Die Altenpflegerin Annika Stiller auf dem Weg zur nächsten Patientin

Ein ungemütlicher Tag für einen Fahrradausflug: Es nieselt, zudem ist es noch nicht mal hell, als Annika Stiller ihr Mountain-Bike vor einem Haus in der Talstrasse im Berliner Bezirk Pankow parkt. Das Handydisplay zeigt: 5.55 Uhr. Morgens. Schichtbeginn für die 24-jährige Berliner Altenpflegerin, eine zierliche Person mit freundlicher, geduldiger Stimme.

Stiller schließt die Tür zu einer Erdgeschosswohnung auf, in allen Zimmern brennt Licht. Die Lampen leuchteten rund um die Uhr, da sich die Bewohnerin nicht mehr alleine bewegen kann. Dumpfe Fernsehstimmen hallen über den Flur. „Guten Morgen, Frau Gitter, wir sind es“, ruft Stiller in Richtung der Geräusche. Sie streift sich Plastiküberzüge über die Straßenschuhe, pellt sich aus der Jacke und tippt auf ihrem Handy ein, dass der Dienst beginnt. Dann betritt sie das Wohnzimmer. Ein warmer Raum mit Eichenmöbeln aus dem vergangenen Jahrhundert. Eine weißhaarige Dame liegt in einem höhenverstellbaren Krankenbett, die Augen wach: Imke Gitter (Name von der Redaktion geändert), 72 Jahre alt, bettlägerig.

Gitter erhält die Grundpflege und alles, was sonst nötig ist. Sprich: das volle Programm. Wickeln, Beine waschen, Zähne putzen, eincremen, anziehen, Haare kämmen, Frühstück bringen. Außerdem wechselt Stiller Verbände und ist für sonstige Bedürfnisse der Patientin da. Während die isst, überprüft die Altenpflegerin in der Küche, ob alle Tabletten im Pillenetui sind. Dann reicht sie der alten Dame die Ration für den Morgen. Nach knapp 45 Minuten ist der Dienst beendet. Stiller gibt das auf ihrem Handy ein. Fertig. Der nächste Patient wartet.

Stiller ist eine von 130 Mitarbeitern, die das Berliner Startup Pflegetiger derzeit in der deutschen Hauptstadt beschäftigt – darunter allein 100 Pflegefachkräfte. Heute sind sie für mehr als 500 Kunden in Berlin zuständig. Gestartet wurde die Firma von Constantin Rosset, Philipp Pünjer und Moritz Lienert im Jahr 2016, unter dem Dach der Startup-Schmiede Rocket Internet. Ein relativ kurzer Zeitraum, in dem sich das Startup in der Hauptstadt etabliert hat: „Wir sind von 1.500 Kundenbesuchen im Dezember 2016 auf knapp 12.000 in Dezember 2017 gewachsen“, sagt Lienert auf Anfrage von Gründerszene. Welche Umsätze die Firma erwirtschaft und ob sie schwarze Zahlen schreibt, möchte er nicht preisgeben.

Laut einer Studie der Unternehmensberater von Roland Berger ist der Pflegemarkt im Moment der drittgrößte Bereich des deutschen Gesundheitswesens, nach Krankenhäusern und ambulanter ärztlichter Versorgung. Demnach erzielt er rund 50 Milliarden Euro Umsatz und wird bis 2030 auf ein Volumen von bis zu 85 Milliarden Euro wachsen. „Der Wettbewerb sowohl um Personal als auch um Marktanteile wird zunehmen“, lässt sich Oliver Rong, Partner bei Roland Berger, in der Ärztezeitung zitieren. Unternehmen, die hier erfolgreich aufgestellt sein wollen, benötigten eine klare Strategie. Laut den Experten von Berger besteht sie aus einem integrierten Geschäftsmodell mit digitalisierten Prozessen, einer starken Marke, Qualitätsmanagement und Kostenvorteilen für Kunden.

