Der moderne Dieb lässt sich sein Diebesgut bequem ins Haus schicken. Er zahlt einfach nicht und ist nachher nicht mehr auffindbar. Oder er behauptet, die Ware sei nicht angekommen, und verlangt sein Geld vom Onlineshop zurück. Die Hemmschwelle ist niedrig. „Normalerweise sind solche lügenhaften Käufer keine gewohnheitsmäßigen Betrüger“, heißt es in einer Studie des früheren Paypal-Mitarbeiters Markus Jakobsson und zweier Kollegen.

Auch im Onlinegeschäft gilt offenbar die alte Weisheit, dass Gelegenheit Diebe macht. Nach einer Umfrage des Dienstleisters Händlerbund sind bereits 70 Prozent der Onlineshops Opfer von Betrugsversuchen geworden. Aber nur 14 Prozent nutzen Methoden zur Erkennung unlauterer Käufer. Nach Angaben der Berliner BBW-Wirtschaftshochschule ist der Schaden der Händler im Internet durch Betrug in den vergangenen fünf Jahren um 63 Prozent auf jährlich 2,4 Milliarden Euro hochgeschnellt.

Prominentestes Opfer in jüngster Zeit ist der Modehändler Zalando. Spektakulärster Fall beim Berliner Handelshaus: Zwischen Juni 2014 und Juni 2015 gingen 962 Bestellungen aus dem Raum Lebach im Saarland ein und wurden auf Rechnung ausgeliefert. 627 davon wurden nie beglichen. Bei einer Rechnungssumme von insgesamt 180.000 Euro blieb Zalando auf 120.000 Euro sitzen. Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken beschuldigt 46 Personen, von denen 41 in der Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge wohnten. Auch sie sind zum Teil weg.

Zu viele Bestellungen auf Rechnung

Doch das Problem liegt tiefer. Der Klau per Distanzhandel ist nicht nur nach Einschätzung der Paypal-Profis viel weiter verbreitet als bisher angenommen. „Der gestiegene Anteil von Bestellungen auf Rechnung im Vergleich zum Vorjahreszeitraum kombiniert mit einem höheren Niveau von betrügerischem Handeln im Markt haben zu höheren Wertminderungen auf Forderungen aus Lieferungen und Leistungen geführt“, erklärt der Vorstand im jüngsten Zwischenbericht im nüchternen Buchhalter-Deutsch.

Zalando habe „mehr Leuten eine Zahlung über Rechnung angeboten, als wir es tun hätten sollen“, sagte ein Sprecher. Betrüger in ganz Deutschland hätten das ausgenutzt. Das verwundert auf den ersten Blick, denn schon einfache Überprüfungstechniken können grobe Missbräuche bremsen. Ein Alarmzeichen sei beispielsweise, wenn „eine hohe Frequenz an Bestellungen in kurzer Zeit an eine Lieferadresse geht“, so der Online-Zahlungsabwickler Paymill. Ein Fall wie Lebach beispielsweise hätte da auffallen müssen.

Betrüger zwingen Shops zu Gratwanderung

Es gibt einen ganzen Instrumentenkasten an Vorsichtsmaßnahmen und Sicherungen gegen mögliche Missetäter. Auskunfteien wie Schufa oder der Creditreform-Ableger Boniversum checken Adressen und erstellen binnen Zehntelsekunden Bonitätsprognosen für jeden einzelnen Kunden – gegen Gebühr, versteht sich. Die Händler können dann beispielsweise in ihren Datenbanken Automatismen hinterlegen, nach denen Kunden mit einem bestimmten Risikoprofil nur gewisse Zahlungsarten angeboten werden und andere nicht, beispielsweise Kauf auf Rechnung.

Nach den Erfahrungsberichten von Boniversum-Kunden funktioniert das Rezept gut. Der Stromanbieter Lichtblick konnte nach eigenen Angaben seine Forderungsausfälle von 1,25 auf 0,5 Prozent drücken, beim Teddybären-Produzent Steiff dürfen zwei Drittel aller Kunden auf Rechnung zahlen, ohne dass mehr unbezahlte Rechnungen anfielen. Der Fußballclub Schalke 04 berichtete aus der Merchandising-Abteilung: „Es gibt nur wenige Rückbuchungen.“

Doch Betrüger und leichtfertige Zahlungsverweigerer zwingen die Betreiber von Onlineshops zu einer Gratwanderung. Je höher die Sicherheitshürden sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kunden sich den entscheidenden Klick auf den Button „In den Warenkorb“ schenken und zur Konkurrenz weiterklicken. Kulanz in jeder Hinsicht beflügelt das Geschäft, Einschränkungen gelten als Gift für den Umsatz.

