Ein Beitrag von Nico Rose, Diplom-Psychologe, promovierter BWLer und Senior Director im Corporate Management Development bei Bertelsmann.

Bis vor etwa 20 Jahren ging Rekrutierung so: Man stellte fest, dass es eine offene Position gibt, erstellte ein Anforderungsprofil, übersetze das in eine Stellenanzeige und veröffentlichte sie – je nach Bedarf – in einer regionalen oder überregionalen Zeitung. „Post and pray“ nennt man das etwas despektierlich im Personaler-Sprech. Man wartete danach sechs bis acht Wochen, lud einige Kandidaten zu Auswahlgesprächen ein und entschied sich für die augenscheinlich am besten geeignete Person.

Dann kam das Internet: Es gab zusätzlich Online-Jobbörsen und die eigene Karrierewebsite. Der Bewerber konnte sich bei vielen Unternehmen nun per E-Mail bewerben (spart Zeit) oder seine Daten in ein Online-Formular eingeben (aufwändig für den Kandidaten, aber sehr hilfreich fürs Unternehmen). Bei näherem Hinsehen stellt man fest: Viele sind auf diesem Level stehengeblieben. Einige, insbesondere große Firmen, haben noch soziale Netzwerke, allen voran LinkedIn und Facebook (und Xing in Deutschland) für sich erschlossen – aber an der Logik „Wir posten einen Job und der Kandidat wird sich dann schon melden…“ hat das grundlegend nicht viel geändert.

In naher Zukunft werden sich Personalabteilungen das nicht mehr leisten können. Insbesondere in Deutschland ist die Bevölkerungsentwicklung derart rückläufig, dass wir schon innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre auf einen Arbeitsmarkt zusteuern, der von einer Quasi-Vollbeschäftigung geprägt ist. Spätestens dann werden solche Methoden nicht mehr greifen.

Die Rolle des Recruiters muss und wird sich im Zuge der beschriebenen Entwicklungen nachhaltig verändern. Sie wird auf bestimmte Arten wichtiger, und auf andere sehr viel unwichtiger als heute. Unwichtiger wird – global ausgedrückt – die Rolle des Beurteilers und Gatekeepers. Wichtiger hingegen werden Aspekte wie Storytelling, Platform Building und vor allem Datenmodellierung und -analyse (oder zumindest ein tiefgreifendes Verständnis für die Ergebnisse solcher Prozesse).

In zehn Thesen werfe ich einen Blick auf das Recruiting der nahen Zukunft. Einige Entwicklungen zeichnen sich bereits deutlich ab oder werden bei innovativen Unternehmen längst implementiert, bei anderen habe ich mich ein wenig aus dem Fenster gelehnt. Dass die weiter unten beschriebenen Prozesse sich vor allem mobil und in der Cloud abspielen werden, halte ich für so elementar, dass es im Hauptteil des Artikels gar keine Erwähnung mehr gefunden hat. Beispiel: Mit der App Truffls ist vor kurzem das Tinder des Recruitings an den Start gegangen. Andere Recruiting-Dienstleister werden diesem Beispiel folgen.

1) Die HuffPost-i-sierung der Karriereseite

Bislang gilt: Karriereseiten sind one-size-fits-all. Jeder Interessent sieht im Prinzip bei jedem Besuch die gleiche Seite. Zwar kann man unter Umständen ein Profil anlegen und Präferenzen definieren oder Informationen für einen späteren Zeitpunkt speichern, aber das erfordert viel Aufwand auf Seiten der Kandidaten.

In Zukunft werden nicht wenige Karriereseiten Techniken nutzen, die für viele News- und auch E-Commerce-Portale bereits Standard sind: Es werden (mit Einverständnis) die Cookies und Social-Media-Profile der Besucher ausgelesen. Auf Basis dieser Informationen wird dem Jobsucher eine individualisierte Startseite bereitgestellt. Diese enthält gefilterte Informationen und Jobangebote, um lange Suchwege und überflüssige Klicks zu vermeiden. Wer sich also beispielsweise vorher eine Seite über Suchmaschinenoptimierung angesehen hat, dem werden andere Informationen und Stellen angezeigt, als einer Person, die sich zuvor noch über die neuesten Logistiktrends informiert hat.

Damit einhergehend ist, dass sich Karriereseiten in Richtung von Storytelling-Portalen entwickeln werden. Ein Unternehmen als Arbeitgeber ist von außen betrachtet immer ein stark erklärungsbedürftiges Produkt, denn die „Kaufentscheidung“ beinhaltet ein hohes Maß an Unsicherheit. Deshalb wird vermehrt informativer und auch unterhaltender Content bereitgestellt (oder zumindest aggregiert), um das eigene Unternehmen bestmöglich „von innen“ erlebbar zu machen. Videos werden in der Folge weiter an Bedeutung gewinnen, was bereits jetzt am immensen Erfolg von Startups wie Whatchado zu erkennen ist. Es verknüpft eine neue Form von authentischen Testimonial-Videos mit der Möglichkeit zur Berufsorientierung für junge Menschen.

