Pakete

Ein Aquarium steht auf dem Bürotisch, es sieht neu und gepflegt aus. Die Fische sind gerade erst dort hineingekommen. Es gab Vorgänger, aber der erste Versuch ist schiefgegangen: Da hatten die Mitarbeiter von Liefery sich einen Raubfisch gekauft, der seine Mitbewohner schnell beseitigt hatte. Jetzt haben sie dazugelernt und sich friedliebende Exemplare ausgesucht. Angeschafft hatten sie das Fischbecken von dem Geld, dass ihre Chefs nach dem Umzug in die neuen Räume jeder Abteilung zur Verschönerung des Arbeitsplatzes bereitgestellt hatten.

Ein Zimmer weiter sitzen drei junge IT-Mitarbeiter eng zusammen. Ihre Aufgabe ist es, Software für die Paketzusteller weiterzuentwickeln. Ganz konkret ist heute dies ihr Auftrag: Die Paketboten sollen über das Smartphone mitgeteilt bekommen, wenn es sich lohnt, bei einem Stopp mit dem Paketwagen gleich mehrere Sendungen auf einmal mitzunehmen.

Das bietet sich in den Fällen an, in denen die Hauseingänge der Empfänger dicht nebeneinander liegen oder in denen die Zahl der zu bewältigenden Stockwerke akzeptabel ist. Durch diese Hinweise per App verkürzen sich die Wege für die Paketfahrer bei einer Tour gleich um etliche Hundert Meter. Dass die große Kaffeemaschine in diesem Büro bei den IT-Entwicklern in Reichweite steht, ist kein Zufall. Ein Espresso hilft bei der Arbeit mit Algorithmen.

Selbst für Post-Tochter DHL gibt es nicht genügend Bewerber

Das Berliner Startup namens Liefery ist nur ein Beispiel dafür, wie sich die Paketzustellung in Deutschland gerade gewaltig verändert. Denn die Tatsache, dass die Deutschen immer mehr Waren in Onlineshops kaufen, bedeutet eine gewaltige Herausforderung für die Zustellfirmen. Für die rund drei Milliarden Sendungen, die in diesem Jahr an die Haustüren gebracht werden, fehlt den Firmen zunehmend das Personal.

Experten rechnen mit einer Verdoppelung dieser Zahl in den kommenden zehn Jahren. Konzerne wie die Post-Tochter DHL werben deshalb in U-Bahnen und per Handzettel im Briefkasten Paketzusteller an. Der Verdienst liegt bei der Post um die Hälfte über dem Mindestlohn von aktuell 8,84 Euro in der Stunde. Dennoch gibt es nicht ausreichend Kandidaten.

Ein Ausweg sind Arbeitstrupps aus EU-Ländern wie Bulgarien oder Rumänien, die dann zu fragwürdigen Bedingungen in Wohnstätten untergebracht werden und meist mehr als acht Stunden am Tag mit ihren Sendungen unterwegs sind. Möglich sind derartige Beschäftigungen nur in dem Graubereich des Subunternehmertums: Alle großen Paketdienste nutzen dieses Modell, Paketfahrer nicht direkt bei sich anzustellen, sondern die Zustellung an fremde Firmen auszulagern.

Versand muss schnell und verlässlich sein

DHL sowie die deutsche Tochter von UPS machen dies nur in geringem Umfang. Die Unternehmen DPD, Hermes und GLS arbeiten jedoch komplett mit diesem Beschäftigungsmodell. Gerechtfertigt wird dies dann vom Management mit den geringen Preisen, die die Versender für die Paketzustellung bezahlen – was eine auskömmliche Bezahlung der Fahrer angeblich nicht ermöglicht.

Das Problem betrifft besonders die jungen Lieferdienste in der Branche. „Die Schere geht immer weiter auseinander. Auf der einen Seite ist die Zahlungsbereitschaft der Paketempfänger gering, und auf der anderen Seite steigt die Erwartungshaltung an den Service“, sagt Nils Fischer, einer von drei Gründern der Zustellfirma Liefery. Der Versand muss schnell und verlässlich sein. Und er muss jederzeit transparent sein, damit der Kunde weiß, wo sein Paket gerade ist.

Im Konkurrenzkampf des Einzelhandels haben Onlinehändler es jedoch „versäumt“, den Bestellern einen realistischen Versandpreis abzuverlangen. Stattdessen haben sie eine Gratiskultur geschaffen. Den Druck geben viele Versandhändler an die Zusteller weiter. Am Ende ist der Job schlecht bezahlt und unattraktiv.

Auch Liefery ist Teil dieses Geschehens und hat mit einem Preis von fünf Euro für die taggleiche Zustellung anfangs den Markt unterboten. Mittlerweile hat die Berliner Firma die Pakettarife angehoben. „Wir subventionieren unsere Preise bei den konsolidierten Sendungen nicht mehr“, sagt Geschäftsführer Fischer.

Digitalisierung vereinfacht die Arbeit enorm

Einen Weg aus dem Dilemma soll nun die Technisierung der Zustellarbeit weisen. Wenn Technik die Arbeit so einfach macht, dass keine umfangreiche Ausbildung mehr notwendig ist, dann kommen auch andere Gruppen dafür infrage. Konkret gesagt: Studenten und andere geringfügig Beschäftigte auf 450-Euro-Basis sollen die Paketberge abtragen.

„Wir sind davon überzeugt, dass die wachsenden Sendungsmengen nur über die Digitalisierung der letzten Meile zu bewältigen sein werden“, sagt Manager Fischer. Die Mehrheit an Liefery gehört mit rund 67 Prozent der Anteile seit Kurzem dem Paketzusteller Hermes. An der Unabhängigkeit bei der Tagesarbeit soll dies aber laut dem Management kaum etwas geändert haben.