So betont Zalando, an dem 100-Tage-Rückgaberecht nicht rütteln zu wollen. Dabei ist es kein Betriebsgeheimnis, dass manches Abendkleid nach einmaligem Gebrauch mit Dank ins Lager zurückgeschickt wird. Doch die großzügige Regelung ist für viele Kunden ein Grund zur Bestellung, den man nicht aufs Spiel setzen will.

Score zeigt, ob Kunde zahlungsfähig ist

Die Auskunfteien versprechen den Händlern einen Ausweg aus dem Dilemma: „Für ein profitables Geschäft ist für Sie das Wissen über das zu erwartende Zahlungsverhalten Ihrer Kunden erfolgsentscheidend“, mahnt Boniversum in einer Selbstdarstellung. Dabei gilt ein ausgeklügeltes Punktesystem, ein sogenannter Score.

Kommen beim Schnelltest – für die Käufer nicht wahrnehmbar zwischen dem „Kaufen“-Klick und der Seite mit den angebotenen Zahlungsarten – ein Scorewert zwischen 926 und 1079 Punkte heraus, heißt das: Annehmen, alles in Ordnung. Es liegen keine personenbezogenen Negativmerkmale vor. Liegt die Punktzahl darunter, mahnt das System zur Vorsicht. Erscheint ein fünfstelliger Code, gehen die roten Lampen an: Es liegen negative Kontodaten vor, ein Inkassoverfahren läuft oder ein Gericht hat die Zahlungsunfähigkeit festgestellt.

Verbraucherschützer sind von dem Verfahren weniger begeistert. Immer wieder zieht es Kritik auf sich, weil – abgesehen von harten persönlichen Negativmerkmalen wie Inkassoverfahren – weiche Daten wie Vorname, Alter oder Wohngebiet in die Bewertungen einfließen, die beispielsweise auch Einfluss auf den Abschluss von Handy-Verträgen oder die angebotenen Zinskonditionen bei Ratenkrediten haben können.

Die Eröffnung von Flüchtlingseinrichtungen oder anderen Heimen in der Umgebung sei aber kein Nachteil für die Nachbarn, versichert Boniversum: „Strukturveränderungen in Wohngebieten wie zum Beispiel die Einrichtung von Flüchtlingsheimen haben keine Auswirkungen auf die Score-Berechnung“, sagte ein Sprecher.

Kunden lieben Kauf auf Rechnung

Diese Häuser würden in der Regel als Sonderadressen markiert. Dasselbe gelte seit jeher auch für andere spezielle Anschriften wie beispielsweise Justizvollzugsanstalten. Bonitätsprognosen allein auf der Basis von Adressendaten, das sogenannte Geo-Scoring, hat der Gesetzgeber ohnehin im Bundesdatenschutzgesetz untersagt.

Ohne die Datensätze der Auskunfteien wird es aber nach Einschätzung des Bundesverbands E-Commerce und Versandhandel (Bevh) nicht gehen. „Hintergrund ist, dass im Distanzhandel bei bestimmten Bezahlverfahren dem Kunden ein Vertrauensvorschuss gewährt wird“, sagt Verbandsjurist Sebastian Schulz.

Das Problem der Händler: Die meisten Kunden lieben ausgerechnet das unsicherste Zahlungsverfahren – den Kauf auf Rechnung – am heißesten. Nach jüngsten Erhebungen des Bevh bevorzugt fast jeder dritte Kunde diese Methode, während die modernen Bezahlsysteme wie Paypal, ClickandBuy oder Giropay zuletzt sogar auf dem Rückzug waren. Ganz ausschließen lässt sich der Schwindel im Netz wohl nie. „So wie der stationäre Handel mit Ladendiebstahl und ,Inventurdifferenzen‘ umgehen muss, müssen allerdings auch Distanzhändler Zahlungsausfälle einkalkulieren“, sagt Schulz.

Dieser Text erschien zuerst in der Welt

Bild: Zalando