Auf einem Dach in Seattle gewann Michel Lindenberg seinen Glauben an das Internet zurück. Er hatte gerade seine Plattform Stayfriends verkauft und sollte die amerikanischen Kollegen kennenlernen. Am Abend trafen sie sich beim Chef auf der Dachterrasse. So stand er dort, sah die Dächer von Seattle und den Stammsitz von Amazon. Angesichts dieses Ausblicks schoss es ihm durch den Kopf: „Hier lebt das Internet noch.“ Das war im Jahr 2003.

Die Angst saß tief, hatte er doch in den Jahren zuvor das Internet sterben sehen. Er wurde damals aus seinem Startup rausgedrängt, das Unternehmen scheiterte – ein Opfer des Neuen Marktes. Ohne Job fuhr er jeden Tag in ein Büro und grübelte über neuen Ideen. Er fing an zu zweifeln: „Das Internet schien eine überschätzte Entwicklung zu sein.“ Immer wieder sagte er sich: „Es kann doch nicht sein, dass es vorbei ist.“

Und er behielt recht.

Nun arbeitet Lindenberg – Jahrgang 64, Glatze, konzentrierter Blick – wieder an einem neuen Projekt. Nach Stayfriends will er noch ein soziales Netzwerk aufbauen. Er weiß jetzt, dass Internet verschwindet nicht mehr. Doch braucht es seine App Vobe? Es ist eine „Art Doodle für die Smartphone-Generation“. Über verschiedene Blasen auf dem Bildschirm können Freunde und Kollegen mit dem kleinen Programm abstimmen, was für einen Kino-Film sie gerne schauen wollen, oder was sie am Wochenende vorhaben. Die Nutzer müssen einfach nur ihr Symbol in eine Blase ziehen.

Der Gründer nimmt es mit einer mächtigen Konkurrenz auf. Das ist ihm bewusst. Er lächelt wie ein kleiner Junge, der gerade bemerkt, dass sein Plan ein bisschen verrückt ist. Und formuliert die Herausforderung: „Wie kriegt man das hin, dass Millionen von Leuten das installieren und mehr als einmal nutzen.“ Seine Zielgruppe stimmt sich heute vor allem über den Messenger Whatsapp ab. Einem anderen Journalist hat der Gründer einen großen Satz in den Block diktiert: Ziel sei es „einen erheblichen Teil der Gruppenkommunikation der bekannten Messenger-Dienste wie Whatsapp und Facebook-Messenger zu übernehmen“.

Als wollte Lindenberg die Kraft seiner Sätze erst einmal austesten, formuliert er seine Sätze ein paar Wochen später vorsichtiger: „Nur ein Teil der Gruppendiskussionen müssten sich verlagern – eben jene in denen sich Gruppen zu etwas abstimmen oder Pläne schmieden“, sagt er. Vielleicht ein Prozent der Gesamtnutzung von Whatsapp.

Erfolg durch den HTML-Trick

Wettbewerber stören den Gründer nicht, so war es schon als er Stayfriends gegründet hatte. Eine Bekannte erzählte ihm damals von Friendreunited aus Großbritannien. Und er sagte sich: „So etwas müsste in Deutschland doch auch funktionieren.“ Lindenberg legte los – nach wenigen Wochen kamen Konkurrenten auf den Markt. Ein Dutzend Wettbewerber habe es gegeben.

Doch durch einen Zufall entdeckte er einen Trick: „Wir haben es geschafft unsere Personenlisten wie einfache, statische HTML-Seiten aussehen zu lassen.“ Der Effekt: Google griff die Seiten auf und indizierte sie. „Und die Leute, die Google genutzt haben, um nach Namen ihrer Klassenkameraden zu suchen, sind direkt auf Stayfriends gestoßen“, sagt der Informatiker. 2002 war dies technisch nicht ohne Weiteres möglich.

Viel Marketing und eine Kooperation mit dem Spiegel halfen, die Bekanntheit weiter zu steigern. Mehr als zehn Jahre wuchs die Ehemaligendatenbank mit 5.000 Mitglieder pro Tag.

Killerfeature wie bei Snapchat

Auch bei Vobe hofft Lindenberg auf eine Stellschraube für den Erfolg. „Snapchat hatte ein Killerfeature, das jeder Messenger hätte nachbauen können“, sagt Lindenberg. Und es konnte sich trotz der anderen Messenger unter den Jugendlichen etablieren. So einen Coup will Lindenberg auch landen.

Für den Stayfriends-Geschäftsführer ist Vobe ein Zukunftslabor. „Ich habe lange überlegt, was wir machen können und welches Zukunftspotential eine App für Stayfriends hat“, sagt Lindenberg. Die aktuelle, ältere Zielgruppe von Stayfriends schreibe eher Nachrichten und mache Fotos für die Enkel. Um die junge Zielgruppe zu erschließen, muss also eine App her.

Das Netzwerk ist auch Seedinvestor in dem jungen Unternehmen, das in Berlin und Erlangen tüftelt. Vier Leute arbeiten in Vollzeit daran. Innerhalb von einem Jahr will Lindenberg beweisen, dass sein Abstimmungs-Tool funktioniert.

Kein Respekt vor dem Silicon Valley

Zwischen den Zeilen hört man bei Lindenberg die Bessenheit durch. „Den Respekt, dass man es nur vom Silicon Valley aus schaffen kann, habe ich nicht. Das ist auch als deutscher Player möglich“, sagte er dem Tagesspiegel. Vor jeder Antwort konzentriert er sich kurz, wie vor einem Schachzug. Es gebe halt diesen „Bedarf für Gruppenabstimmungen“ – nur fehle es einfach an einem Tool. Er ist nun auf der Suche nach dem Schalter für den viralen Hit, „einen Marathon“ nennt er das.

Auch mit persönlichen Auftritten versucht Lindenberg, die App in die Öffentlichkeit zu bringen. Morgen Abend kann man ihn auf der „Langen Nacht der Startups”  in Berlin erleben – er tritt dort zwischen vielen jungen Gründern auf. Einige von ihnen kennen die Zeit ohne Internet gar nicht mehr.

Für sie mag es komisch klingen, wenn Lindenberg auf die Frage nach seinem Liebelingslied in einem Interview antwortet: „Ein Stück von den Wise Guys: ‘Früher war alles besser‘. Natürlich ist das ironisch gemeint, denn vor dem Internet kann es nicht besser gewesen sein.” Aber für den Ingenieur ist das Internet noch eine Errungenschaft, es ist eine Lebenseinstellung.

Bilder: Lindenberg