Er ist ein Superstar im Silicon Valley, einer der berühmtesten Deutschen im Tech-Mekka der US-Westküste: Bereits ab 2003 lehrte Sebastian Thrun an der Westküsten-Eliteuniversität Stanford, baute dort das Artificial Intelligence Lab auf. Kurz darauf schrieb er beim autonomen Fahren Geschichte, als sein Team 2005 die Grand Challenge der US-Militärforschungsbehörde DARPA gewann – es war das erste Mal, dass eines der vollständig computergesteuerten Fahrzeuge die Strecke erfolgreich absolvierte. Zwei Jahre später beauftragte Larry Page Thrun damit, die geheime Forschungsabteilung Google X aufzubauen, in der auch Google Glass entstand und die bekannten Street-View-Fahrzeuge für Googles Kartendienst.

Parallel stellte Thrun seine Vorlesung „Einführung in die Künstliche Intelligenz“ ins Netz. Mit bemerkenswertem Erfolg: 60.000 Studenten meldeten sich an, von denen 23.000 an einem Online-Abschlussexamen teilnahmen – mehr als an der Universität Stanford insgesamt eingeschrieben sind. Für Thrun bedeutete dies der Schritt ins Gründerleben: Er gab darauf seine Professur auf und gründete zusammen mit weiteren Professoren die Online-Akademie Udacity.

Im Gespräch mit Gründerszene verrät Sebastian Thrun, wieso er glaubt, dass wir bald alle Probleme lösen können, wie Künstliche Intelligenz unsere Gesellschaft verändern wird und ob es ihn frustriert, das zwölf Jahre nach seinem DARPA-Sieg selbstfahrende Fahrzeuge immer noch nicht auf den Straßen zu finden sind.

Sebastian, Du wirst gerne als Visionär bezeichnet. Gefällt Dir das?

(lacht) Da habe ich noch nie drüber nachgedacht. Ich versuche dazu beizutragen, die Zukunft besser zu machen. Bin ich deshalb ein Visionär? Ich habe keine Ahnung.

Wie sieht diese bessere Zukunft aus Deiner Sicht aus?

Wir haben in den vergangenen 150 Jahren mehr erfunden als in der gesamten Menschheitsgesichte davor. Das liegt auch daran, dass die allgemeine Bildung deutlich besser geworden ist. Die Explosion an Erfindungen wird nicht abreißen. In Zukunft werden wir alle fliegen statt fahren. Wir werden Krebs heilen und andere Krankheiten. Wir werden es schaffen, die Länge des Lebens zu verdoppeln, wenn wir das wollen. Gehirnimplantate werden uns Informationen schneller vermitteln. Technologie macht uns zu Übermenschen. Wann genau das alles passieren wird, ist natürlich nicht vorhersagbar.

Ist es überhaupt sinnvoll, dass wir doppelt so alt werden?

Das muss man im Dialog klären. Fast alle technologischen Erfindungen haben gute Seiten, können aber auch missbraucht werden. Ich sehe das erst einmal wertfrei. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, Technologien sinnvoll einzusetzen. Aber wir haben die Lebensspanne ja schon mal verdoppelt: Vor 250 Jahren ist der Durchschnittsdeutsche im Alter von 32 Jahren gestorben, heute tut er das mit mehr als 70 Jahren. Ich denke, das wird eine gute Sache.

In welchen Bereichen werden zuerst Veränderungen zu spüren sein? Was verändert sich am stärksten in den nächsten fünf oder zehn Jahren?

In der Medizin wird es auf der Basis großer Datenmengen zuerst Fortschritte geben. Auch bei allem, was sich automatisieren lässt, weil es einen großen repetitiven Anteil hat – die Arbeit von Buchhaltern, Doktoren, Piloten. Künstliche Intelligenz wird in der Lage sein, diese Sachen zu lernen und für uns zu machen.

Gegenüber PBS hast Du gesagt, wir werden mit A.I. einen IQ von 10.000 haben, alles verstehen und jedes Problem lösen. Glaubst Du das wirklich?

Ja. Vielleicht nicht alle Probleme. Aber heute kann ich mit einem Taschenrechner die zehnte Wurzel einer zwanzigstelligen Zahl in weniger als einer Sekunde berechnen.

Was der Gesellschaft im Alltag aber nicht direkt weiterhilft.

Durch die Technologien, die wir erfunden haben, haben wir die Menschen immer besser gemacht. Wir können über Kontinente hinweg miteinander sprechen, den Ozean in wenigen Stunden überqueren, Google gibt uns Zugang zu einer wahnsinnigen Menge an Informationen. All das steht nicht nur den Eliten, sondern auch den Massen zur Verfügung. Dass heute Online-Universitäten wie Udacity möglich sind, hilft auch der Gesellschaft: Wir haben zusammen mit Codedoor 1.000 Stipendien an Flüchtlinge in Deutschland vergeben, damit sie das Programmieren für iOS und Android lernen können. Traditionelle Präsenzuniversitäten hätten das nicht mal eben so machen können.

