurdity of Jet’s pricing model, a Wall Street Journal shopper recently purchased 22 items from Jet.com. As it turns out, Jet didn’t actually stock 12 out of the 22 items — so it ordered the products directly from retailers like Wal-Mart and J.C. Penney to be shipped directly to the shopper. The Journal paid $275.55 for these 12 products, but Jet in turn paid rivals $518.46 to fulfill the orders. This resulted in a $242.91 loss for Jet.com on that order alone.“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Alexander Grafs Blog Kassenzone.

Bilder: Jet.com; Screenshots von Jet.com