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oliver-samwer-noah-2015 Rocket-Chef Oliver Samwer

Rocket-Internet-Chef Oliver Samwer ist ein Aushängeschild der deutschen Internetwirtschaft. Matthias Machnig, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, wiederum möchte der Branche hierzulande endlich Schub geben.

Mit der Berliner Startup-Szene gibt es zwar einen Lichtblick – Unternehmertum hat aber bei vielen immer noch einen schlechten Ruf. Der Schulterschluss zwischen Wirtschaft und Politik soll der digitalen Zukunft nun den Weg bereiten. Viel Zeit bleibt Deutschland für den Aufbruch aber nicht.

Samwer baut mit seinem börsennotierten Rocket-Internet-Konzern vor allem E-Commerce-Unternehmen weltweit nach einem Fließbandprinzip aus einem festen Startup-Baukasten auf. Dabei muss er sich gegen internationale Konkurrenz durchsetzen.

Während US-Tech-Unternehmen einen recht einheitlichen großen Markt vor ihrer Tür vorfinden, kämpfen beispielsweise Online-Händler in der EU noch mit 28 verschiedenen Regulierungen. Im Gespräch mit der Welt erklärt das ungleiche Paar Samwer und Machnig aus, wie Deutschland bei der Digitalisierung noch aufholen kann – und diskutiert darüber, ob Disruption oder Transformation dabei zum Erfolg führt.

Herr Machnig, Herr Samwer, was treibt Sie beide heute eigentlich zu einem gemeinsamen Interview?

Matthias Machnig: Wir reden viel über Digitalisierung und darüber, was wir von Amerika lernen können. Jeder kennt Namen wie Sergey Brin, Steve Jobs oder Mark Zuckerberg. Dieser Tage habe ich einen Artikel gelesen, wonach es im Silicon Valley aber auch 50.000 Deutsche gibt, die entweder als Entwickler oder Firmengründer arbeiten. In Deutschland ist einer dieser Köpfe Oliver Samwer von Rocket Internet. Wir brauchen mehr deutsche Köpfe, die mit diesem Thema verbunden werden.

Oliver Samwer: Nach mehr als 15 Jahren Digitalwirtschaft haben wir zum ersten Mal das Gefühl, dass Deutschland, vor allem aber auch Berlin einen deutlichen Schritt nach vorn gemacht haben. Das hat auch damit zu tun, dass die Politik uns inzwischen unterstützt. Und das ist wichtig für uns.

Herr Machnig, warum gibt es in Deutschland keine Namen wie Brin, Jobs oder Zuckerberg?

Machnig: Gute Frage. Ich denke, wir brauchen einen kulturellen Wandel. Wir müssen Leute ermutigen, dass sie Unternehmer werden. Dazu ist wichtig, dass Unternehmer wie Oliver Samwer der Branche ein Gesicht und Orientierung geben, indem sie über ihren Weg reden und andere dies nachahmen oder sich motivieren lassen. Was aber mindestens genauso wichtig ist: Wir brauchen eine Kultur der zweiten und dritten Chance in Deutschland. Denn zum Unternehmertum gehört eben auch das Scheitern.

Herr Samwer, kommt Ihnen dieses Gerede nicht aus den Ohren heraus? Über Kulturwandel reden wir seit Jahren.

Samwer: So etwas ändert sich nicht von heute auf morgen. Zehn Jahre sind da ein relativ kurzer Zeitraum. Als wir angefangen haben, gab es in Deutschland an den Universitäten keinen Existenzgründer-Lehrstuhl. Heute gibt es überall welche. Früher gab es nur selten direkten Kontakt zwischen Studenten und Unternehmern. Auch das hat sich geändert. Noch nicht genug allerdings. Wir sind beim Handwerkszeug aber inzwischen schon ganz gut. Die Vision, das Träumen, das müssen wir noch stärker lernen.

Die USA haben einen riesigen Vorsprung. Sind wir nicht viel zu langsam?

Samwer: Wir können nicht erwarten, dass wir in zehn Jahren das Silicon Valley einholen. Das ist unrealistisch. Vielleicht finden wir aber auch einen anderen Weg – den Weg eines deutschen „Internetmittelstands“.

So richtig viel tut die Bundesregierung dafür doch nicht. An steuerlicher Förderung passiert fast gar nichts.

Machnig: Das sind dicke Bretter, aber wir bohren. Wir haben viele Förderprogramme für Gründungen aufgestockt und dafür gesorgt, dass keine neuen Belastungen für junge Unternehmen entstehen. Aber der Wagniskapitalmarkt ist noch zu klein. Ich will Ihnen eine Zahl nennen: Weltweit stehen jedes Jahr 100 Milliarden Dollar an Wagniskapital zur Verfügung. 30 Milliarden Dollar davon gehen ins Silicon Valley. Drei Milliarden Dollar gehen nach Deutschland, davon zwei Milliarden nach Berlin. Damit ist Berlin die führende Stadt in Europa. Das ist ein Erfolg, aber noch zu wenig.

