Karl Erivan Haub
Karl Erivan Haub Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub

Vom Surfen auf der großen digitalen Welle

Herr Haub, Anfang Oktober haben Sie den Verkauf Ihrer Supermärkte an Edeka bekannt gegeben. Jahrzehntelang stand Tengelmann für den Verkauf von Lebensmitteln. Wie schwer ist Ihnen die Trennung vom traditionellen Hauptgeschäft gefallen?

Das war für mich einer der schmerzlichsten Tage. Der Lebensmittelhandel gehörte seit 121 Jahren zu unserem Familienunternehmen, er war uns ans Herz gewachsen. Davon trennt man sich nicht leichtfertig.

Hand aufs Herz, war die Lage wirklich so ernst, dass nur ein Verkauf infrage kam?

Die Lage ist schon sehr lange schwierig. In den vergangenen 15 Jahren haben wir regelmäßig Verluste ausgleichen müssen. Jedes einzelne Jahr für sich betrachtet war vielleicht nicht bedrohlich, aber dafür war das Minus anhaltend. Wir haben alles getan, um das Problem zu lösen: Wir haben versucht, regionale Schwerpunkte zu bilden, und nach einer auskömmlichen Nische gefahndet. Aber schließlich mussten wir doch einsehen, dass es für uns in einem Massenmarkt eine solche Nische nicht gibt. Die Trennung war die ultimo ratio – nein, es gab keine Alternative.

Vielleicht haben Sie mit dem Verkauf sogar zu lange gezögert.

Das kann man uns vorwerfen, und diesen Vorwurf akzeptieren wir auch. Ich bin halt kein eiskalter Portfolio-Manager, der sich leichtfertig von etwas trennt, wenn es nicht läuft. Vielleicht ist dieses Verhalten typisch für ein Familienunternehmen wie das unsrige, dem die Vergangenheit viel bedeutet.

Ihr Vater hat einmal gesagt: „Ich sammele Menschen.“ Er konnte sich von Verlustbringern nur schwerlich trennen, der Abbau von Arbeitsplätzen war ihm ein Gräuel.

In der Tat, mein Vater konnte sich von überhaupt nichts trennen. Es war ihm einfach nicht möglich. Deshalb haben wir in unserer Unternehmenszentrale in Mülheim auch noch alle seine alten Autos gesammelt. Ich kann das verstehen, ein Kaufmann kalkuliert ja nicht nur, er hat auch Gefühle, vor allem, wenn er Unternehmen aufgebaut und Mitarbeiter über viele Jahre begleitet hat. Mir ist klar, dass man das heute nüchterner sehen muss, weil es für Unternehmen keinen Denkmalschutz geben kann. Das ist in unserer Generation auch schon viel klarer als in der Generation meines Vaters.

Der Verkauf der Supermärkte fügt sich in den jahrelangen Umbau Ihres Unternehmens. Sie haben sich von zahlreichen Altgeschäften getrennt, gleichzeitig erheblich in die Digitalwirtschaft investiert. Wofür steht Ihr Unternehmen heute und vor allem: Wofür steht es morgen?

Wir verstehen uns als internationales Handelshaus auf drei Säulen: Neben dem Handel sind es die Beteiligungen, zunehmend im digitalen Bereich, bei denen wir nicht mehr die operative Führung beanspruchen. Hinzu kommt schließlich unser starkes Immobiliengeschäft.

Folgen Sie bei dem Umbau der Tengelmann-­Gruppe einem Masterplan, den womöglich der frühere McKinsey-Berater Karl-Erivan Haub entworfen hat …?

Vor allem ist der Umbau die Reaktion auf Markttrends und technische Entwicklungen. Mir war klar, dass man in einem eher gesättigten Markt wie dem Einzelhandel die Nummer eins oder zwei sein muss, wenn man profitabel wirtschaften will. Deshalb hatten wir auch mit unserem früheren Discounter Plus gegen die großen Systemanbieter Aldi und Lidl keine echte Chance. Und deshalb haben wir auch unsere Obi-Baumärkte systematisch ausgebaut. Genauso prägend waren sicher auch die Erfahrungen, die wir in Amerika gewonnen haben …

Sowohl Sie als auch Ihre beiden Brüder sind dort geboren und haben US-Pässe.