Der Lieferdienst ist demnächst in rund 100 deutschen Großstädten vertreten und arbeitet mit etwa 4000 Kurierfahrern zusammen. Lediglich zehn Prozent davon sind eigene Angestellte, der Rest wird bei Kurierfirmen angeheuert. „Zusteller zu finden ist ein Riesenproblem“, sagt Fischer. Seine Firma setzt darauf, dass demnächst auch Menschen „ohne Vorwissen“ diesen Job machen werden.

Pakete

Zusteller am Abend mit hoher Erfolgsquote

Der Ansatz des im Jahr 2014 gegründeten Startups ist dieser: Waren, die bis mittags bei den Händlern bestellt sind, kommen am selben Tag an die Haustür. Die Berliner Firma stellt Sendungen fast ausschließlich in den Abendstunden zwischen 18 Uhr und 22 Uhr zu.

Der Empfänger sucht sich darin einen Zustellzeitraum von einer Stunde aus und wird etwa 30 Minuten vorab über den genauen Zeitpunkt informiert. Nach eigenen Angaben sind die Zusteller zu 98 Prozent erfolgreich, ihre Pakete bei der ersten Tour übergeben zu können. Ebenfalls nach Aussage der Firma werden derzeit rund 600.000 Sendungen im Monat ausgeliefert, das Wachstum liegt demnach bei hohen zweistelligen Prozentzahlen.

Die Zustellarbeit in den Abendstunden soll etwa für Studenten attraktiv gemacht werden. Gelockt wird mit Stundenlöhnen, die zwischen zehn und 13 Euro liegen. Wichtigstes Arbeitsgerät ist ein Smartphone mit der eigens entwickelten App, die Informationen über die Route bis hin zum Hausflur und Stockwerk der Paketempfänger zeigt.

Möglich wird dies, weil der Lieferdienst von seinen Versandkunden – Amazon, Zalando, Sportscheck, Jacques’ Weindepot sollen etwa darunter sein – sämtliche Empfängerdaten erhält. Da dies bereits vor der Abholung der Sendung etwa im Zentrallager geschieht, bleibt ausreichend Zeit, die Zustelltouren und Zustelldetails zusammenzustellen, bevor der Paketbote sein Fahrzeug belädt.

Fahrzeuge von Sixt werden abends ausgelastet

Die Paketfahrzeuge wiederum sind in den Städten verteilt. Zur Ausweitung plant Liefery nun eine Zusammenarbeit mit dem Autovermieter Sixt, der über diesen Auftrag die Flotte an Kleinlastern in den Abendstunden auslasten will. Zudem wird die Firma demnächst eine Frachtvariante des Kleinwagens Smart einsetzen.

Die Paketboten finden ihr Fahrzeug möglichst in ihrer Nachbarschaft, öffnen es per elektronischem Schlüssel mit dem Smartphone und fahren zum nächsten Paketdepot in der Innenstadt. Dort laden sie die Pakete in einer vorgegebenen Reihenfolge ein.

Anschließend führt die Smartphone-App sie auf der Zustelltour. Da stetig neue Daten und Informationen über die Empfänger hinzukommen und über Algorithmen aufbereitet werden, entsteht eine wachsende Datensammlung über Stadttouren und Details der Empfängeradressen.

Deutschkenntnisse für den Job besonders wichtig

Die Auswahl der Jobkandidaten erfolgt zunächst schriftlich und dann über ein Gespräch. Wichtiger Punkt darin sind Deutschkenntnisse. „Wenn wir bei einem Kandidaten unsicher sind, ob seine Sprachkenntnis ausreicht, schicken wir ihn in einen Sprachtest“, sagt Manager Fischer. Deutsch solle er können, Englisch sei eine Alternative.

In Städten wie Berlin soll dies kein Problem mehr sein. „Wir denken darüber nach, ob nicht auch gute Englischkenntnisse genügen können“, sagt Fischer. Neben der Sprachkenntnis möchte seine Firma bei den Zustellzeiten flexibel reagieren. „Wir würden gern nach 22 Uhr Sendungen zustellen. Bislang wollen die meisten Onlinehändler dies nicht, weil sie befürchten, dass sich die Kunden gestört fühlen“, sagt der Manager.

Doch selbst eine Paketablieferung in den Nachtstunden ist im Gespräch. Technisch ist es machbar, Haustüren nachts zugänglich zu machen. Ebenfalls per Smartphone und App erhält der Zusteller dann die – einmalige – Möglichkeit, den Türöffner der Empfängerwohnung auszulösen und damit in das Wohnhaus hineinzukommen. Das Paket legt er vor der Wohnungstür in einem gesicherten Paketbeutel ab. Erste Entwicklungen von Softwarefirmen aus der Logistik gibt es dazu bereits.

So sind die wachsenden Paketberge für die Zustellfirmen Segen und Fluch zugleich – im bevorstehenden Weihnachtsgeschäft sind sie gar eine Bedrohung. Die teilweise doppelt so großen Mengen können nämlich dem einen oder anderen Lieferdienst zum Verhängnis werden. Einige Firmen werden den Aufwand für zusätzliche Mietfahrzeuge und Saisonpersonal mit den knapp kalkulierten Versandpreisen nicht ausgleichen können. Zusteller wie der Paketdienst GLS haben deshalb in den vergangenen Jahren für die Wintermonate keine Zusatzmengen mehr angenommen.

Bild: Getty / Justin Sullivan