Samwer: Wenn man Großunternehmen bauen will, reichen nicht zwei, fünf oder zehn Millionen Dollar an Investitionen. Zalando etwa hat mehrere Hundert Millionen gebraucht, um dorthin zu kommen, wo es heute ist. In den USA werden im Monat zehn bis 20 mal 100 Millionen Dollar in Unternehmen investiert. Bei uns ist das die ganz große Ausnahme. In Europa fehlt dafür schlichtweg die Risikobereitschaft der großen Vermögensverwalter. Darauf können wir auch nicht warten. Der Staat kann aber unterstützen, etwa über ein Venture-Capital-Gesetz oder die KfW-Gruppe. Um es klar zu sagen: Wir reden hier nicht über Subventionen in ein unrentables Unternehmen, das am Leben gehalten werden soll, sondern über eine strategische Zukunftsinvestition in die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.

Warum fehlt hier das Geld und in den USA nicht? Dort gibt ja auch nicht die KfW das Geld.

Samwer: Dort gibt es große Pensionskassen. Die Fonds definieren eine bestimmte Summe pro Jahr, die sie in alternative Anlagen stecken. In Deutschland ist das nur ein sehr kleiner Teil. Das meiste hier wird aus Sicherheitsgründen in Anleihen investiert. Das ist ein echter Nachteil für das deutsche Internet-Öko-System.

Herr Machnig denkt darüber nach, wie unsere Volkswirtschaft Anschluss behält. Sie, Herr Samwer, sagen, Deutschland müsse seinen eigenen Weg finden. Müssen wir nicht ehrgeiziger sein?

Samwer: Ehrgeizig sind wir doch. Aber eines stimmt: Jetzt wird sich entscheiden, ob Deutschland es schafft. Jetzt haben die Autounternehmen verstanden, dass Tesla mit seinen Elektroautos sie überholen kann. Ein großer Teil der Investoren unseres neuen Fonds sind deshalb strategische Investoren aus Europa. Das sind Unternehmen, die sehr wachsam beobachten, was draußen geschieht. In den nächsten zehn Jahren wird sich zeigen, welche Teile der deutschen Industrie es schaffen, sich nicht von Firmen aus dem Silicon Valley das Geschäftsmodell zerstören zu lassen.

Machnig: Beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos waren viele Manager geradezu beseelt vom Begriff der Disruption, also des Ersetzens alter Geschäftsmodelle durch neue. Wenn Sie auf die Zimmervermittler von Airbnb und ähnliche Geschäftsmodelle schauen, sollten Sie sich drei Fragen stellen: Führt das zu steigenden volkswirtschaftlichen Investitionen? Nein. Führt es zu technologischen Innovationen? Kaum. Ist das ein Beitrag für mehr Beschäftigung? Nein. Deshalb bin ich für eine Transformationsstrategie bei Digitalisierung. Der Grund: Disruptive Geschäftsmodelle können hohe volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Kosten haben und leisten dann keinen Beitrag zur Akzeptanz der Digitalisierung, die wir aber brauchen.

Sie formulieren Bedingungen an eine positive Digitalisierung, die die Digitalisierung gar nicht versprechen kann. Das war bei anderen technologischen Entwicklungen nicht anders.

Machnig: Die Hurra-Schreie über Disruption wollte ich etwas dämpfen. Es gibt zwei Wege der Digitalisierung: einen über Plattformen, den amerikanischen Weg. Oder einen produktionsorientierten Weg, also den europäischen Weg. Welcher erfolgreicher ist, ist noch nicht entschieden. Das wird auch von rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen abhängen. Wir sind auch in der Industrialisierung einen anderen Weg gegangen als in den USA, etwa durch den Aufbau sozialstaatlicher Strukturen, mit Erfolg. Wir brauchen dafür klare Rahmenbedingungen. Das muss gemeinsam gestaltet werden von Politik und Unternehmen.

Herr Samwer, ist es nicht etwas viel von Ihnen erwartet, keine disruptiven Technologien in ihrem Portfolio zu haben?

Samwer: Ich kann verstehen, dass die Politik nicht jedes Internetmodell gut findet. Und ich kann verstehen, dass Regeln aufgestellt werden, im Zweifel dann aber bitte gelegentlich auch mal pro Fortschritt und ohne nationale Alleingänge, die deutsche Unternehmen benachteiligen. Ich sitze hier, weil ich an Deutschland und Berlin glaube. Ich möchte, dass Deutschland stärker und wettbewerbsfähiger wird im Internet. Das hat nicht unbedingt mit disruptiv oder nicht disruptiv zu tun. Disruption ist nicht unser entscheidendes Kriterium, sondern ob sich ein Geschäftsmodell durchsetzt. Das geht auch ohne Disruption.

Herr Machnig, bislang fällt Ihr Ministerium vor allem durch die Bevorzugung alter Branchen auf. Dem Automobilbau wollen sie gerade 5.000 Euro an Steuergeld pro Elektroauto zuschustern. Das ist doch nicht klug.