Aber auch das behebt die Ursache nicht.

Plattformen für die Kommunikation oder den Handel über Ländergrenzen hinweg führen letztlich zu mehr Frieden, weil sie Verflechtungen und Abhängigkeiten dort schafft, wo es vorher vielleicht nicht mal Kontakte gab. Europa ist das beste Beispiel dafür. Dass es hier keine Kriegsgedanken mehr gibt, ist auch der Technologie zu verdanken. Sogar, dass immer mehr Ehen zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern geschlossen werden, wurde erst durch Technologie möglich.

Nicht überall steht Technologie in gleichem Maße zur Verfügung. Schafft das nicht auch Unzufriedenheit und Begehrlichkeiten?

Gefälle wird es immer geben, keine Frage. Die unter dem Namen Kommunismus eliminieren zu wollen, hat ganz eigene Schwierigkeiten mit sich gebracht.

Warum Sebastian Thrun beim autonomen Fahren frustriert ist und was er mit seiner Online-Universität erreichen will – hier geht’s zum zweiten Teil des Interviews… 

Algorithmen – auch die selbstlernenden – basieren auf den Konventionen und Erfahrungen derer, die sie entwickeln. Man nennt das „algorithmic bias“. Google hatte vor zwei Jahren ein Riesenproblem, nachdem die Gesichtserkennung in der Fotos-App ein dunkelhäutiges Pärchen als Gorillas identifiziert hatte. Wie passt das in Dein Bild?

Künstliche Intelligenz ist die wichtigste Entwicklung der Welt. Viele Algorithmen, die heute benutzt werden, sind 30 Jahre alt. Neue Technologien können viel besser mit großen Datenmengen umgehen: Alpha Go hat gelernt, besser als jeder Mensch das komplexeste Spiel der Welt zu spielen. Ich habe im Februar in Stanford eine Studie zu Thema Hautkrebserkennung gemacht. Mit einem aktuellen System von Google konnten wir Erkrankungen genauso gut oder besser als Dermatologen identifizieren. Im juristischen Bereich können sich Computer bei Offenlegungsverfahren viel besser durch große Datenmengen wühlen als Menschen.

Lässt sich eingrenzen, wann die Maschine helfen kann und wann nicht?

Es geht um sich wiederholende Prozesse, nicht kreative. Ich finde repetitive Arbeit demütigend, auch wenn sie hochbezahlt ist wie bei Dermatologen. In Zukunft werden wir uns viel stärker mit kreativen Tätigkeiten auseinandersetzen können. Vor 150 Jahren haben wir alle noch als Bauern gearbeitet. Eine Person in Europa war in der Lage, für vier Personen Essen zu erzeugen, heute sind es 155. Damals haben wir repetitive Arbeit im Feld gemacht. Nach meiner Auffassung sind die Dinge besser geworden. WEITERLESEN…


Künstliche Intelligenzen basieren immer auf Bekanntem. Gerade hat eine linguistische Studie herausgefunden, dass Algorithmen sexistisch „denken“, weil sie ihre Informationen aus bestehenden Textwerken ziehen.

Die Algorithmen sind ja nicht sexistisch, sondern unsere Texte. Solche Verzerrungen spielen natürlich eine wichtige Rolle. Die Maschine schaut sich das Verhalten des Menschen ab und lernt daraus. Wenn der also einen Bias hat, bekommt ihn die Maschine auch. Deswegen müssen wir uns fragen, ob wir diesen Bias haben wollen. In vielen Fällen kann man das korrigieren, indem man die Ausgangsdaten verändert. Schwer wird es, wenn man sich der Einfärbung nicht bewusst ist. Die Menschheit muss da also sehr ehrlich zu sich selbst sein.

Du hast von der Aussicht gesprochen, mit Technologie alles verstehen zu können. Bedeutet A.I. dann das Ende für die Wissenschaft – weil es irgendwann kein Wissen mehr zu schaffen gibt?

So will ich das eigentlich nicht verstanden wissen. Vielleicht ist der Begriff „alles“ falsch. Je mehr wir verstehen, desto mehr Fragen gibt es auch. Wir haben heute kein besonders gutes Verständnis von den Grundkräften in der Welt. Wenn ich alles sage, dann meine ich die Fragen, die sich uns heute stellen. Dinge, die heute schwer sind, werden in Zukunft leichter sein. Das sind oftmals auch kleine Sachen wie Buchstabieren zum Beispiel. Ich kann heute eine korrekte Email schreiben, das war früher nicht der Fall (lacht). Irgendwann muss ich mir keine Gesichter mehr merken, weil mir die Technologie sagt, wer vor mir steht.

Werden wir damit nicht faul im Kopf und verlassen uns zu sehr auf die Maschinen?

