Ein Beitrag von Nico Rose, Diplom-Psychologe, promovierter BWLer und Senior Director im Corporate Management Development bei Bertelsmann.

Bis vor etwa 20 Jahren ging Rekrutierung so: Man stellte fest, dass es eine offene Position gibt, erstellte ein Anforderungsprofil, übersetze dieses in eine Stellenanzeige und veröffentlichte jene dann in einer Zeitung. „Post and pray“ nennt man das etwas despektierlich im Personaler-Sprech. Man wartete danach sechs bis acht Wochen, lud einige Kandidaten zu Auswahlgesprächen ein und entschied sich für die augenscheinlich am besten geeignete Person.

Dann kam das Internet und hat alles verändert. In zehn Thesen hat werfe ich einen Blick auf das Recruiting der nahen Zukunft. Gestern erschienen die Punkte eins bis fünf, heute gibt es die weiteren Prognosen:

6) Video killed the Telefon-Interview

Das persönliche Kennenlernen als Abschluss eines Bewerbungsprozesses wird niemals an Bedeutung verlieren. Zu wichtig ist das Beschnuppern, das Austesten der Chemie zwischen den Parteien. Doch der Weg dorthin hat sich für viele Unternehmen verändert und wird sich in Zukunft weiterentwickeln. Für Erstgespräche nutzen Unternehmen seit vielen Jahren das Telefon, die etwas innovativeren auch Videotelefonie. Zu teuer wäre es – insbesondere im Kontext internationaler Rekrutierung – alle Kandidaten einer ersten Interviewrunde persönlich anreisen zu lassen.

Eine Innovation, die in den letzten zwei bis drei Jahren eine gewisse Verbreitung gefunden hat, sind asynchrone webbasierte Videointerviews. Bewerber werden auf eine Plattform eingeladen, auf der sie sich mittels Webcam oder Smartphone selbst auf Video aufzeichnen, während sie im Voraus formulierte Fragen des Unternehmens beantworten. Die Aufzeichnung wird dem Unternehmen webbasiert zur Verfügung gestellt. Bewerber und Unternehmensvertreter können dabei Zeit und Ort der Interaktion frei wählen. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass sich viele Menschen derzeit möglicherweise noch etwas unwohl mit der neuen Technik fühlen, weil die typischen Zuhörsignale und Rückfragen des Interviewers wegfallen.

Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass diese Technik weitere Verbreitung finden wird, denn sie bietet einen entscheidenden, zurzeit noch wenig genutzten Vorteil: Wisdom of the Crowd im Recruiting. Da das asynchrone Interview in der Cloud zur Verfügung steht, kann es per Link beliebig vielen Menschen zugänglich gemacht werden. So kann theoretisch die komplette Belegschaft eines Unternehmens in die (Vor-)Selektion neuer Mitarbeiter einbezogen werden – was mit großer Wahrscheinlichkeit eine höhere Qualität der Einschätzung von Aspekten wie der Passung zur Unternehmenskultur zur Folge hat.

Wenn man noch ein wenig weiter in die Zukunft denkt, landet man unweigerlich bei persönlichen Begegnungen in virtuellen 3-D-Interview-Umgebungen. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich Unternehmensvertreter und Bewerber mittels fortschrittlicher Kameras und Virtual-Reality-Brillen (oder Holographie, wenn man noch ein paar Jahre weiter denkt) von Angesicht zu Angesicht begegnen werden – in einer virtuellen Umgebung ihrer Wahl, ganz egal wo sich diese Personen befinden. Fremdsprachenkenntnisse sind dabei übrigens kein Hindernis mehr. Eine Software wird das gesprochene Wort simultan übersetzen. Entsprechende Technik ist bereits vorhanden, wenn auch noch am Anfang stehend.

7) Die Customisierung des Arbeitsvertrages

Bisher sind Arbeitsverträge und die auf ihnen beruhenden Arbeitsmodelle recht einförmig. Im Wesentlichen gibt es Vollzeit- und Teilzeitverträge mit einer vorgeschriebenen Anzahl von Urlaubstagen und einer festen Vergütung. Gerade bei Berufseinsteigern ist das Gehalt kaum verhandelbar. In Zukunft werden Unternehmen neue Mitarbeiter mit einer Fülle an Individualisierungsoptionen locken. Arbeitnehmer können dann gegen Gehalt mehr Urlaubstage „kaufen“, oder von Anfang an Zeit für das erste Sabbatical ansparen.

