Sociomantic-Gründer: „Wir wollten eine Firma aufbauen, in der Ego einfach keinen Platz hat“

Berlins heimlicher Champion ist eigentlich nicht schwer zu finden. Im Erdmannshof am Landwehrkanal sitzt das Startup in direkter Nachbarschaft zu Szene-Größen wie dem Müsliversand Mymuesli, dem Bezahldienst SumUp und dem Inkubator Epic Companies.

Eigentlich müsste Sociomantic auch sonst nur schwer zu übersehen sein. 160 Leute arbeiten mittlerweile für den Online-Werbevermarkter, es gibt 14 Büros auf vier Kontinenten, im nächsten Jahr wird auf 30 Standorte und 300 Mitarbeiter erweitert. Zu Sociomantics Kunden zählen E-Commerce-Schwergewichte wie Rakuten, Zalando und Dafiti. Das Berliner Startup scheint so attraktiv zu sein, dass es ohne größere Probleme massenhaft Fachleute vom vermeintlichen Traum-Arbeitgeber Google abwerben kann. Fast zehn Prozent der Belegschaft sind mittlerweile Ex-Google-Mitarbeiter – inklusive CEO Jason Kelly, der 2012 vom Suchmaschinengiganten kam. In den zwölf Monaten bis August 2013 setzte das Unternehmen nach eigenen Angaben mehr als 100 Millionen US-Dollar um (annual run rate basierend auf August 2012).

Es ist nur knapp vier Jahre her, da besteht Sociomantic noch aus nicht viel mehr als drei Gründern, einer vagen Geschäftsidee und null Euro Finanzierung. Doch Thomas Nicolai, Lars Kirchhoff und Thomas Brandhoff verfügen über eine leistungsfähige Technologie, die Nicolai und Kirchhoff während ihrer Promotion in Sankt Gallen entwickelt haben. Es geht um Big-Data-Analyse von sozialen Netzwerken, ein Konzept, das Facebook später mit seinem Social Graph umsetzen wird. Und es geht um die generelle Frage, mit welcher Infrastruktur sich große Datensätze im Internet beherrschen lassen.

Beim Berliner Werbevermarkter Zanox lernt Nicolai den dritten Mitgründer kennen: Thomas Brandhoff. Er soll sich um Organisation und die betriebswirtschaftliche Seite des Unternehmens kümmern.

Das ist zunächst keine einfache Aufgabe. Die Idee, die Ergebnisse von Social-Network-Analysen gegen Kundendatenbanken von Firmen wie BMW oder Audi zu matchen, scheitert bald an Datenschutzbedenken. Nach und nach werden drei weitere Ideen für Geschäftsmodelle entwickelt – und wieder verworfen – bis sie schließlich bei der Werbevermarktung im Bereich Real-Time-Bidding und dem Konzept einer Demand-Side-Plattform angelangt sind.

Damit findet Sociomantic seine Lücke – und schafft es in wenigen Jahren zum Erfolg. Weiterhin ohne auch nur einen Cent von Investoren aufzunehmen.

Doch in Berlin ist das Startup noch immer ein Geheimtipp. Warum eigentlich? Und wie gelang Sociomantics Aufstieg? Im Interview geben die Gründer zum ersten Mal ausführlich Auskunft.

Selbst in der Startupszene ist Sociomantic wenig bekannt. Ihr wart mit Marketing und Öffentlichkeitsarbeit immer sehr zurückhaltend. Warum eigentlich?

Brandhoff: Das war eine bewusste Entscheidung. Wir hätten das Geld auch anders investieren können.

Nicolai: Wir waren bewusst nie auf den ortsüblichen Veranstaltungen unterwegs. Dort sind nicht unsere Kunden und sonst immer nur die gleichen Leute. Wir wollten lieber Gas geben und unser Produkt bauen. Dann hatte es aber sicher auch mit Geld zu tun. Und unsere Egos in der Presse zu sehen, hätte keinen Zweck erfüllt. PR ist kein Maßstab für Unternehmenserfolg. Außerdem sind wir in einem Markt unterwegs, in dem die Unternehmen mit unglaublich viel Geld ausgestattet sind. Der Wettbewerb ist entsprechend. Wenn man in so einem Markt überleben will, sollte man sich nicht zu früh aufs Schlachtfeld begeben. Wir haben uns also immer ein bisschen in den Wäldern drum herum versteckt.

In diesem heiß umkämpften Markt geht es um Online-Werbung. Nochmal für Amateure: Was ist Real Time Bidding? Was macht eine Demand-Side-Plattform?

