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Es ist schon etwas Besonderes, wenn sich ein US-amerikanischer Journalist mit der deutschen Digitalwirtschaft beschäftigt. Wenn er dann aber auch noch bilanziert, dass „die Internet-Ökonomie unseren Sozialstaat ruiniert“, dann ist das erst recht bemerkenswert. Und diskussionswürdig.

Bei der Republica-Konferenz in Berlin wurde das am Dienstag versucht. Der US-Journalist Steven Hill, der als Ergebnis eines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts in Deutschland gerade das Buch „Die Startup-Illusion“ veröffentlich hat, stellte sich der Debatte. Außerdem auf der Bühne: die Soziologin Anke Hassel, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, Anna Alex, Mitgründerin des Curating-Shopping-Diensts Outfittery, als Moderator Max Neufeind, Referent im Bundesarbeitsministerium.

Neufeind machte zu Beginn gleich klar, woran die Debatte über Startups in Deutschland krankt: Sie wird im Grunde innerhalb von zwei unterschiedlichen Filterblasen geführt. Auf der einen Seite wird diskutiert, wie man das Plattform-Modell von Bösewichten wie Uber davon abhalten kann, auch in Deutschland Fuß zu fassen. Und auf der anderen Seite geht es nur darum, warum die deutsche Digitalwirtschaft es nicht schafft, Player von Weltrang hervorzubringen. Dabei müsste man doch gemeinsam diskutieren: Wie man die neuen Geschäftsmodelle in Einklang mit unserer Vorstellung von sozialer Marktwirtschaft bringen könne.

Hill, der US-Journalist, meint darauf eine Antwort gefunden zu haben. Ein „Rocket Mittelstand“ müsse entstehen, der die Stärken von Startupszene und mittelständischen Unternehmen vereine. Die deutsche Digitalwirtschaft sei, so Hill, nicht besonders innovativ, dafür stark in der Umsetzung und im Skalieren (heißt: im Prinzip das Modell von Rocket Internet). Der Mittelstand bringe auf der anderen Seite den Erfindergeist, das Innovative mit. 

Ein „Rocket Mittelstand“ könne auf der anderen Seite auch ein Weg sein, nicht unbedingt so wie das Silicon Valley werden zu müssen. Denn das sei überhaupt nicht begehrenswert: Hill hält die US-Westküste für ein „Kasino, wo mit viel Geld herumgeworfen wird“, er kritisiert, dass neun von zehn Startups scheitern und sieben von zehn nie profitabel werden.

Das, muss man eigentlich entgegnen, ist aber einfach das Startup-Prinzip – die Risikokapitalgeber verdienen trotzdem, weil das eine erfolgreiche Investment die übrigen Pleiten ausgleicht. Das Ökosystem im Silicon Valley funktioniert für die, die Teil davon sind. (Was mit den ökonomisch Abgehängten passiert, ist eine andere Frage.)

Ein anderes Manko an der Idee machte Anna Alex aus: Mittelstand und Startupszene passten einfach nicht zusammen – das sei „eine Frage des Mindset“. Startups wollten disrupten, Mittelständer bewahren. Ob das zusammenzubringen sei? „Da bin ich skeptisch“, so Alex.

Hill warnt vor einer weiteren Entwicklung: Dass nämlich eine Volkswirtschaft, in der die Digitalwirtschaft das Sagen hat, sich zu einer „Kampf um die Krümel“-Economy entwickelt. Es geht um massenhafte Auslagerung von Tätigkeiten an Freelancer, die sogenannte Gig Economy. Weil sich auf Crowdworking-Plattformen Selbstständige aus der ganzen Welt um die Aufträge balgen, treibe das die Preise nach unten, am Ende könne keiner mehr in die Sozialversicherung einzahlen, die Leute verarmt, der Sozialstaat ruiniert. 

Hill ist der Ansicht, dass die Gig Economy in Deutschland längst angekommen ist, wir das nur nicht wahrhaben wollen. Zwischen einer und zwei Millionen Menschen arbeiteten bereits so, ist sich Hill sicher. Politik und Wissenschaftler verschlössen davor die Augen, hätten keine Antworten parat. 

Dem widersprach Anke Hassel, die Soziologin. Das Phänomen sei erkannt, es gebe Vorschläge, etwa im Weißbuch „Arbeiten 4.0“, das unter der Ägide des Bundesarbeitsministeriums entstanden ist. Prekäre Arbeitsverhältnisse seien in Deutschland allein der Agenda 2010 geschuldet, mit der Digitalisierung habe das – noch nichts zu tun. Die Frage ist ja: Wie wichtig ist die Gig Economy heute überhaupt in Deutschland?

Bei Outfittery zum Beispiel, berichtete Gründerin Anna Alex, seien selbst die 150 Stylistinnen fest angestellt. Von den übrigen 150 Mitarbeitern arbeiteten nur „eine Handvoll“ Entwickler als Freelancer – dies aber aus freien Stücken. „Wir würden sie total gerne anstellen“, erklärt Alex, „aber sie wollen lieber flexibel sein und die Möglichkeit haben, in sechs Monaten von Spanien aus zu arbeiten“. 

Alex warb für mehr Flexibilität bei Arbeitsmodellen – und zwar nicht im Bezug auf outgesourcte Gig-Jobs, sondern etwa bei Teilzeit-Arbeit und Führungsjobs. Es sei in Deutschland quasi unmöglich, nicht Vollzeit zu arbeiten und trotzdem eine Führungsposition auszufüllen. 

Vielleicht könne das ja der USP einer typisch deutschen Digitalwirtschaft sein, schlug Neufeind, der Moderator, vor: „Work-Life-Balance innerhalb eines dynamischen Tech-Ökosystems“. 

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