Es wird alles andere als unnormal sein, dass Menschen für mehrere Firmen gleichzeitig (fest) arbeiten, oder dass Angestellte mit vollem Einverständnis des Arbeitgebers noch eine Startup-Idee verfolgen. Die Unternehmensberatung McKinsey bietet zum Beispiel seit einiger Zeit das Konzept Take Time an. Berater können jedes Jahr bis zu drei Monate (auch am Stück) freinehmen, um persönliche Projekte zu verfolgen. Solche Angebote werden ganz sicher Schule machen.

8) Ein Vorrat für schlechte Zeiten

So wie man früher Lebensmittel für schlechte Zeiten im Keller bunkerte, werden viele Unternehmen in Ländern mit rückläufiger Bevölkerungsentwicklung (allen voran Deutschland) dazu übergehen, regelmäßig gut geeigneten Kandidaten ein Vertragsangebot zu machen, selbst wenn zu diesem Zeitpunkt noch keine konkrete Position frei ist. Solche Mitarbeiter werden vorübergehend für Projekte eingesetzt, bis sich der erste „richtige“ Job ergibt. In Zeiten eines quasi leer gefegten Arbeitsmarktes ist es letztlich effizienter, für eine gewisse Zeit geringfügig aufgeblähte Lohnkosten zu stemmen, als später auf Aufträge verzichten zu müssen, weil bestimme Schlüsselpositionen zu lange unbesetzt bleiben.

Des Weiteren werden Unternehmen „unpassende“ Bewerber einstellen und diese mittels massiver Aufwände in der Personalentwicklung in geeignete Mitarbeiter verwandeln. Auch die Fachkräftegewinnung im Ausland wird eine viel bedeutendere Rolle spielen als heutzutage.

9) Aktives Trennungsmanagement: Es liegt nicht an dir

Vor einigen Monaten hat die Software Insight Applications aus dem Hause Workday Schlagzeilen gemacht. Die Entwickler behaupten, dass ihr Algorithmus auf Basis von unternehmensinternen und -externen Daten vorhersagen kann, wann ein Mitarbeiter das Unternehmen verlassen will. Dies soll der Personalabteilung und dem Vorgesetzten die Möglichkeit geben, entsprechend zu reagieren, um den Mitarbeiter im Unternehmen zu halten, beispielsweise durch eine Fortbildung, eine Gehaltserhöhung oder eine neue Aufgabe.

Vielleicht werden solche Softwarelösungen auch zum entgegengesetzten Zweck genutzt. Der Trendforscher Sven Gábor Jánszky prognostiziert in seinem aktuellen Buch Das Recruiting-Dilemma, dass viele Unternehmen in Zukunft unter anderem dazu übergehen werden, gerade ihre besten Mitarbeiter aktiv aus dem Unternehmen hinaus zu entwickeln, bevor diese (zu) unzufrieden werden und im Frust von selbst gehen. Das klingt zunächst kontraintuitiv, ergibt aber durchaus Sinn, wenn man davon ausgeht, dass die Gastspiele in Unternehmen generell kürzer werden und hochqualifizierte Mitarbeiter sich selbst vermarkten und als Unternehmer der eigenen Karriere sehen.

10) Wie ein Bumerang komm‘ ich wieder bei dir an

Wenn Unternehmen ihren Mitarbeitern dabei helfen, sich aktiv aus der Organisationen hinaus zu entwickeln, dann mit der Absicht, sie gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückzugewinnen – ganz nach dem Motto: Da weiß man, was man hat. Die Idee lautet: Vielleicht bekomme ich einen guten Mitarbeiter nicht für acht oder zehn Jahre am Stück – aber zweimal vier oder fünf sind auch sehr nützlich. Ehemalige erfolgreiche Mitarbeiter wieder an Bord zu holen, birgt eine ganze Reihe von Vorteilen:

Neben der Tatsache, dass sie in der Zwischenzeit in der Ferne weiter gereift sind und unter Umständen wichtige Informationen oder sogar Kunden mitbringen, kann man davon ausgehen, dass sogenannte „Boomerang Hires“ zur Kultur passen und sich schnell wieder ins Unternehmen einfinden. Darüber hinaus kann sich das wieder einstellende Unternehmen recht sicher sein, keine teure personelle Fehlentscheidung zu treffen. Das alles sind Vorteile, die eine erstmalig eingestellte Person kaum bieten kann.

Zum Schluss

Ich persönlich freue mich auf die hier aufgezeigten Entwicklungen. Sie werden das Recruiting effektiver und effizienter machen – eine Win-Win-Situation für Unternehmen und Jobsuchende. Ich gehe fest davon aus, dass – wie auch bisher – viele der beschriebenen Innovationen von Startups und spezialisierten Beratungsunternehmen entwickelt und vorangetrieben werden.

Bild: Bertelsmann Careers