Brandhoff: Real Time Bidding ist der Prozess der Versteigerung von einzelnen Banner-Impressionen in Echtzeit. Wenn ein Nutzer auf eine Website kommt, findet in dem Moment, in dem der Browser lädt, im Hintergrund eine Echtzeitversteigerung von Werbeflächen statt. Wir schauen dann: Kennen wir den Nutzer? Wissen wir schon etwas über den? Wie hat die Website auf dieser URL zu der Uhrzeit auf der Bannergröße in der Vergangenheit für welchen Advertiser funktioniert? Daraus errechnen wir dann ein Gebot, das wir innerhalb dieser Auktion abgeben. Das funktioniert wie bei Ebay: Ich biete ein Euro, mein Konkurrent 50 Cent, ich gewinne für 51 Cent. Wenn wir die Auktion gewinnen, überlegen wir: Welches Banner ist für diesen Publisher um diese Uhrzeit für diesen Nutzer das ideale? Und wir tracken: Wurde es angesehen? Wurde es geklickt? Hat es zu einer Transaktion, zu einem Lead oder zum Verkauf eines Produkts geführt?

Nicolai: Wir ziehen immer den Vergleich zum High-Frequency-Trading. Dort passiert mittlerweile auch alles in Echtzeit. Und wir sind quasi der Broker, der im Auftrag der Kunden auf verschiedensten Handelsplätzen und Versteigerungsplattformen agiert.

Und eure Kunden sind die Advertiser.

Nicolai: Genau. Wir arbeiten ausschließlich im Interesse der Advertiser. Das war in der Vergangenheit ein großes Problem mit vielen Ad-Networks, weil sie Kundenbeziehungen zu beiden Seiten hatten. Da weiß man nie: In welchem Interesse arbeiten die eigentlich? Im Interesse der Publisher, in ihrem eigenen Interesse oder im Interesse der Advertiser? Wir positionieren uns nur auf einer Seite. Und unsere Kunden können alles transparent nachvollziehen. Viele amerikanische Konkurrenten machen das nicht, haben dadurch vielleicht kurzfristig auch höhere Margen. Aber unser Weg ist nachhaltiger für dauerhafte Kundenbeziehungen.

Wer sind eure Wettbewerber?

Brandhoff: Andere Demand-Side-Plattformen wie MediaMath oder RocketFuel, aber auch natürlich Google und Adobe. Und es gibt Firmen, die ähnliche Budgets ansprechen, Criteo etwa.

Wie erklärt ihr potenziellen Kunden, dass sie zu euch wechseln sollen?

Brandhoff: Unsere Kunden schauen auf zwei Sachen: Halten die einen gewissen Zielhorizont in punkto Budgeteffizienz ein? Und liefern sie genügend Transaktionen, viele Sales ab? Wirklich genau zu erklären, warum wir in der Gebotsabgabe besser sind, ist theoretisch möglich, allerdings kaum in einer halben Stunde so darzustellen, dass es der Kunde auch wirklich versteht. Deshalb testen uns die meisten Kunden auch erst.

Ihr seid 2009 mit gerade mal 3000 Euro gestartet…

Nicolai: ….ja, jeder hat tausend Euro für die UG beigesteuert…

…und ihr habt kein einziges Mal Kapital von außen aufgenommen. Warum? War das immer der Plan?

Nicolai: Das haben wir uns nie so vorgenommen. Aber wir haben immer gesagt: Wenn wir Geld von einem Investor nehmen, dann wollen wir ein nachgewiesenes Geschäftsmodell haben. Es hat sich dann ergeben, dass jedes Mal, wenn wir so weit waren, die Unternehmung einen weiteren Umsatzsprung hingelegt hat. Und die Investoren waren, ehrlich gesagt, auch häufig zu langsam – nicht deal-driven, nicht hungrig, nicht risikobereit genug. Zu Beginn haben wir von Martin Sinner mal den Rat bekommen: Jungs, wenn ihr an euer Business glaubt, dann geht zur Bank. Nehmt einen Kredit auf und gebt dann Vollgas. Wir haben das im zweiten Jahr tatsächlich gemacht: Wir haben einen Kredit auf den eigenen Kopf aufgenommen.

Brandhoff: Wir hatten immer genügend liquide Mittel, aber wir haben uns damit abgesichert. Es hätte ja sein können, dass ein Kunde nicht zahlt.

Nicolai: Das war eine Menge Geld für jeden für uns, schon mehr als ein Mittelklassewagen. Aber es war richtig so. Viele hätten vielleicht eher den Zwischenschritt mit einem Investor gewählt. Aber mit einer Bank geht es auch schneller, nach zwei Wochen ist man durch. Mit einem Investor dauert es schnell mal ein halbes Jahr. Das ist der Grund, warum wir bis heute ohne Investor da stehen.

Ihr habt 2011 begonnen, massiv zu expandieren – erst in Europa, dann in die USA, jetzt auf der ganzen Welt. Das ist doch unheimlich kapitalintensiv.