Theoretisch kann das alles so manch tech-getriebenes Startup liefern. Und Rocket Internet hat einige junge Firma mit diesen Kenntnissen ausgestattet. Dennoch ist das Investment in Pflegetiger ungewöhnlich für ein Internet-Unternehmen, das normalerweise Geschäftsmodelle fördert, die schnell auf mehrere Städte und Länder übertragen werden können. Und die das Potenzial haben zu wachsen, wachsen, wachsen.

Am deutschen Pflegemarkt ist jenes Wachstum allerdings nur sehr eingeschränkt möglich, da der Bereich von Bundesland zu Bundesland verschieden geregelt wird. Vergütungssätze für die einzelnen Pflege-Leistungen können je nach Bundesland abweichen – und ein einheitliches Modell auf Bundesebene ist nicht in Sicht. Ein flottes Ausrollen einer Geschäftsidee auf mehrere Städte ist so schwerlich möglich.

Zumal der Pflegemarkt sehr personalintensiv ist. Menschen pflegen Menschen vor Ort. Überall werden Pflegefachkräfte gesucht – keine leichte Aufgabe bei branchenüblichen Löhnen von rund 2500 Euro brutto im Monat. Laut Bundesgesundheitsministerium sollen 2025 rund 200.000 Pflegekräften fehlen. 

Ein weiterer Stolperstein beim schnellen Wachsen: Der Markt ist weitgehend besetzt. Es gibt Tausende ambulante Pflegedienste in Deutschland – allein 600 in Berlin. Darunter sind andere junge Unternehmen, wie Careship aus Berlin oder Pflegix aus Witten. Warum also wagt sich Rocket mit einem weiteren Projekt auf dieses schwierige Feld?

Auch bei schlechtem Wetter ist die Altenpflegerin Annika Stiller mit dem Rad unterwegs

„Die Nachfrage nach ambulanter Pflege nimmt angesichts der demographischen Entwicklung in Deutschland zu“, sagt eine Sprecherin der Firma auf Nachfrage von Gründerszene. Pflegetiger setze hier erfolgreich neue Technologien ein: „Wir sind von dem innovativen Ansatz von Pflegetiger überzeugt, und sehen uns durch das erfolgreiche Wachstum des Unternehmens darin bestätigt.“

Überzeugen will das junge Unternehmen vor allem durch vier Punkte:

  • Pflegetiger soll sich ganz Startup-typisch von etablierten Wettbewerbern abheben, mittels eines eingängigen Logos und hipper Büroräume mit zwei Grills auf der Terrasse.
  • Allerdings sollen die Pflegekräfte hier laut Gründer Lienert gar nicht so viel Zeit verbringen, sondern vielmehr bei den Patienten. Die Devise lautet: Die Angestellten arbeiten autark, dank einer dezentralen Unternehmensstruktur. Helfen soll, wie man es oft von jungen Unternehmen hört, digitiale Technologie – in diesem Fall in Form einer eigens entwickelten App. „Sie sorgt dafür, dass der Arbeitsalltag der Pflegefachkräfte stressfreier wird und macht den Kommunikationsprozess effizienter“, erklärt Lienert. Pflegekräfte könnten zum Beispiel eine Terminänderung direkt über die App angeben und müssten deswegen nicht mehr nach der Tour im Büro anrufen: „Eine Terminabsage kann selbstständig vom System erfasst werden und die freie Kapazität in der Tour kann neu verplant werden.“ Im Ergebnis sollen Prozesse dank der Technologie schneller und schlanker aufgestellt sein – und durch Digitalisierung der Kommunikation die komplette Organisation automatisiert werden.
  • Außerdem leben die Pflegetiger-Mitarbeiter nach Angaben von Lienert in der Nähe ihrer Patienten. Sie könnten zu den Einsätzen radeln, lange Anfahrtswege, Verzögerungen durch Staus und Parkplatzsuche fielen weg. Und auch ein teurer Fuhrpark benötigt das Startup nicht, einfache Fahrräder reichen aus.
  • Während sich bei anderen Anbietern Angestellte in der Regel um die Grund- oder die sogenannte Behandlungspflege kümmern, übernehmen die Pflegetiger-Kräfte beide Bereiche. „Dadurch gelingt es uns trotz der niedrigeren Wegzeiten, die Gesamtanzahl an Patienten pro Tour niedriger zu halten als bei Wettbewerben“, sagt Lienert. Die Mitarbeiter benötigten zwar eine längere Ausbildung und erhielten mehr Gehalt als Menschen, die nur für die Grundpflege zuständig seien. Dennoch mache das Modell auch wirtschaftlich Sinn: „Grundpflegerische Leistungen werden zwar nicht so hoch vergütet wie Behandlungspflege, allerdings rechnet sich der Einsatz von Pflegefachkräften hier auch, wenn man entsprechend die Fahrtzeiten verkürzt.“