Das geht sicher Hand in Hand. Wenn ich heute mein Telefon nicht habe, dann fehlt mir was – ohne Smartphone kann ich meinen Job nicht machen. Ich habe da ehrlich gesagt keine große Wertauffassung. Mir ist wichtig, dass ich Dinge machen kann, die vorher nicht möglich waren. Mit Strom kann ich nachts sehen – darüber denken wir heute gar nicht mehr nach. Wem alte Fähigkeiten wichtig sind, der kann sie sich ja behalten oder sie neu lernen.

Du warst dort, wo viele hinwollen, Dein Lebenslauf ist beeindruckend: Stanford, Chef des Google-Forschungslabors. Dann hast Du all dem den Rücken gekehrt und die Online-Universität Udacity gegründet. Warum?

Weil es eine wichtige Sache ist. Mir wurde während meiner Zeit in Stanford klar, dass an den Erkenntnissen des technologischen Fortschritts hier im Silicon Valley nur wenige teilhaben können – obwohl das Interesse groß ist: Als ich meinen ersten Kurs online angeboten habe, schrieben sich gleich 160.000 Menschen ein. Google macht zwar die Informationen für alle zugänglich, aber nicht das Bildungssystem. Das war für mich eine einfache Rechnung: Bei Google konnte ich ein selbstfahrendes Auto bauen. Jetzt hat Udacity 10.000 Studenten, die lernen, wie man selbstfahrende Autos baut. Für fliegende Autos gilt da Gleiche, auch da werden wir im Februar einen Ingenieurs-Kurs mit Partnern wie Airbus, Toyota oder DeLorean und sehr bekannten Dozenten anbieten.

Was macht Udacity, das unter anderem von Bertelsmann unterstützt wird, anders als die anderen Hochschulen?

Wir bauen natürlich sehr stark auf Technologie auf. Und wir sind eine globale Institution mit Büros weltweit, Udacity hat zum Beispiel eine starke Präsenz im mittleren Osten. Mir ist es persönlich wichtig, Frauen in Saudi Arabien auszubilden. Der große Vorteil von Udacity ist, dass nicht wie in traditionellen Hochschulen alle zur gleichen Zeit im gleichen Raum dem gleichen Gedanken folgen müssen. Viele Studien zeigen zudem, dass projektbezogenes Lernen viel effektiver ist als Vorlesungen. Und es ist auch nicht mehr schlimm, wenn ein Student mal bei einem Thema etwas länger braucht als ein anderer.

Zu Beginn waren die Abbruchraten sehr hoch. Ihr habt dann die sogenannten Micro-Degrees eingeführt, quasi Mini-Studiengänge. Funktioniert das besser?

Ja, das tut es. Dadurch, dass wir die Inhalte sehr stark an den Bedürfnissen der Arbeitswelt ausrichten, kommen die Kurse gut an. Udacity steckt ja selbst noch in den Kinderschuhen, wir entwickeln unsere Ideen stetig weiter.

Gibt es in der Tech-Welt eine Verschiebung zwischen technischen Möglichkeiten und gestalterischer Fantasie? Will heißen: Früher, so scheint es, wurde Technologie entwickelt, um Probleme zu lösen – während man heute oft den Eindruck hat, dass versucht wird, die passenden Probleme zu neuen technischen Errungenschaften zu finden.

Die Geschwindigkeit, mit der wir neue Technologien erfinden, wird sich immer mehr erhöhen. Manche bezeichnen das Fortschreiten dieser Entwicklung als Singularität. Der Normalbürger wird sich immer mehr fortbilden müssen, um am Ball zu bleiben. Menschen werden nicht mehr nur eine, sondern viele Karrieren haben in ihrem Leben.

Allerdings: Du hast schon vor mehr als zehn Jahren sehr erfolgreich an autonomem Fahren gearbeitet. Ist es da nicht frustrierend, dass seitdem nicht viel passiert ist?

Ein bisschen schon. Aber ich habe das Gefühl, dass wir sehr nahe dran sind. Die Technologie ist weit genug, um sicher betrieben zu werden. Natürlich hätte ich mir das schon vor fünf Jahren gewünscht.

Anderes Beispiel: Google Glass. Du warst maßgeblich an dem Projekt beteiligt – warum hat es sich nicht durchgesetzt?

Google Glass kommt wieder! Die ersten Brillen waren einfach nicht gut genug. Das muss ich offen zugestehen, ich wünschte, sie wären besser gewesen. Der generelle Gedanke, einen Computer zu haben, der den menschlichen Sinnen sehr nahe ist – Augen und Ohren – wird aber Zukunft haben. Apple, Microsoft und viele andere Arbeiten heute an unterschiedlichen Ansätzen. Ich habe keine Zweifel, dass eines der Konzepte sehr erfolgreich sein kann. Und ich freue mich darauf – Google Glass hat mir viel Spaß gemacht!

Sebastian, vielen Dank für das Gespräch!

Bild: Matt Winkelmeyer / Gettyimages