Ja. Aus den USA haben wir zum Beispiel die Idee der „Dollar Stores“ mitgebracht. Inzwischen haben wir hier schon mehr als 1.400 dieser Ein-Euro-Läden. In Amerika haben wir vor allem aber hautnah miterlebt, welche Bedeutung das Internet und die Digitalisierung für unser Traditionsgeschäft besitzt. Vor fünf Jahren ist deshalb unser Entschluss gefallen: Da wollen wir maßgeblich mitspielen.

Das wollen heute vermutlich alle Unternehmer.

Wir bringen über Geld hinaus aber auch etwas mit. Wir haben uns immer wieder gefragt, wo und wie wir unser Know-how am besten einsetzen können. Deshalb haben wir gezielt in handelsnahe Internet-­Startups investiert.

Bitte wenden – hier geht’s zum zweiten Teil des Interviews.

Dieser Artikel erschien zuerst in der 6. Ausgabe von BILANZ.

Bild: Tengelmann

Trotzdem setzen Sie nicht alles auf das Internet. Haben Sie Zweifel, dass die digitale Revolution Ihr herkömmliches Geschäftsmodell komplett ersetzt?

Im Handel sind die Auswirkungen der Digitalisierung extrem und sehr direkt. Das steht fest. Nehmen Sie nur Zalando mit seinem lupenreinen Online-Verkauf. Dazu kommen aber Mischformen, sogenannte Cross-Channels. Wie sich die Digital­isie­rung auf welchen Handelsbereich auswirkt, lässt sich aber noch gar nicht voraussagen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Digitalisierung ja nicht auf den Handel oder die Medien beschränkt. Sie greift überall in die Wirtschaft ein, kein Bereich bleibt davon ausgenommen, ob Autos oder ganze Fabriken. Wie dieser Prozess der Umstellung von der analogen in die digitale Wirtschaft am Ende ausgeht, ob wir irgendwann ein neues, stabiles Gleichgewicht bekommen, das vermag heute noch keiner zu sagen.

Instabile und veränderliche Geschäftsmodelle sowie die ständige Anpassung der Beteiligungspolitik gehören künftig zum unternehmerischen Alltag?

Stabilität hat es auch früher nicht gegeben, die Zyklen waren bloß länger. Jetzt geht alles schneller. Was heute funktioniert, kann in drei Jahren schon veraltet sein. Erst, wenn die Digitalisierungswelle über alle Branchen der Wirtschaft, über alle Lebensbereiche weggerollt ist, wird man in eine neue Phase der relativen Stabilität kommen.

Die Digitalisierung gewinnt in jüngster Zeit sogar noch an Dynamik. Wie schmerzhaft wird die Anpassung für die Unternehmen?

Ich glaube, die großen digitalen Innovationen sind bereits erfunden. Die entwickeln sich jetzt in der realen Wirtschaft und globalisieren sich mit rasender Geschwindigkeit vom Silicon Valley aus in den Rest der Welt. Das dauert nicht Jahrzehnte, bis das in unseren Märkten ankommt.

Noch einmal: Wie schmerzhaft wird der Anpassungsprozess?

Sicherlich, es wird Anpassungsprozesse geben, die für die Betroffenen zum Teil hart ausfallen mögen. Die Digitalisierung bringt vor allem aber enorme Chancen. Wer sich frühzeitig gut aufstellt, der kann wie beim Surfen auf der Welle reiten. Wer aber abwartet und den Wandel nicht aktiv mitgeht, der riskiert, abgehängt zu werden. Und dann sind die Folgen noch viel gravierender.

Übertreiben Sie da nicht etwas?