Insgesamt sollen die Angestellten so mehr Zeit bei den Patienten verbringen können. Die Zeit pro Kunde schwanke bei dem Startup je nach erbrachter Leistung stark, von knapp 10 bis gut 60 Minuten. „Im Schnitt liegen wir bei ca. 20 Minuten“, sagt Lienert. Sonderlich viel Zeit sind die 20 Minuten nicht – wenn auch deutlich mehr als Pflegefachkräfte üblicherweise pro Einsatz zur Verfügung haben, wie der Gründer betont. Und während es in klassischen ambulanten Diensten üblich sei, dass eine Fachkraft während einer Tour mit Krankenpflege 30 bis 40 Einsätze habe, seien es bei dem jungen Unternehmen etwa die Hälfte. Stress und Unzufriedenheit bei dem Personal würden so vermieden, gibt sich Lienert überzeugt.

Doch reicht das wirklich aus, um dringend benötigte Pflegefachkräfte zu gewinnen? Ihr Gehalt ist bei Pflegetiger auf jeden Fall nicht höher als anderswo, wie Lienert zugibt: „Wir zahlen gute, aber branchenübliche Löhne, die mit Einsatzpauschalen und Bonus fast immer bei 3000 Euro brutto und mehr für Vollzeitkräfte liegen.“

Auf schicke Büros, Grill und Firmenhandy legt Annika Stiller wenig Wert, wie sie sagt. Sie hat sich bereits als 16-Jährige für den Job in der Altenpflege entschieden. Seitdem habe sie schon viele Angebote von Arbeitgebern ausgeschlagen, erzählt sie. „Ich habe darauf geachtet, wie viel Zeit ich für die Betreuung eines Patienten habe.“ Die Menschen freuten sich immer, wenn sie da sei. „Es gibt mir ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden“, sagt sie: „Manchmal sind wir die Einzigen, die die alten Menschen noch haben.“

Vor der Anstellung bei Pflegetiger arbeitete sie zwei Jahre lang als Leasingkraft für eine Zeitarbeitsfirma in Krankenhäusern. „Da hatte ich weniger Zeit für die Kunden als heute“, erinnert sie sich. Manchmal seien es nur zehn Minuten für eine Grundpflege gewesen. Heute könne sie es entspannter angehen, müsse die alten Leute nicht hetzen. Und es gefällt Stiller, so nah an ihrem Zuhause zu arbeiten. Sie wohnt im Berliner Bezirk Wedding – und hier sind auch ihre Patienten. „Mich stört es nicht, wenn es beim Fahrradfahren regnet“, sagt die Altenpflegerin.

Drei Nachteile ihres Jobs fallen der 24-Jährigen dennoch spontan ein: „Die Zeit, der Personalmangel und die Bezahlung.“ Irgendwann könne sie sich vorstellen, eine Extra-Qualifikation zur Wundschwester zu machen. Es ist eine Möglichkeit, um einen kleinen Gehaltssprung zu machen – und vor allem, um noch ein bisschen mehr Zeit mit den Patienten herausschlagen zu können.

Bild: Gründerszene