Machnig: Das ist ein typischer Fall partieller Wahrnehmung. Wir haben alle wirtschaftlichen Wertschöpfungsketten im Blick. Aber zu Ihrer Frage nach der Automobilbranche: Zeitlich befristete Kaufprämien für den Markthochlauf sind bei Elektromobilität notwendig, ebenso Forschung und Entwicklung und eine Batteriezellenproduktion in Deutschland. Wir arbeiten zum Beispiel aber auch im Bereich autonomes Fahren. Dazu gehört aber, dass wir nachhaltige Mobilität durch Elektrofahrzeuge fördern. Wir müssen einerseits die Voraussetzungen für autonomes Fahren fördern, andererseits die Elektromobilität. Wie schnell autonomes Fahren kommt, wie viele Leute das überhaupt wollen, werden wir erst noch sehen.

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Samwer: Bei Zalando haben wir am Anfang auch Gutscheine ausgegeben, um das Geschäft anzuschieben.

Aber den haben Sie mir gegeben, nicht der Staat.

Samwer: Das stimmt, und eine privatwirtschaftliche Lösung bevorzuge ich immer, aber wenn es nicht anders geht, ist es besser, den Fortschritt aktiv anzuschieben, als ihn zu verschlafen.

Herr Machnig, Sie glauben, Deutschland sei bei der Industrie 4.0 so weit vorn. Die meisten Unternehmer haben aber noch gar keine Ahnung, was das ist.

Machnig: Stimmt. Schauen Sie sich mal Produktionsprozesse in – zugegebenermaßen – eher größeren Unternehmen an. Die sind teilautomatisiert und teildigitalisiert. Alle wollen mit Deutschland kooperieren. Wir sind da bereits weiter als die Amerikaner. Aber wir müssen die gesamte Wirtschaft erreichen. Digitalisierung wird die DNA unserer Wirtschaft prägen und verändern. Und das geht nur mit den Mittelständlern, die wir zum Beispiel durch die Kompetenz- und Beratungszentren unterstützen.

Professor Clemens Fuest vom ZEW sagte kürzlich, dass er es für unmöglich halte, die Amerikaner bei Themen wie Websuche oder sozialen Netzwerken noch einzuholen. Wo können wir noch punkten?

Samwer: Ich glaube, Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen funktioniert nicht. Google hat die damals vorherrschenden Suchmaschinen wie Yahoo und Altavista auch mit einem völlig anderen Ansatz abgelöst. Sehen wir uns ein Mobiltelefon an, wie viel suchen wir da noch? Das läuft eigentlich eher über Apps, und Google verdient im Mobilbereich bei Weitem nicht so gut wie im Web. Das kann also ein Ansatzpunkt sein. Ebenso das Internet der Dinge, bei dem es darum geht, alles zu vernetzen. Wir haben eine starke Industrie und ein dynamisch wachsendes Startup-Ökosystem. Wenn wir jetzt gemeinsam anpacken, wird die Digitalisierung zur deutschen Erfolgsgeschichte in den kommenden zehn bis 15 Jahren.

Ist unser besonders strenger Datenschutz dabei ein Vor- oder ein Nachteil, Herr Samwer?

Samwer: Da sind wir, glaube ich, sehr weit gegangen – wir haben sicherlich einen der strengsten. Aber wenn am Ende die Rahmenbedingungen für alle so gelten – auch für den Amerikaner –, dann ist es okay. Es ist jedenfalls nichts, woran man scheitert. Klar hätten wir da gerne etwas mehr Spielraum – aber das ist ja bei vielen Gesetzen so.

Machnig: Ich sehe das anders. Apple weigert sich aktuell, bestimmte Daten freizugeben, weil das Vertrauen in Apple-Geräte sonst zutiefst gestört würde. Das Bundeskartellamt hat gerade eine Untersuchung gegen Facebook eingeleitet. Derzeit dürfen deutsche Unternehmen keine personenbezogenen Daten in eine amerikanische Cloud übertragen, Stichwort Safe Harbor. Die Frage von Datensicherheit wird darüber entscheiden, ob die Digitalisierung von den Menschen und auch den Unternehmen akzeptiert wird.

Wie viel Zeit haben wir noch, Anschluss zu finden oder sogar an die Spitze zu kommen, wann sind wir abgehängt?

Samwer: Viel Zeit bleibt uns nicht. Es dauert aber eine Weile bis alle Wertschöpfungsketten digitalisiert sind, bis ganz klar ist, wer der führende Spieler ist. Für die Industrie würde ich sagen: zehn bis 15 Jahre. Dies bedeutet aber nicht, zehn bis 15 Jahre zu warten, bis wir die Spielregeln beim E-Commerce in allen EU-Ländern vereinheitlicht haben. Dann wäre das Spiel für Europa verloren. Aber was wir hier besprechen, hängt vielleicht zu 20 Prozent von der Politik ab – zu 80 Prozent liegt es an Firmen wie Siemens oder BMW und daran, ob junge Unternehmer in die USA gehen oder hier bei uns etwas aufbauen. Es hängt von der Risikobereitschaft der jungen Menschen und der Chefs bestehender Unternehmen ab.

Dieser Text erschien zuerst in der Welt.

Bild: Gründerszene / Christina Kyriasoglou