Nicolai: Ja, das ist es. Aber man kann das auch mit den Mitteln eines Startups hinbekommen. Es geht mit harter Arbeit, mit sauberen Finanzen und Zurückhaltung. Zurückhaltung in allem. Wir hatten vorher ein Büro, da haben 34 Leute auf unter 100 Quadratmetern gearbeitet. Davor waren es neun Leute auf 20 Quadratmetern. Es ist doch so: Alles, was ich am Anfang falsch mache, kostet mich nachher eine Menge Geld. Und alles, was ich richtig mache, zahlt sich am Ende auch aus. Das ist auch Nachhaltigkeit. Wer am Anfang sauber haushaltet, kann auch ein höheres Risiko gehen. Entscheidend ist aber auch das Netzwerk. Wir sind im letzten Jahr von vier auf 14 Büros gewachsen, das kommt nicht out of the blue. Unsere Zeit bei Zanox war dafür eminent wichtig. Wir haben eben keine Headhunter geholt und dann die McKinsey-Boys losgelassen, wir haben das über Leute gemacht, die wir kennen und schätzen.

Mit Robert Bosch, Mahesh Narayanan und Rohit Kumar habt ihr gerade drei Top-Leute von Google geholt. Das ist wahrscheinlich kein Zufall, oder?

Nicolai: Knapp zehn Prozent unserer Gesamtbelegschaft stammt mittlerweile von Google. Das ist ja einer der Marktplätze, auf denen wir bieten. Und die sehen dort, was wir so tun. Mit der Zeit wurde es immer einfacher, das Interesse der Leute zu gewinnen. Irgendwann war es wie ein Sog…

Eigentlich gilt Google ja als Top-Arbeitgeber. Warum sollte jemand dort wegwollen?

Nicolai: Gerade die Leute, die im Sales-Bereich arbeiten, werden dort relativ selten bedient, was ihre Wünsche in der Entwicklung angeht. Die Entwickler arbeiten lieber an Produkten, die die Welt verändern. Das passt irgendwann nicht mehr.

Vor etwas über einem Jahr habt ihr – ebenfalls von Google – Jason Kelly als neuen CEO geholt. Für Gründer ist das keine gewöhnliche Entscheidung. War euch immer klar, dass ihr von der Führung zurücktreten würdet?

Nicolai: Die Entscheidung wurde eigentlich schon getroffen, bevor wir das Unternehmen gegründet haben. Thomas und ich sind damals für eine Woche in die Schweiz zu Lars gefahren. Wir sind durchs Appenzell gewandert. Und an einem schönen Tag auf dem Hirschberg haben wir zwei grundlegende Entscheidungen getroffen. Erstens: Es muss einen geben, der das letzte Wort hat. Unternehmertum bedeutet nicht Demokratie. Das ist leider so. Man muss schnelle Entscheidungen treffen.

Und wer hat das letzte Wort?

Nicolai: Das ist nicht wichtig. Das war auch in jeder Unternehmensphase jemand anderes. Die zweite Entscheidung war: Wenn wir an einen Punkt gelangen, an dem wir glauben, es gibt jemanden, der den Job besser machen kann als wir, dann sollten wir auf unser Ego verzichten und jemand anderen übernehmen lassen. Besser machen heißt in dem Fall, die Unternehmung und ihre Mitarbeiter zu stärken, also Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern. Außerdem gibt es für jede Phase einer Unternehmung bestimmte Typen, die für die Führung geeignet sind. Ein gutes Beispiel: Google und Eric Schmidt. Das kann funktionieren, wenn es harmonisch und respektvoll abläuft. Man muss aber auch selbst bereit sein, zu lernen. Wir wollten eine Firma aufbauen, in der Ego einfach keinen Platz hat.

Welche Rolle haben die Gründer jetzt?

Nicolai: Im Moment sind wir noch damit beschäftigt, viele Führungsposten zu besetzen. Mit der Zeit verändert sich unsere Rolle aber von einer operativen zu einer repräsentativen und kommunikativen Rolle. Den Mitarbeitern ist es wichtig, dass es Kontakt zu den Gründern gibt. Je größer eine Unternehmung ist, desto mehr Bedarf an Kommunikation gibt es. Das mussten wir erst lernen. Da hat Jason viel auf uns eingewirkt, dass wir uns dafür Zeit nehmen. Man kann vieles vorhersehen – Strukturen, Finanzen, Technologie. Aber diese weichen Faktoren sind schwierig vorherzusehen.

Schmerzt es manchmal, wenn jemand anderes die Entscheidungen trifft – zum Beispiel, weil bestimmte Beschlüsse von euch rückgängig gemacht werden?

