Eva Ortel (r.) und Anika Steinert inspizieren die App MyTherapy. Steinert ist Studienleiterin der Forschungsgruppe Geriatrie an der Charité Berlin.

Eva Ortel hat ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Smartphone. Einerseits schreibt sie gerne ihrer Tochter oder prüft das Wetter in anderen Städten. Auf der anderen Seite fühlt sie sich von ihrem Apparat regelrecht gegängelt. Zeitweise hat er sie daran erinnert, pünktlich ihre Medikamente einzunehmen oder mal einen Spaziergang zu unternehmen. „Da wird man doch wahnsinnig, wenn da dauernd jemand tutet! “, sagt die 78-Jährige und lacht. „Noch kann ich selber an alles denken.“

Vor zwei Jahren hat sie an einer Studie der Charité Berlin teilgenommen, bei der 36 Probanden 16 Wochen lang die App MyTherapy getestet haben. Anika Steinert, Studienleiterin der Forschungsgruppe Geriatrie, wollte herausfinden, ob sie dabei hilft, dass kranke und ältere Menschen regelmäßiger ihre Medikamente einnehmen. „Wir wollten, dass die App auch im Alltag genutzt wird und nicht nur als Studienobjekt gesehen wird“, erklärt Steinert. Darum habe sie für jeden Probanden individuell eingestellt, ob dieser sich auch an mehr Bewegung oder Trinken erinnern lassen möchte oder sein Gewicht überwachen will.

Drei Studien hat Steinert seit 2013 mittlerweile schon mit MyTherapy durchgeführt. Ihre Ergebnisse fallen überwiegend positiv aus: Mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer habe die App nach der Studie weiter nutzen wollen, so Steinert. Ob alle Probanden tatsächlich am Ball geblieben sind, weiß sie allerdings nicht. Die Datenschutz­auflagen sind streng.

Die Gründer hinter der App

Die Idee für die App hatten Julian Weddige, Sebastian Gaede und Philipp Legge. Alle drei Gründer haben sich damals als Berater mit dem Thema Therapietreue auseinandergesetzt. „Wir haben erfahren, dass die Hälfte der Medikamente, die chronisch Kranke einnehmen sollen, nicht richtig angewendet werden“, sagt Gaede. Daraus sei die Idee entstanden, eine App zu entwickeln, die bei der Kontrolle hilft.

Platz: 44

Wachstumsrate: 100%

Gründungsjahr: 2012

Kategorie: Software / SAAS

Website: www.mytherapyapp.com

2012 schmissen sie ihre Jobs und gründeten wenig später in München das Startup SmartPatient. Wie viele Nutzer sie bereits mit ihrer App MyTherapy haben, möchte Gaede nicht verraten. Auch wie sie Geld damit verdienen, umreißt der Gründer nur ansatzweise: „Nutzer aller Altersgruppen nutzen MyTherapy teils über sehr lange Zeiträume. Dieses Engagement bildet die Grundlage für die Zusammenarbeit mit unseren Partnern.“ Das Startup arbeitet mit der Pharmaindustrie zusammen. Und die sei „traditionell verschwiegen“, so Gaede. Die Namen könne er darum nicht nennen. „Unsere Partner vergüten uns, damit sie ihre Patienten mit MyTherapy bei der sicheren Medikamenteneinnahme unterstützen können.“

Fremdkapital hat das Startup bisher nicht gebraucht.

„Wir sind gänzlich eigenfinanziert und wachsen aus unserem Cash Flow“, sagt der Gründer. Derzeit seien 40 Mitarbeiter für das Startup beschäftigt. Als SmartPatient 2013 mit der App auf den Markt ging, sei Digital Health in Deutschland noch sehr neu gewesen, Investoren für diesen Bereich habe es kaum gegeben, so Gaede. Bootstrapping sei darum die beste Wahl gewesen.

„Rückblickend halte ich das gerade für Digital Health Startups für eine unterschätzte Finanzierungsform.“ Seine Begründung: Der B2C-Markt sei nur in einigen Nischen existent, viele Gesundheits-Startups seien darum auf B2B-Modelle angewiesen. „Hier sind die Zeitleisten aber gerade anfangs schwer kontrollierbar.“ Eine Eigenfinanzierung verschaffe den erforderlichen langen Atem, meint Gaede.

Wie sich das Startup genau finanziert und die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie erfolgt, sei für die Studie nicht relevant gewesen, so Steinert. „SmartPatient hat uns damals um einen Austausch zur seniorengerechten Gestaltung ihrer App gebeten.“ Da das Thema interessant gewesen sei, habe man eine erste Pilotstudie angestoßen und weitere folgen lassen. Es seien keine Forschungsgelder geflossen, sagt Steinert. Der Charité sei es bei der Zusammenarbeit wichtig gewesen, dass alle Ergebnisse der Studie publiziert werden dürfen – auch wenn diese negativ ausfallen. Viele Kritikpunkte gibt es jedoch nicht.