2) Gamification: Der will doch nur spielen

Als Gamification bezeichnet man die Anwendung spieltypischer Elemente und Prozesse (zum Beispiel aufeinander aufbauende Erfahrungslevel, Fortschrittbalken, Highscores) auf nicht-spielerische Kontexte. Entsprechende Konzepte finden mehr und mehr Eingang in Recruitingprozesse. Personalabteilungen versprechen sich davon – je nach konkreter Ausgestaltung – eine Steigerung des Engagements in der Prä-Rekrutierungsphase, oder auch bereits eine Einschätzung der Fähigkeiten des Kandidaten. So könnte ein Unternehmen auf der Suche nach Mathematikern eine komplizierte Rechenaufgabe in eine Jobanzeige einbauen, deren Lösung die Telefonnummer des Recruiters verrät.

Der bekannte Cartoon über ein fiktives Jobinterview bei Ikea ist ein solcher Fall. Für großes Aufsehen sorgte auch das Most Serious Game Ever der französischen Bahngesellschaft SNCF, mit welchem das Unternehmen Ingenieure finden wollte. Nur 17 der 5.000 Teilnehmer gelang es, das Spiel erfolgreich abzuschließen; doch mehr als die Hälfte der erfolgreichen „Spieler“ arbeitet heute für das Unternehmen. Ich gehe fest davon aus, dass mehr und mehr Unternehmen in der Zukunft auf solche Formen des Recrutainments setzen werden.

3) It´s the end of the Lebenslauf as we know it

Bislang gibt es ein festes Ritual im Bewerbungsprozess. Sobald ein (nicht gänzlich unpassender) Jobsuchender Interesse an einem Unternehmen bekundet, antwortet ein Recruiter: „Okay, schicken sie mir mal bitte ihre Unterlagen!“ Der Kern dieser Unterlagen ist der tabellarische Lebenslauf, zumeist ergänzt um Zeugnisse und andere Kompetenznachweise. In Anbetracht der heutigen Technologie ist das jedoch ein veralteter und ineffizienter Brauch. Ein schriftlicher Lebenslauf kann mit der Fülle an Daten, die das Internet heute über die meisten Personen bereitstellt, nicht mithalten. Da mutet es fast schon seltsam an (auch, wenn es sehr praktisch ist), dass die von Xing akquirierte Website Lebenslauf.com dabei hilft, ein Xing-Profil wieder in einen PDF-Lebenslauf zu verwandeln.

Fakt ist: Meine Profile auf Xing, LinkedIn oder auch Facebook enthalten wesentlich reichhaltigere Daten über mich, als ein schriftlicher Lebenslauf es je könnte. Nimmt man dann noch Plattformen wie Slideshare oder Pinterest hinzu, so verdichtet sich das Profil meiner Persönlichkeit, Interessen und Kompetenzen deutlich. Ich selbst mache es an mir interessierten Personen sogar noch einfacher: Fast alles, was es über mich zu wissen gibt, wird kompakt auf About.me gebündelt. Vielleicht ist es den meisten Recruitern noch zu aufwändig, sich diese Profile genauer anzuschauen und die darin enthaltenen Informationen zu bewerten. Doch dieser Aufwand gehört im Prinzip schon der Vergangenheit an (siehe Punkt 4).

Weiterhin gibt es seit vielen Jahren (im Falle von LinkedIn seit 2011) die Ein-Klick-Bewerbung. Über eine Schnittstelle können Bewerber ihre Daten direkt in die Datenbank eines Unternehmens hochladen (wenn dieses ein entsprechendes Plugin installiert hat), dort Ergänzungen machen und Dokumente anhängen. Wirklich durchgesetzt hat sich die Praxis nach meiner Einschätzung allerdings noch nicht. Vielleicht erscheint den Bewerbern dieses Verfahren zu unsicher, vielleicht befürchten sie aber auch, dass dabei die Individualität der Bewerbung verloren geht. Auf jeden Fall hinkt die Nutzung den technischen Möglichkeiten hinterher.

4) Matchmaker, matchmaker, match me a match

Für Unternehmen wie Jobsuchende ist die Vertragsunterzeichnung eine Wette auf die Zukunft. Auf Unternehmensseite fallen je nach Hierarchielevel vier- bis siebenstellige Beträge an, bis ein Kandidat an Bord ist. Da tut es mitunter weh, wenn die Person nicht die erwartete Leistung bringt. Aber auch für die Angestellten birgt diese Phase ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Wer – warum auch immer – in der Probezeit oder nach nur kurzer Verweildauer ein Unternehmen wieder verlässt, erleidet dadurch einen (wahrgenommenen) Makel im Lebenslauf: Der Wert der persönlichen Marke ist geschmälert.