Ich fürchte, nein. Ich kenne manche Unternehmer, die hoffen, die Welle rollt irgendwann aus, und dann fügt sich alles schon wieder. Die argumentieren dann mit den Erfahrungen des Neuen Marktes, der erst boomte und dann in sich zusammenbrach. Ich halte das für eine gefährliche Sichtweise. Wer glaubt, Zalando ist erst aufgebaut worden, um irgendwann wieder zu verschwinden, der irrt sich. Derartige Geschäftsmodelle werden bleiben als Teil unseres Lebens.

Bei mancher Aktivität drängt sich der Verdacht auf, es gehe den Leuten gar nicht darum, ein vernünftiges Unternehmen aufzubauen und mit ihm Geld zu verdienen, sondern darum, dem Kapitalmarkt irgendeine flotte Geschichte zu erzählen, um beim Börsengang Kasse zu machen.

So einfach lässt sich der Kapitalmarkt nicht austricksen. Wenn diese Firmen keine Perspektive in der realen Welt hätten, würden sie auch an der Börse schnell durchfallen. Und soweit ich weiß, sind die meisten dieser Firmen noch nicht untergegangen. Die Frage ist eher, ob sie ihre zum Teil hohen Bewertungen im Laufe der Zeit erfüllen können.

Amazon zum Beispiel hat bis heute noch keine Gewinne ausgewiesen.

Mag sein. Wer aber früh bei Amazon eingestiegen ist, hat trotz des jüngsten Kursrückgangs kein schlechtes Investment gemacht. Und eines ist für mich auch ganz klar: Amazon hat im internationalen Handel inzwischen eine herausragende Marktposition, die werden nicht mehr verschwinden.

Müssen wir uns von alten Dogmen verabschieden wie „Schuster bleibt bei deinem Leisten“? Zählt nur noch das Neue?

Nicht ganz, man sollte nicht leichtfertig etwas ganz Artfremdes machen, sondern das, was man vom eigenen geschäftlichen Umfeld kennt. Man muss aber mehr nach links und rechts schauen, mehr Mut zum Experimentieren haben. Wir müssen schneller, kreativer und risikofreudiger werden, wenn wir in der digitalen Welt mitmischen wollen.

Dazu gehört, dass auch Scheitern einkalkuliert werden muss. Es kann auch was schiefgehen.

Früher war Scheitern in Deutschland ein Malus. Es war fast undenkbar, dass jemand, der mit ein oder zwei Unternehmen pleitegegangen ist, wieder hochkommt. Bei der Startup-Szene, die ich jetzt in Deutschland erlebe, ist das gottlob anders. Wer eine Insolvenz durchgemacht hat, der hat auch Erfahrungen gesammelt, der weiß, worauf es ankommt. Wer aber kein Risiko eingeht, kann auch nicht gewinnen.

Bei Zalando hat Ihr Mut sich ja ausgezahlt.

Wir sind da früh eingestiegen, und wir bleiben dabei. Wir haben nach dem Börsengang keine Anteile verkauft. Zalando ist für mich eine schöne Bestätigung unseres Weges. Meine beiden Brüder und ich hatten das Glück, auf die drei Samwer-Brüder gestoßen zu sein…

Die Gründer von Zalando.

Die drei haben einen unglaublichen Tatendrang. Und sie haben den Beweis erbracht, dass man auch in Deutschland ein namhaftes Unternehmen der Digitalwirtschaft an den Start bringen kann.

Ist Zalando für Tengelmann ein Zukunftsmodell? Entwickelt sich Ihre Unternehmensgruppe mehr und mehr zu einer Art Vermögensverwaltung mit zahlreichen Beteiligungen?

Keine Sorge, wir sind ein internationales Handelshaus, wir bleiben operative Unternehmer. Ein Rückzug auf Finanz-Engagements kommt für uns nicht infrage. Eher umgekehrt: Der Schwerpunkt unserer Venture- und Startup-Beteiligungen liegt im Handel, weil wir hier am besten unsere Erfahrung einbringen und mit Partnern wie den Samwers Chancen in Wachstumsregionen wie Asien oder Südamerika nutzen können. Diese Möglichkeiten hätten wir mit traditionellen Handelskonzepten nie bekommen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der 6. Ausgabe von BILANZ.

Bild: Tengelmann