Stattdessen einige Verbesserungsvorschläge. „Mit jeder Studie wurde die Benutzerfreundlichkeit der App besser bewertet. Smartpatient hat auf Grundlage unserer Studienergebnisse auch Änderung in der App vorgenommen“, sagt die Studienleiterin. So wurden beispielsweise die Erinnerungstöne abgemildert oder neue Funktionen zur Verwaltung der Ergebnisse eingeführt.

Erst Senioren, bald ganze Krankenhäuser?

Steinert kann sich auch gut vorstellen, dass die App regulär in Krankenhäusern genutzt wird. Ein Anwendungsfall: Wenn der Arzt beispielsweise den Blutdruck des Patienten misst, bekommt er nur einen Momenteindruck. „Ein konstantes Monitoring mit einer App wie dieser würde zu einem valideren Ergebnis kommen und den gesamten Verlauf abdecken“, erklärt Steinert.

Das Problem sei aber, dass weder der Arzt noch der Patient sich immer die Zeit nehmen, alle Eingaben einzutragen und anzuschauen. Würden die Daten der App direkt in die Patientenakte einfließen und die Daten automatisch ausgewertet, könnte die App aus Anwendersicht an Mehrwert gewinnen. Allerdings seien noch zahlreiche Datenschutzfragen ungeklärt, so Steinert. Mit einer elektronischen Gesundheitskarte und -akte könnte eine solche Funktion jedoch irgendwann möglich werden.

„Wir werden vermehrt von Krankenhäusern angesprochen, die sicherstellen möchten, dass der Patient oder die Patientin nach der Entlassung auch wirklich weiß, was zu tun ist“, sagt der Gründer. MyTherapy könne bald auch den für Krankenhäuser verpflichtenden, bundeseinheitlichen Medikationsplan direkt einlesen, verrät Gaede.

Vor Kurzem wurde eine weitere Studie mit der App an der Berliner Charité publiziert. In der Nephrologie, die sich mit Nierenleiden und Transplantationen beschäftigt, wurde die App zur Nachsorge getestet, wovon Jung und Alt betroffen sind. MyTherapy sollte die Patienten dabei unterstützen, ihren Therapiealltag zu organisieren. Hier sei die regelmäßige Medikamenteneinnahme besonders wichtig, erklärt Studienbetreuer Fabian Halleck, da sonst die Niere abgestoßen wird. Das Gesundheitssystem koste die falsche oder unterlassene Einnahme Milliarden. Nach Meinung von Halleck leiste die App einen essentiellen Beitrag, den Patienten bei der Therapie zu unterstützen und Kosten zu senken. Für das kommenden Jahr ist eine weitere Studie mit mehr als 3.000 Patienten geplant.

MyTherapy will kein Runtastic sein

Der Studie von Steinert zufolge hätten sich viele Patienten zudem gewünscht, dass die App beispielsweise mit einem Blutzuckermessgerät kompatibel ist und gleich die Daten erfasst. Das Startup hat reagiert: „Mehr und mehr Nutzerinnen und Nutzer wünschen sich diese Funktionalität. Entsprechend ist die Anbindung von Messgeräten auf unserer Roadmap für 2018“, sagt SmartPatient-Gründer Gaede.

Dass die App zur Erinnerung an andere Tätigkeiten wie Spaziergehen, mehr Trinken oder Obstessen genutzt wird, davon sind weder Steinert noch Gaede wirklich überzeugt. „MyTherapy kann und soll es nicht mit spezialisierten Apps wie Runtastic aufnehmen“, sagt der Gründer. Für die Nutzer seien die Aktivitäten häufig Teil der ärztlichen Handlungsempfehlung. „Es geht also weniger um Lifestyle, als um verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Gesundheit.“ Laut der Studie wurde die App bei solchen Faktoren weniger gut bewertet.

„Wenn der individuelle Nutzen beim Patienten gesehen wurde, dann hat es auch etwas gebracht“, so Steinert. „Es gab aber auch viele Patienten, die gesagt haben, ich brauche niemanden, der mich an Bewegung erinnert.“ Die 78-Jährige Eva Ortel ist da ähnlicher Meinung.

Sie hat die App nach der Studie nicht wieder genutzt. Allerdings stand ihr für die Studie auch nur ein Leih-Smartphone zur Verfügung, das sie wieder abgeben musste. Doch sie hat sich inspirieren lassen. „Ich hab mir jetzt ein Smartphone angeschafft, damit ich mit der Zeit gehe – wird bei mir ja auch langsam Zeit!” (lacht) Da sie regelmäßig ihren Blutzuckerwert messen muss, wird auch sie vielleicht wieder auf MyTherapy oder eine ähnliche App zurückgreifen.

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Bild: Marco Weimer für Gründerszene