Der heilige Gral für dieses Problemfeld sind neuartige Matching-Verfahren. Eine schier endlose Reihe etablierter Unternehmen und Startups will beiden Seiten helfen, zur idealen Short List von Kandidaten beziehungsweise Unternehmen zu kommen. Xing und LinkedIn analysieren die Schlagworte in unseren Profilen und geben uns auf dieser Basis Jobempfehlungen. Plattformen wie Kununu und Glassdoor bemühen sich, Unternehmen per Crowdsourcing zu durchleuchten (zum Beispiel Kultur, Gehaltsniveau) und Bewerbern dadurch die Entscheidung zu vereinfachen. Newcomer wie JobandTalent nutzen (laut Selbstauskunft) komplizierte linguistische Algorithmen, um Jobsuchenden auf Basis der Daten in ihrem Lebenslauf „den perfekten Job“ vorzuschlagen.

Genauso spannend ist die andere Perspektive: Recruitern könnte in naher Zukunft (zumindest theoretisch) auf Knopfdruck ein ganzes Dossier zu relevanten Kandidaten zur Verfügung stehen. Während sich hier und da noch Gedanken über Partybilder googelnde Personaler gemacht wird (aus meiner Sicht völlig unnötig), ist die Realität längst fortgeschritten. Mittels einer nicht sonderlich großen Menge an Daten auf Facebook (z.B. „Gefällt mir“-Angaben) können Forscher unsere Persönlichkeit bereits heute besser einschätzen, als enge Freunde oder der Lebenspartner. Fügt man Daten aus weiteren Netzquellen hinzu (siehe Punkt 3), wird ersichtlich, dass mit nur wenigen Klicks automatisiert ein sehr umfangreiches Fähigkeiten- und Persönlichkeitsprofil einer Person erstellt werden kann. Das mag man zunächst befremdlich finden – letztlich dient ein gutes Matching aber beiden Seiten, den Unternehmen wie den Kandidaten. Trotzdem sei an dieser Stelle angemerkt, dass es in Zukunft noch wichtiger werden wird, den eigenen digitalen Fingerabdruck bewusst zu steuern, also aktives Personal Branding zu betreiben. Und andererseits werden Unternehmen – bei allem potenziellen Nutzen – eingehend überlegen müssen, wieviel „Big Data“ in diesem Kontext ethisch angemessen ist.

Ein anderer Weg des Matchings, quasi der „menschliche Algorithmus“, sind übrigens Mitarbeiter-Empfehlungsprogramme. Eine Studie des HR-Professors Armin Trost konnte zeigen, dass die eigenen Mitarbeiter (außerhalb der Recruiting-Abteilung) ein ausgesprochen gutes Näschen für zukünftige Kollegen haben. Diese Erkenntnis ist vielerorts noch nicht angekommen, doch auch das wird sich ändern – davon bin ich überzeugt.

5) Sei doch nicht so passiv, Kandidat

Neben der Einschätzung zur Passung zwischen Ausschreibungen und Kandidaten werden Big-Data-Applikationen auch einen angrenzenden Bereich des Recruitings revolutionieren: die Ansprache von passiven Bewerbern. So nennen Personaler Kandidaten, die zwar zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht aktiv nach einem neuen Job suchen, einer neuen Herausforderung aber nicht ablehnend gegenüber stehen. Eine große Herausforderung hierbei ist, mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit zu erkennen, welche Mitarbeiter anderer Unternehmen für eine aktive Ansprache (Direct Sourcing) offen sind und welche lieber nicht gestört werden möchten – denn juristisch gesehen birgt das „Headhunting ohne Headhunter“ durchaus einige Fallstricke. Daher haben Unternehmen ein veritables Interesse daran, die Anzahl der zu kontaktierenden Personen möglichst klein halten.

Am einfachsten ist es, wenn Arbeitnehmer ihren Status aktiv kommunizieren. So bietet Xing seinen Mitgliedern seit einigen Monaten die Möglichkeit, im Profil anzugeben, ob man aktiv auf Jobsuche, offen für Ansprache, oder aber auch rundum glücklich im aktuellen Job ist. Ein solcher Grad an Offenheit seitens der Kandidaten wird in Zukunft aber wahrscheinlich nicht mehr notwendig sein. Auf Basis einer Webrecherche werden lernfähige Algorithmen erkennen, welche Menschen offen für Ansprache sind. Berücksichtigt werden hier beispielweise die Verweildauer im Unternehmen und der momentanen Funktion, aber auch Metadaten wie die allgemeine Konjunkturlage oder das Gefüge von Angebot und Nachfrage in einer bestimmten Berufsgruppe.

Ein anderer Weg, den Markt der passiven Kandidaten zu bearbeiten, ist die Philosophie „Die Jobs findet den Kandidaten – und nicht umgekehrt“. In den letzten Jahren sind einige Startups ins Rennen gegangen (z.B. Silp), die versprechen, Jobanzeigen durch soziale Netzwerke (vor allem Facebook) „diffundieren“ zu lassen – sie nutzen dabei den Social Graph der angemeldeten Mitglieder. Wenn der Algorithmus eine hohe Passung zwischen einem Profil und der eingespeisten Jobausschreibung feststellt, wird die Person diskret informiert.

Morgen folgen die Thesen sechs bis zehn über das Recruiting der Zukunft im zweiten Teil dieses Fachbeitrags.

Bild: Bertelsmann Careers