Die Realzeit-Gründer Christian Graf, Heiko Schmidle und Markus Düttmann (von links)

Physiker, die nach dem Studium nicht weiter im Labor tüfteln wollen, wechseln in die Unternehmensberatung. So zumindest lautet ein Klischee. Inzwischen scheinen andere Branchen verhinderte Physiker anzuziehen. Adtech zum Beispiel, das Geschäft mit Werbetechnologien.

Die drei Gründer von Realzeit, einem im Mai 2014 gegründeten Berliner Adtech-Startup, sind allesamt studierte Physiker. Sie kennen sich seit dem ersten Semester an der Freien Universität Berlin. Zwei der drei blieben ihrem Fach sogar bis zur Promotion treu. Doch seit etwas mehr als einem Jahr sitzen die drei Realzeit-Gründer Christian Graf, Heiko Schmidle und Markus Düttmann in einem Kreuzberger Hinterhof nun an ihrem neuen Produkt.

Vereinfacht gesagt prognostiziert ihr System für Online-Shops wie Zalando, wer auf seinem Smartphone gleich auf eine Werbung klickt. Vor allem berechnet die Anwendung, ob der App-Nutzer bereit ist, ein Produkt zu kaufen. Für diese Prognose bekommt das Startup anonymisierte Daten über die Nutzer. Dadurch lässt sich etwa erkennen, dass jemand seit einem Monat nicht mehr shoppen war. Mit einer gezielten Ansprache kann der Kunde wieder reaktiviert werden.

Wie viel ist ein App-Nutzer wert?

Durch diese Analyse errechnet Realzeit dann den Wert eines App-Nutzers. Genau dieser Betrag wird dann in einer Ad-Exchange für den Werbeplatz geboten, wo Anbieter wie beispielsweise Google ihre Werbeplätze versteigern. „Man kann sich das ein bisschen vorstellen wie bei Ebay“, sagt Düttmann. Der höchste Bieter bekommt den Zuschlag. Real Time Bidding heißt das Verfahren. Der große Unterschied zu Ebay: Alles funktioniert automatisiert – und im Bruchteil einer Sekunde. „Alle Schritte, die wir zweimal machen müssen, automatisieren wir“, sagt Düttmann.

Ein wichtiges Thema für das Startup seien die zufälligen Klicks. „Ich merke das selber an meiner Wetter-App“, sagt Christian Graf, Mitgründer und CEO. Weil der Werbebanner zu nah an dem Homebutton platziert sei, klicke er öfter aus Versehen drauf. Diese Accidential-Clicks identifiziert das System von Realzeit automatisch – und sortiert sie aus, damit Zalando oder andere ihrer Kunden dort keine Werbung mehr schalten. „Ganz am Anfang unserer Analyse sind wir mehrfach auf Klick-Muster gestoßen, die überhaupt nicht zum Verhalten echter Nutzer gepasst haben“, erzählt Düttmann. Sie schauten, um was für eine Smartphone-Anwendung es sich handelt: „Das waren Kinderapps, wo die Kleinen einfach drauf rumgepatscht haben“, sagt Düttmann.

Warten bis die mobile Werbung abhebt

Im Vergleich zum Desktop ist es anspruchsvoller Werbung in Apps gut zu platzieren. Der Platz fehlt einfach. „Wir glauben, dass native Werbung in Zukunft sehr wichtig wird“, sagt Düttmann. Zum Beispiel Werbung, die Facebook-Nutzer in ihren Newsstream eingespielt bekommen. Leider sei diese Art von Werbung noch nicht so viel auf den Ad-Exchanges zu kaufen.

In Moment konzentriert sich Realzeit deswegen hauptsächlich auf Werbebanner in Apps. Die Gründer glauben, dass weitere Möglichkeiten bald kommen. Viele der großen Online-Werbevermarkter konzentrieren sich derweil noch auf Desktopwerbung. Doch rein technisch lasse sich die Werbung nicht einfach von den Computer-Websites in die Apps bringen, erläutert Mitgründer Graf. „Und es ist schwierig für diese großen Unternehmen umzusteuern.“ Konkurrenz wie Trademob aus Berlin gebe es, aber ein Verdrängungswettbewerb finde noch nicht statt.

Das Startup Realzeit bereitet sich derweil auf die große Nachfrage vor. „Wenn die Unternehmen noch mehr mobile Werbung schalten wollen, sind wir auf die steigende Nachfrage vorbereitet“, sagt Graf. Aktuell wächst Realzeit offenbar schon enorm – mit so hohen Wachstumsraten, dass es unseriös wirken würde, sie zu kommunizieren, sagt Düttmann mit einem Lächeln. Abgesehen von Zalando gehörten etwa die Agentur Perfomance Media und die Dating-App Lovoo zu ihren Kunden.

Auf der Suche nach neuer Finanzierung

Von Anfang an war den Gründern klar, dass sie komplett auf mobile Werbung setzen. „Im Jahr 2014 stellte sich diese Frage einfach nicht mehr“, sagt der CEO Graf. Mitgründer Heiko Schmidle arbeitete vor der Gründung bereits mit Adtech und erzählte ihnen ständig davon. Er fixte seine beiden Freunde an. Sie kündigten ihre Jobs und bauten Realzeit auf.

Mittlerweile haben sich die Gründer vier Mitarbeiter dazugeholt. Knapp eine halbe Million Euro gab es als Seedfunding. Aktuell ist Realzeit auf der Suche nach neuem Geld für das Wachstum. Die drei Physiker haben ihren eigenen Gründerspirit. „Wir haben uns nicht einfach VC-Geld geholt, um uns dann damit marktübliche Gehälter auszuzahlen, mit unserem Ersparten haben wir angefangen, unsere Technologie zu bauen“, sagt Christian Graf, „Das war zwar keine leichte Zeit, aber passt zu unserem Verständnis von unternehmerischem Risiko.“

„Uns hat der Werdegang von Sociomantic beeindruckt“

Sociomantic ist eines ihrer Vorbilder: Das Berliner Startup verdient sein Geld ebenfalls mit Adtech – und hat es selbstfinanziert zu beachtlichem Erfolg gebracht. Lange war Sociomantic ein Hidden Champion der Berliner Startup-Szene, heute beschäftigt das Unternehmen mehr als 250 Mitarbeiter. 2014 verkauften die Gründer ihr Startup für geschätzte 200 Millionen US-Dollar.

Mit dem Startup Realzeit wollen Christian Graf, Heiko Schmidle und Markus Düttmann diese Erfolgsgeschichte nachzeichnen. „Uns hat der Werdegang von Sociomantic beeindruckt“, sagt Düttmann. „Sie haben eine gute Technologie entwickelt und sich ohne Investoren hochgekämpft.“ So viel Bewunderung für andere Startups hört man selten in der Berliner Szene.

Bild: Caspar Tobias Schlenk