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Geschäft Wie lange gehen die Menschen noch in einen Supermarkt?

Ein hektischer Morgen. Philipp und Nora streiten, während ihr Baby plärrt. Beide Teile des jungen Elternpaars sind berufstätig und haben keine Zeit zum Einkaufen. Aber es gibt ja den Online-Einkaufsservice.

So wie in diesem Spot des Bringdienstes Emmas Enkel macht es bisher fast niemand in Deutschland – doch das wird sich bald ändern. Die renommierte Marktforschungsfirma GfK sagt einen nachhaltigen Durchbruch für den Online-Handel mit Lebensmitteln für die nächsten zehn Jahre voraus. Der Anteil des Segments „Lebensmittel und Drogerieartikel“ am gesamten Online-Umsatz des Handels werde sich bis 2025 von acht auf 16 Prozent verdoppeln, heißt es in einer Studie mit dem Titel „E-Commerce – Wachstum ohne Grenzen?“, die der Welt vorab vorlag.

Lebensmittel werden für den Online-Handel wichtiger

Im reinen Lebensmittelhandel – also ohne Drogerieartikel – zeichnet sich sogar eine Vervielfachung des Geschäfts ab. Erreichte der Online-Verkauf im vergangenen Jahr gerade 1,1 Milliarden Euro, so wird die Summe innerhalb der nächsten zehn Jahre auf mehr als sieben Milliarden Euro jährlich klettern, sagte Studienautor Gerold Doplbauer der Welt.

Der Schub wird die Gewichte im Online-Geschäft neu verteilen, allein schon wegen der überragenden Bedeutung der Nahrungsmittel-Ausgaben für die Verbraucher. Fast die Hälfte aller Konsumausgaben (48,5 Prozent) fließen in dieses Segment. Zum Vergleich: Für Technik und Medien geben die Deutschen im Schnitt knapp 16 Prozent ihres Budgets aus, für Mode und Lifestyle sowie Garten und Heimwerken je elf Prozent. Einrichten, Wohnen, Sport und Freizeit müssen sich den Rest der Kaufkraft teilen.

Die GfK wagt sich mit ihrer Prognose weit vor. Deutschland gilt bislang als besonders schwieriges Terrain für den E-Commerce bei Lebensmitteln. Der Drang zum Einkauf per Mausklick bleibe nicht zuletzt angesichts eines dichten Filialnetzes mit bundesweit 40.000 Supermärkten, Discount-Läden und SB-Warenhäusern gering, glauben viele Kunden und Manager.

Allerdings werde der Marktführer die Entwicklung aufmerksam verfolgen, so Mosa. In der Tat: Ignorieren lässt sich der Trend schon jetzt nicht. Die Marktriesen werden im passenden Moment aufspringen, schätzt Doplbauer: „Die etablierten Unternehmen sind in der komfortablen Situation, erst einmal andere ausprobieren zu lassen, was funktioniert“ – siehe Aldi-Süd mit ihrer abwartenden Haltung.

Andere große Gruppen wie Edeka, Rewe, Lidl oder Netto zählen dagegen zu den Vorreitern des Online-Geschäfts. Drogerie-Marktführer dm bestätigte Doplbauers Einschätzung: Die Kette eröffnete Mitte Juli ihren Online-Shop, nachdem Rivalen wie Rossmann, Müller oder Budnikowsky Ähnliches erfolgreich erprobt hatten.

Einen Amazon des deutschen Lebensmittelhandels wird es nach Meinung des GfK-Experten dagegen nicht geben: „Newcomer haben auf dem Massenmarkt geringere Chancen, da sie gegenüber den etablierten Unternehmen nachteilige Einkaufskonditionen haben und nicht auf bestehende Logistiknetze zurückgreifen können.“

Berührungsängste beim Lebensmittelkauf im Netz

Vor dem erwarteten Durchbruch für den Online-Handel mit Lebensmitteln müssten allerdings noch Barrieren geschleift werden. Dazu zählten hohe Versandkosten, Mindestbestellwerte oder feste Lieferzeiten, die Kunden zum Warten auf den Boten zwängen. Doch das seien nur Anlaufschwierigkeiten, ist sich Doplbauer sicher: „Ich gehe davon aus, dass die Zugangsschwellen in den nächsten Jahren sinken.“ Auch in der Logistik werde es zu „deutlichen Innovationsschüben“ kommen.