Nicolai: Nein, rückgängig gemacht wurde noch nichts. Natürlich gibt es mal unterschiedliche Meinungen, aber das ist ganz normal. Das ganze hat mehr mit Weiterentwicklung zu tun. Selbst wenn der CEO etwas rückgängig machen wollte, dann wäre es okay, weil es im Sinne des Shareholder Value und des Enterprise Value ist. Es macht aber auch einen guten Manager aus, wenn er nicht mit dem Hackebeil, sondern kooperativ und offen vorgeht.

Ihr steht nun bei 160 Mitarbeitern und 14 Büros. Wie wird sich das weiter entwickeln?

Nicolai: Wir wollen in den nächsten sechs bis zwölf Monaten auf 300 Mitarbeiter wachsen.

Brandhoff: Das heißt: Wir wollen einstellen. Wir suchen gute Leute.

Nicolai: Wir haben gerade ein Büro in Schweden eröffnet. Nun geht es in Asien und Südamerika weiter. Wir wollen von 14 auf 30 Büros gehen. In Amerika werden wir bald 40, 50 Leute haben. Im Moment sind Innovation, Produktmanagement und Technologie fast komplett in Berlin. Das wird sich mehr und mehr in die USA verschieben. Man muss mit seinen Innovationen vor Ort sein. Ohne Jason hätten wir übrigens – ähnlich wie Rocket Internet – einen großen Bogen um Amerika gemacht. Der Markt ist unglaublich wettbewerbsintensiv. Bei Zanox ist die US-Expansion ja furchtbar gescheitert. Aber bei uns hat es sich sehr gut entwickelt, weil wir die richtigen Leute hatten.

Auch diese Expansion wird nochmal viel Geld kosten. Schließt ihr eine externe Finanzierung weiter aus?

Nicolai: Ausschließen kann man nie irgendetwas. Aber momentan planen wir, das aus dem eigenen Cashflow zu machen.

Wie sehen eure langfristigen Pläne aus? Ist das Fernziel ein IPO?

Nicolai: Uns ging es immer darum, etwas Nachhaltiges global aufzubauen. Wir wollten zeigen, dass man in Berlin Technologie entwickeln kann, die so gut ist wie im Silicon Valley. Ich glaube, das ist uns zum heutigen Zeitpunkt gelungen. Und wir haben viel Spaß dabei, das weiterzutreiben. Ob das am Ende in einem IPO oder was auch immer enden wird, wissen wir selbst noch nicht. Das wird man sehen. Was uns wichtig ist: dass die Leute Spaß haben, hier zu arbeiten. Weil es herausfordernd ist. Und weil es wahrscheinlich eines der wenigen Projekte in dieser Stadt ist, das auf solch einer Skalierung aufsetzt. Es gibt vermutlich kein zweites Projekt in Berlin, vielleicht nicht mal in Deutschland, das ein vergleichbares Datenvolumen pro Tag verarbeitet. Das gibt Motivation.

Brandhoff: Wir sind noch jung.

Nicolai: Wir sind jetzt alle im besten Alter, Anfang, Mitte 30. Da ist noch Zeit. Das ist ein Marathon, kein Sprint.

In der Stadt kursiert auch das Gerücht, Sociomantic sei mit 250 bis 300 Millionen Euro bewertet. Was ist da dran?

Nicolai: Ich kriege jeden Tag diese Anrufe, es wird erzählt: Ihr redet mit dem, mit dem, mit dem. Das ist einfach totaler Quatsch. Wir sind immer gut damit gefahren, eher den Kopf einzuziehen und die Leute draußen reden zu lassen. Hilft es uns, mehr Kunden zu gewinnen? Nein. Hilft es uns, besseren Service anzubieten? Nein. Ob Sociomantic jetzt X, Y oder Z wert ist – wir haben heute schon viel mehr erreicht, als wir uns je erträumt haben. Und das war harte Arbeit. Wir haben mit Gesundheit, mit Freunden und Familie bezahlt. Ja, wir waren zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Technologie im entsprechenden Markt. Aber wir haben auch liefern können und Gas gegeben. Wir hatten 16-, 18-Stunden-Tage. Und man sollte nicht vergessen, wo man herkommt. Wir drei kommen alle aus dem Osten. Wir wissen, wie es vorher ausgesehen hat. Wir können den Erfolg wertschätzen und einordnen. Wichtiger ist, dass sich die Leute hier wohlfühlen und glauben, dass sie einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen. Wenn es nur ums Finanzielle ginge, hätten wir die Firma schon vor drei Jahren verkaufen können. Dann wären wir auch happy gewesen und hätten viel weniger Stress gehabt.

Brandhoff: Mehr muss man dazu nicht sagen.

Bild: Gründerszene