Beim Lebensmittelkauf in Netz gibt es bisher Berührungsängste. Erst jeder fünfte deutsche Konsument hat nach den GfK-Zahlen überhaupt schon einmal Lebensmittel online bestellt, während zwei Drittel schon einmal ein Buch übers Internet gekauft haben. Die Werbefiguren Philipp und Nora zählen also zur – noch – kleinen, aber wachsenden Zielgruppe vielbeschäftigter junger Menschen in Ballungsräumen mit knappen Zeitbudget. Sie bereiten dem Boom den Boden, so die Online-Strategen.

Das Geschäft wird nach Meinung Doplbauers Fahrt aufnehmen, wenn sich herumsprich, dass das Prinzip funktioniert. Ähnlich verlief die Entwicklung in anderen Warengruppen mit wesentlich höherem Online-Anteil wie Medien, Elektronik oder Bekleidung. Bei Nahrung dürften vor allem schwere, unhandliche oder lange haltbare Produkte wie Konserven, Getränke oder Süßwaren das Eis bei den Konsumenten brechen. Das Sortiment werde dann erweitert, je ausgefeilter die Logistik werde.

Angst vor dem Ladensterben

Eins zu eins werde das Online-Sortiment aber wohl nie der Auswahl im Laden gleichen, ist sich der GfK-Experte sicher: „Ich glaube nicht, dass Frische-Produkte wie Fisch oder Fleisch flächendeckend ohne Mehrkosten online geben wird. Das ist eher etwas für regionale Nischenanbieter.“ Andernfalls werde der Aufwand zu groß – für Kunden und Anbieter: „Es ist alles machbar, aber nicht alles ist profitabel.“

Allerdings habe das Vordringen von E-Commerce Folgen für die bestehenden Filialnetze. Ab etwa 2020 werde sich das Wachstum der Verkaufsflächen, bisher jährlich zwischen 0,5 bis 1,5 Prozent, deutlich verlangsamen. „Von einer großflächigen Schließungswelle gehe ich aber nicht aus“, dämpfte Doplbauer Furcht vorm Ladensterben. Denn selbst bei der vorausgesagten Vervielfachung des Anteils online verkaufter Lebensmittel werde auch in zehn Jahren noch der Löwenanteil des Lebensmittel-Absatzes über Geschäfte vor Ort laufen.

In anderen Warengruppen ist der Wachstums-Höhepunkt des Internet-Handels nach Erkenntnissen der Studie bereits überschritten. Viele Kunden haben hier – anders als bei Lebensmitteln – den Einkauf im Netz bereits ausprobiert. „Das Potenzial zusätzlicher Erstkäufer nimmt somit ab und die Wachstumsraten verlangsamen sich“, heißt es in der Studie. So habe das Online-Geschäft mit Büchern und Medien zuletzt nur noch um 2,4 Prozent zugelegt. Auch das Segment Technik und Medien habe sich verlangsamt. Stark bleibe dagegen unter anderem der Bereich Schuhe und Bekleidung.

Online-Handel sind laut Studie Grenzen gesetzt

Insgesamt aber ist für den deutschen Online-Handel die Pionierzeit mit hohem Zuwächsen und großen Risiken nach Einschätzung der GfK vorbei – abgesehen von Lebensmitteln. Über alle Warengruppen werde sich das durchschnittliche jährliche Wachstum bis 2020 auf 7,5 Prozent und im folgenden Jahrfünft auf 3,5 Prozent verringern. Zum Vergleich: In den vergangenen Jahren hatte die Vergleichsziffer bei 18,9 Prozent gelegen, nach fast 40 Prozent in den frühen Jahren der Branche nach der Jahrtausendwende (auf niedrigerer Basis natürlich). Der Online-Handel befinde sich jetzt „auf dem Weg zur Reifeprüfung“, heißt es in der Studie.

Erstmals zeichnet sich klar ab, dass dem Online-Anteil am Einzelhandel Grenzen gesetzt sind. Zu den bremsenden Faktoren zählten neben Sättigungstendenzen in einigen Sparten auch das fehlende Einkaufserlebnis, teils undurchsichtige Kaufprozesse und eine gelegentlich fragwürdige Produktqualität im Netz, so Doplbauer.

Manchen ziehe es gar zurück in den Laden, nachdem die Neugier gestillt sei, zum Beispiel ihn selbst: „Es ist zwar nicht repräsentativ, aber auch vielleicht nicht ganz untypisch“, gesteht der Marktforscher: „Ich war früher stark online-affin. Mit zunehmendem Alter und steigendem Einkommen bin ich viel stärker zum stationären Einzelhandel übergegangen.“

Dieser Artikel ist zuerst in der Welt erschienen.

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